Anemon 3 SMD ist Transportmittel und Wohnung in einem und besteht aus einer klauenförmigen Metallkapsel auf drei Rädern. Mit Computerausrüstung und mobilem Telefon hält sich der Stadtnomade mit der Umwelt in Verbindung während den Reisen von Stadt zu Stadt. Anemon ist sein einziger Wohnplatz und der elektronische Briefkasten seine einzige Anschrift. Der Stadtnomade ist mobil im wahrsten Sinne des Wortes.
Anemon repräsentiert einen alternativen Lebensstil, ein Leben wie das der Nomaden, doch für den modernen Menschen unserer Zeit angepaßt. Die Stadtnomaden leben außerhalb der gesellschaftlichen Kontrolle. Im toleranten Chaos der Stadt finden sie die Freiheit in verlassenen Gebäuden und auf ehemaligen Industriegeländen - Treffpunkte mit vielen Möglichkeiten. Hier kann sich Anemon richtig entfalten. Das schützende Zelt ist zum schlafen und arbeiten und unter einem transparenten Baldachin hat der Stadtnomade ein Wohnzimmer, seine private Zone, wo immer er auch lebt.
Die beiden Architekturstudenten, Jens Langert und Pia Cally Ahlgren haben das Design für Anemon während ihrem Austauschjahr an der HDK in Göteborg entwickelt - von Idee bis zum fertigen Prototyp in voller Größe. Ich besuchte sie in ihrem Anemon.
Wie sind sie auf die Idee gekommen und was wollen sie mit Anemon erreichen?
Anemon als Idee, ist ein Produkt der Großstadtgesellschaft und der Lebensbedingungen unter denen wir Westeuropäer leben. In unserer Gesellschaft finden wir eine zunehmende Konzentration der Innenstadt, große Wohnsiedlungen und verlassene Industriegeländer. Mit dieser Problematik hat sich das Vardeprojekt ausseinandergesetzt. Uns Innenarchitekten wurde die Aufgabe gegeben, für diese Plätze Alternativen zu finden.
Wir waren von diesen abenteuerlichen Geländen fasziniert und die Lebensanschauung der Nomaden hat uns auch inspiriert. Wir wollten den Stadteinwohnern zeigen, daß man auch anders leben und denken kann. Wir wollen, daß die Menschen mal richtig über ihr Leben heute nachdenken. In unserer Gesellschaft ist der materielle Konsum ein Maßstab für Geborgenheit und Status. Die Nomaden dagegen suchen die Geborgenheit in ihrem Inneren. Die moderne Kommunikationstechnologie und die mobilen Computer ermöglichen ein Leben mit großer persönlicher Freiheit und Beweglichkeit, ohne daß der Kontakt zur Umwelt verloren geht.
Wer will so leben wie ein Stadtnomade?
Menschen, die sich vom materiellen Konsum befreien wollen. Menschen, die für ihren Lebensunterhalt weniger ausgeben möchten und in ihrem Leben Beweglichkeit wünschen. Es könnte jedermann sein. Die Menschen entwickeln ein zunehmendes globales Bewustsein. Wir (die Menschen im westlichen Teil von Europa) lesen dieselben Zeitungen, sehen die ähnlichen Fernsehprogramme, wir reisen rund um die Erde und können uns auch mit weit entfernten Zielen einfach in Verbindung setzen. Die Frage der Nationalitat verliert mehr und mehr an Bedeutung. Viel wichtiger ist heute die Zugehörigkeit einer Gruppe. Der gemeinsame Lebensstil verbindet die verschiedenen Gruppen von Stadtnomaden.
Wie sieht der Alltag der Stadtnomaden aus und wovon leben sie?
Vielleicht ernähren sie sich durch Saisonsarbeit und wollen die Freiheit haben, mitten im Monat aufbrechen zu können oder sie haben eine ganz normale Arbeit wie jeder, der beruflich auf seinem Computer Informationen empfangen und schicken kann. Sie können auch geographisch unabhängig sein. Vielleicht arbeiten sie im Bereich der modernen Technologie mit Mobiltelefon und Computer. Sie können auch durch ihren Databasis Arbeit finden und Informationen über Plätze mit guten Lebensbedingungen. Sie können Berichte und Erfahrungen von ehemaligen Bewohnern bekommen.
Zum Beispiel: Schöner Platz, zentral gelegen, etwas kühl und zugig, relativ sicher, selten frei.
Der Standard zwischen den verschiedenen Plätzen ist sehr unterschiedlich und u.a. davon abhängig, ob sanitäre Anlagen vorhanden sind. Wenn nicht, benutzt man die Waschsalons und Schwimmbader für die Wäsche und die persönliche Hygiene. Das Wasser für den Haushaltsbedarf wird in einem Wasserkanister aufbewahrt. Das Essen wird auf einem Spirituskocher zubereitet. Die durch Sonnenzellenpaneele wiederaufladbare Anemonbatterie sorgt für den Kühlschrank. Schlafen tut der Stadtnomade auf einer Luftmatratze oder in einem Liegestuhl in dem Zelt, das durch die eigene Körperwärme warmgehalten wird. Ein Wohnzimmer und einen Garten hat der Stadtnomade unter einem Baldachin aus transparentem Material. Die provisorische Einrichtung ist aus dem, was in der Umgebung zu finden ist, zusammengebaut. In einer Kapsel aus Metall sind Wertsachen sowie der moderne Computer und die kommunikationstechnische Ausrüstung sicher aufbewahrt. Die Baldachine von Anamon können miteinander verbunden werden und das wettergeschützte Zelt kann für viele Zwecke verwendet werden. Familienleben oder Wohngemeinschaft - die Stadtnomaden haben viele Möglichkeiten, wie sie ihr Leben gestalten wollen.
Wird die Gesellschaft den Stadtnomaden akzeptieren?
Als erstes wollen wir feststellen, daß die Stadtnomaden keineswegs auf Kosten von Anderen leben. Sie ernähren sich von ihrer Arbeit und sie bezahlen ihre Versicherungen und Steuern. Die Stadtnomaden sind natürlich von der Gesellschaft abhängig, aber die Gesellschaft braucht auch bewegliche Menschen mit extremer Flexibilität. Historisch gesehen ist es öfters zum Streit zwischen den Nomaden und der seßhaften Bevölkerung gekommen und die letztere ist tatsächlich bedroht. Die meisten Gesellschaften sind der Ansicht, daß jeder von uns ein Teil des Systems ist. Zugespitzt kann man sagen, daß es Menschen gibt, die das morden mit dem Argument rechtfertigen, sie hätten nur einen Befehl ausgeführt. Wenn es soweit gekommen ist, hat der Mensch seine persöhnliche Verantwortung verloren. Menschen, die sich weigern, Befehle auszuführen, können von der Gesellschaft als drohend empfunden werden. Warum wurden ausgerechnet die Juden und Zigeuner, zwei Völker ohne eigentliche Heimat, von den Nazis so verfolgt? Ein Nomade hört auf seine innere Stimme. Ein Leben voller Schlendrian ist ihm fremd. Der Nomade macht seine eigenen Beobachtungen und verläßt sich auf seinen Instinkt.
Ist der Lebensstil der Stadtnomaden nur für gesunde, starke und mutige Menschen geeignet?
Heutzutage gibt es viele kräftige und gesunde Menschen, die ihr Leben wie im Schlaf leben. Die Menschen spielen die Rolle, die ihnen von der Gesellschaft vorgeschrieben wird. Wenn du dich für den Lebensstil der Stadtnomaden entscheidest, wird dein Mut und Selbstbewustsein größer sein als vorher. Die Nomaden haben keine Wahl, sie müssen ihren Herzen vertrauen. Da finden sie die Kraft für ein Leben in Freiheit
lnterview: Anna Jaktén
VARDENEWS NR 4; Seite 11
Guten Tag!
Nachstehende Texte zum Thema Wohnungslosigkeit & Armut fand ich im Verlauf meiner Arbeit. Weil sie in der einen oder anderen Hinsicht bedeutsam sind, dokumentiere ich sie hier.
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AberHallo: Haste nicht ein paar rostige Groschen für mich? Berber erzählen. Nordenham 2007
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Anemon 3 SMD - die Wohnung der Stadtnomaden
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Ariès, Philippe: Das Kind und die Straße - von der Stadt zur Anti-Stadt. Berlin 1994
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Batarilo, Dunja: Die Arche darf nicht mehr Landowsky heißen. taz 04.03.2008
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Baumann, Winfried: Instant Housing für Obdachlose und urbane Nomaden. Berlin 2007
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»Bidler an der Dur« Armut in der Geschichte - Bettler an der Tür. Michelstadt 1996
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Broder, Henryk M.: Hilfe von Obdachlosen. Große Spendenaktion im Süden der Republik. Berlin 1996
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Brus, Roland: Projektbeschreibung: Über das Arbeiten mit "Ratten". Berlin 1995
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Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.:
Merkblatt zu den rechtlichen Anspruchsgrundlagen nach den §§ 67ff. SGB XII bei nichtdeutschen Personen. Bielefeld Mai 2008 (pdf)
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Bunz, Mercedes: Urbane Penner (Meine Armut kotzt mich an). Berlin 2007
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Czaplewski, Heinz: Soziale Erlebnisse eines Obdachlosen. Rede zur Kundgebung "Die Würde des Menschen ist angetastet"! Berlin 1998
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Der selbstkritische Psychotest! Sind Sie sozial veranlagt?. Solingen 1996
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Eck, Georg: Großstadtvagabondage. Berlin 1925
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Engels, Friedrich: Zur Wohnungsfrage. Leipzig 1872/1873
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Fassbinder, Rainer-Werner: Gab es Zeiten. Gedicht.
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Flusser, Villém: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit (Heimat und Geheimnis - Wohnung und Gewohnheit). Düsseldorf, Bensheim 1992
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Franck, Michel: Schön ist es auch anderswo. Über Vagabunden und sonstige Touristen. Paris 2000
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Geißler, Cora: Wie ich lernte, ein Ufo zu lieben. Hamburg: einestages 2008
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Gillich, Stefan Zur Selbsthilfe Wohnungsloser - Zwischen Ignoranz und Verkennung. Bonn 2002
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Grulich, Paul: Dämon Berlin. Berlin 1907
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Haarmann, Anke: Public Blue: eine Besetzung des öffentlichen Raums. Wohnungslose in Japan. Hamburg 2003
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Hannes: Platte Mainz / Bingen o.J.
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Helwerth, Ulrike: Vagabundin des Denkens (Hannah Arendt). Berlin 1995
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Holm, Andrej: Hartz IV und die Konturen einer neoliberalen Wohnungspolitik. Berlin 2005
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Holzach, Michael: "Betteln ist schwerer als arbeiten". Hamburg 1975
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ISIS Berlin e.V./ Klik e.V.: Junge Menschen auf der Straße in den Berliner Innenstadtbezirken. Zusammenfassung einer Studie. Berlin 2007
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Kiebel, Hannes: "Na, du alter Berber". Beschreibung der Spurensuche zum Begriff "Berber". Berlin 1995
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Kiebel, Hannes: Obdachlose in den 20er Jahren in Berlin. Berlin/ Hannover 1995
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Kiebel, Hannes: Obdachlose Menschen in Deutschland. Berlin 1994
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Kiebel, Hannes: Untergang. Berliner Obdachlosen GmbH. Anregungen zu einem Film für die Gemeindearbeit. d+d 1994
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Kracauer, Siegfried: Städtische Wärmehalle. Frankfurt 1931
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Krauskopf, Simone: Ohne Wohnung - ohne Recht? Freiburg 1994
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Lenuweit, Klaus: Schon als Kind obdachlos. Ein Portrait. ohne Ort um 1997
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Mayer, Margit/ Veith, Dominik/ Sambale, Jens: Das neue Gesicht metropolitaner Obdachlosigkeit. Stadtentwicklung und Obdachlosigkeit in Berlin zwischen globalen Zwängen und lokalen Handlungsoptionen. Berlin 1995
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Mitarbeiterteam der Ambulanten Hilfe e.V.: High-tech braucht High-soz! (Wohnungslosenhilfe) 25 Jahre Ambulante Hilfe e.V. im Rückblick 1978-2003. Stuttgart 1988 sowie in: Gefährdetenhilfe 1/89, Bielefeld 1989, S. 39 - 40.
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Neubart, Justus: Struktur der Hilfen für wohnungslose Menschen in Berlin. Gegebenheiten & Visionen. Diplomarbeit am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Berlin. Berlin 1997
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Preisendörfer, Bruno: Leute, auf die es nicht ankommt. Berlin 2007 (Le Monde Diplomatique)
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Rakowitz, Michael: ParaSite. Unterschlupfsystem für Obdachlose. Brooklyn 2005
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Seidel, Markus Heinrich: "Aber mich fragt ja doch keiner, Alter...". Straßenkinder in Deutschland: Die professionelle Jugendhilfe hat kläglich versagt und muß jetzt ihre selbsternannte Kompetenz in Frage stellen.
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Thormann, Henry: Ein Jahr geht zu Ende. Heidelberg 1999
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Tietze, Barbara: Industriekultur am Wendepunkt. Lebensformen und Nomadismus. Eine kulturtheoretische Bemerkung, die auch eine arbeitswissenschaftliche Relevanz hat. Berlin 1995
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Tietze, Barbara: Neue Nomaden - nomadische Arbeitskulturen? Zukunftsprognosen für die kulturelle Entwicklung der Industrie, der Arbeit und des Design. Berlin 1991
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Toth, Jennifer: Der Untergrund in Geschichte, Literatur und Kultur. Berlin 1994
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Trappmann, Klaus: Vom Preis der Freiheit. In: Städtische Kunsthalle Recklinghausen (Hrsg.): Fahrendes Volk. Spielleute, Schausteller, Artisten. Katalog zur Ausstellung. Recklinghausen 1981, ohne Seitenangabe.
Eine Exkursion in die Welt der Straßenbewohner: Berber erzählen
Etwas verspätet treffen zwei bärtige Gestalten am Hausmeisterkiosk der Realschule I ein. Eingepackt in Fliespullover und Jacke stehen sie eine Zigarette rauchend unter dem überdachten Areal zwischen A- und C-Trakt und warten. Verabredet sind sie mit den Schulzeitungs-Redakteuren von ABER HALLO, die sich auf ein spannendes Interview mit den beiden Berbern vorbereitet haben.
Doch was die Jungjournalisten in dem zweieinhalbstündigen Gespräch erwartete, hatten sie sich zuvor nicht vorstellen können. Aus dem Interview wurde ein philosophischer Diskurs über die Fragen des Lebens, der Freiheit und des Zuhauses. Und außerdem gaben die beiden Obdachlosen eine Vielzahl an Geschichten aus ihrem Leben preis.
Wir lassen uns in keiner Weise die Butter vom Brot nehmen. Wer uns an den Karren pissen will, muss erst einmal da hinkriechen, wo wir hingeschissen haben. - Entschuldigung." | |
Ich sag es einfach von vornherein: Es gibt diverse Fragen, die wir nicht beantworten. Da sagen wir gleich Nein." Hamster, der Fast-zwei-Meter-Mann, hat es sich am Tisch in der Cafeteria der Realschule I Nordenham gemütlich gemacht. Mit ernster Mine schaut er in die Runde und steckt die Richtlinien für das gemeinsame Gespräch ab.
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Hamster |
„Wir haben auch Fragen an euch," erklärt der etwas kleinere Mann, der deutlich weniger Bart trägt – dafür aber umso mehr spricht. Auch er denkt nicht daran, seine Mütze in der geheizten Cafeteria abzusetzen oder seine schwere Lederjacke auszuziehen. Stattdessen moniert er lieber den abgetippten Fragezettel der Interviewer Stefan Onken, Tanja Strahlmann, Stephanie Tönjes und des Ehemaligen Torsten Lange. „Warum macht ihr nicht eure eigenen Fragen," meint er und es dauert eine Weile, bis er endgültig davon überzeugt ist, dass der Fragebogen nur als Gedächtnisstütze und Gesprächsfaden dient.
Das „Beckerbuch" ist immer im Gerödel
Und dann kriegen die Jung-Redakteure erst mal die Unterschriften der beiden – künstlerisch gestaltete Zeichen, Namenszüge und Symbole sowohl vom Hamburger Harry, dem gesprächigen Hanseaten, und Hamster, einem Angehörigen der Zigeuner. Und während Hamster noch seine Unterschrift malt, ist Harry längst schon in die Erklärung eines Lebens auf der Straße eingestiegen und erzählt, was ein „Beckerbuch" ist.
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Der Hamburger Harry |
In dem „Beckerbuch, das Hamster immer mit in seinem Gerödel, dem Reisegepäck, trägt, so erfahren die Interviewer, sammeln die Durchreisenden Stempel der lokalen Geschäfte. „Da gehen wir hier in Nordenham durch die Geschäfte und die drücken da ihren Stempel rein," erklärt Harry etwas umständlich und weitläufig – eine Spezialität des Hamburgers, wie sich noch herausstellen wird. Und als guter Berber fragt man natürlich: „Hast du auch ein paar rostige Groschen für mich übrig?" ergänzt er seine Ausführungen.
Schnell erläutert er dann die Funktion des „Beckerbuches„. Seinen "Kumpels", die er unterwegs trifft, kann er mittels der Stempel beweisen, dass er hier und dort gewesen ist. „Das ist praktisch genommen für uns genau das Gleiche wie euer Schülerausweis - so’n Wegeausweis, Logbuch oder Fahrtenbuch ..."
Der Einstieg war geschafft und die beiden begannen zu erzählen von ihren Reiseanfängen und ihrem bisherigen Lebensweg. Im Herbst 1999 trafen sich Harry und Hamster auf ihrer Reise durch das Land, kennen sich allerdings schon länger. Weitere Reisebegleiter trafen zum Jahresende `99 ein.
„Job los, Wohnung los, Freundin los"
Wie sind die beiden überhaupt auf die Straße gekommen? – Zu Fuß, weiß Harry scherzhaft zu antworten. Dann – nach einer langen Gedankenpause – antwortet er ernsthaft: „Job los, Wohnung los, Freundin los. Und ich geh los. Einfachste Antwort." Weder aus Frust, vielmehr als reine Alternative. „Ich hab mir gesagt: Entweder ich komm durch, oder der Schweinehund kommt durch. Und der Schweinehund ist derjenige, der mich zu Grunde richtet. Und der Schweinehund ist nicht durchgekommen. ICH bin durchgekommen. Und das schon seit fast zwanzig Jahren."
Und was lag vor dem Leben auf der Straße? Erst einmal war auch Harry auf einer Schule – „damals hieß das bei mir Volksschule". Nach der neunten Klasse machte er den Abschluss mit „Zwei-Komma-irgendwas", und dann kam die Leere sowie ein dunkles Kapitel seines Lebens, dessen Inhalt er nicht veröffentlichen will.
Früher hatte er immer Geld gehabt. Und heute? „Reicht die Stütze?" 17 Mark am Tag bekommen die Berber von der Stadt Nordenham. Für sechs bis sieben Mark könnten sich die beiden nach eigenen Angaben schon 13 Halbeliter Bier kaufen und haben immer noch etwas in der Tasche. Und warum Bier? „Wollt ihr das Geld nicht lieber anlegen?" – „Ich könnte mir eine Aktie von VW kaufen," scherzt Harry schon wieder, sieht den größten Wert aber woanders.
Was hab ich hier?" fragt er eine Redakteurin und deutet auf seine Hand. „Einen Ring". „Richtig," lobt Harry und fragt weiter „und hier?" Wieder kommt ein Ring zum Vorschein und in einer dritten Frage weist er auf sein Handgelenk, wo golden schimmernd eine Armbanduhr zum Vorschein kommt. „Und was hab’ ich jetzt?" stellt er die resümierende Frage. Doch mit der Antwort „Zwei Ringe und eine Uhr" liegt die Interviewerin diesmal ganz falsch.
„Freiheit, eine Sache, die uns heilig ist
„Meine Freiheit", lautet die richtige Antwort und alle starren den souverän dreinblickenden Mann an. "Meine Freiheit," wiederholt Harry, „kann ich die kaufen? Kann ich meine Freiheit kaufen? Da draußen bin ich mein eigener Herr. Kein Mensch kann mir erzählen, was ich machen soll. KEINER. Sie können mir irgendwelche Vorschriften machen, aber ob ich die einhalte, ist eine andere Frage."
Die Leute direkt ansprechen, das ist "Schmale-machen | |
Und er fährt fort: „Wir haben so oft mit der Polizei Probleme, hier nicht, aber anderswo, denn wir reisen in den Osten bis zur Tschechischen Grenze, rüber bis nach Frankreich und runter nach Italien und in die Schweiz. Aber kein Mensch kann mir sagen, was ich machen soll. Das ist eine Sache, die uns heilig ist," verkündigt er in die Stille des Raumes hinein. „Wir lassen uns in keiner Weise die Butter vom Brot nehmen. Wer uns an den Karren pissen will, muss erst einmal da hinkriechen, wo wir hingeschissen haben. - Entschuldigung."
Und es komme ihm gar nicht in den Sinn, sein Leben für eins mit eigenem Garten und Swimmingpool einzutauschen. Er kenne Millionäre mit Garten und Pool, die würden die Berber ansprechen und er würde ihre Gärten reinigen und entlohnt werden. Und fertig.
„Schmale-machen": Leute ansprechen
Aber kann das alles sein? Fast täglich streifen sie an exklusiven Geschäften vorbei, blicken auf teure Ware und hochwertige Kleidung. Und dann kommt der Wunsch: Oh, das möchte ich haben. Was dann? „Kein Problem, wird gekauft," stellt Harry unbeirrt fest.
„Das ist nicht das Problem. Pass mal auf," sagt er, schenkt sich frischen Kaffee ein und zählt dann auf: „Ich hab mal eine Cartier-Uhr gehabt, ein Dupont Feuerzeug, mein teuerster Ohring hat 800 Mark gekostet. Aber bei all diesen Sachen sage ich: Die kann man ersetzen. Was man nicht ersetzen kann, ist Freiheit und Leben."
Und ein eigenes Haus? „Wenn du ein eigenes Haus hast, ist das eine Versklavung gegen dich selbst. Boris Becker und all die anderen könnten sich das erlauben, du aber nicht. Du hast die Schulden."
Woher das Geld für Kleider, Uhren etc? „Das Geld liegt heutzutage auf der Straße. Man muss nur wissen, sich zu bücken, um es aufzuheben," spricht Harry symbolisch. Wir zum Beispiel haben zwei Begriffe: "Schmale-machen" und „Sitzung-machen„.
„Schmale-machen" heißt, ich spreche die einzelnen Leute an. „Komm, komm, komm her und lauf nicht weg. Siehst du nicht, wir leben auf der Straße. Hast du nicht ein paar rostige Groschen für mich? Das ist so’n Spruch. Die Leute direkt ansprechen, das ist "Schmale-machen".
Zur Weihnachtszeit verfallen die Leute in einen Barmherzigkeitswahn. „Solche Situationen nutzen wir aus. Ganz rigoros." | |
„Sitzung-machen" ist: Wir setzen uns hin, ich lege die Mütze vor mich hin oder eine Schale, pack’ ein paar rostige Groschen rein und setze mich einfach da hin. Es gibt Leute, die machen das mit einem Schild
‚Ich bin obdachlos’ oder ‚Zwei reisende Brüder’.
Dann muss man wissen, wo man sich hinsetzt. Und nach 20 Jahren weiß ich, wo ich mich in den einzelnen Städten hinzusetzen habe. Da weiß ich, wo ich mein Geld bekomme und da kennen mich die Leute auch. Und damit kommen wir zu Rande.
Wir kriegen ja auch den Tagessatz. Hier kriegen wir seit acht, neun Jahren 17 Mark. Jede andere Stadt erhöht, nur hier gibt es immer die 17 Mark. In anderen Städten bekommen wir 18 Mark ..."
... wollen die Leute nicht ausnutzen
Was kommt beim „Schmale-machen" und „Sitzung-machen" am Tag zusammen? Das, so erklärt Harry, hängt davon ab, wo man ist. In Nordenham wirkt das „Schmale-machen" besser als das „Sitzung- machen". Und es ist auch jahreszeitlich bedingt. Zur Weihnachtszeit verfallen die Leute in einen Barmherzigkeitswahn.
„Solche Situationen nutzen wir aus. Ganz rigoros."
„Andersrum gesehen wollen wir die Leute nicht ausnutzen. Aber die Leute fühlen sich wohl, wenn sie etwas geben und wir fühlen uns wohl, wenn wir etwas bekommen, ist schnell ein gemeinsamer Nenner gefunden." Hamster: „Das höchste was wir am Tag hatten, sind 570 Mücken". Zu dritt. Allerdings nicht jeden Tag. "Standard am Tag pro Mann ist 50 bis 100 Mark," erklärt Harry. „Über Geld reden wir aber eigentlich nicht," meint Hamster. „Entweder wir haben’s, oder wir haben’s nicht."
Die Leute, die du hier Tag für Tag, Jahr für Jahr, verdreckt bis zum Gehtnichtmehr siehst, das sind für uns Penner. Stadtratten. Da haben wir absolut kein’ Bock drauf. | |
Aber die meisten von Euch haben auch... fließt eine kritische Frage ein. „Wieviel tausend möchtet ihr haben?" fragt Harry mit ernster Mine zurück. Und als die Zahl 5.000 flachsig in den Raum geworfen wird, entgegnet er: „Kein Problem. Ich sag einem Kumpel Bescheid, der hat 100.000 in der Tasche und der gibt dir davon fünf. Aber du musst es wieder zurückzahlen!"
Wenn die beiden soviel Geld in den Taschen hätten, müssten sie doch auch mit Bus und Bahn fahren und nicht per pedes oder mit dem Rad unterwegs sein.
„Machen wir doch auch," sagt da Harry. Und die Fahrradfahrer? „Das sind die Pennenrutscher." Die Anlaufstelle in Atens, die Schlafmöglichkeit für Obdachlose nennen wir Penne. Und da übernachten andere. Die Sommerberber. „Wir reisen das ganze Jahr über, bei Regen, Eis und Schnee."
Und die Tagesstuben? Nutzt ihr das auch nicht? „Nordenham ist eine berberfreundliche Stadt, erfahren die Jugendlichen, „wir werden hier von den Jugendlichen gegrüßt und man tut uns hier nichts. Nur das einzige, was hier scheiße ist, ist die Diakonie. Kein Bock drauf auf die Leute. Deshalb gehe ich da nicht mehr hin."
„... den könnten wir auf diese Schule schicken"
Stattdessen bereiten die beiden lieber jeden Abend ihre Mahlzeiten selbst zu. Auf einem Lagerfeuer oder über einem kleinen Gaskocher brutzeln sie ihre Lieblingsspeisen. Prompt gibt es für die Jung-Journalisten auch eine Einladung, gleich am Abend zum Essen zu kommen – doch die meisten lehnen dankend ab. „Gibt Gyros," informiert Hamster.
Und dann fängt der Hund an der Heizung an zu piepsen. „Lass ihn liegen," lautet ein kurzer Kommentar von Harry, „der liegt an der Heizung und schläft. Manchmal miaut er auch... der kann nämlich auch Fremdsprachen, den könnten wir auch hier in die Schule schicken," holt Harry seinen nächsten Joke aus der Tasche und führt damit direkt über zur nächsten Frage, ob denn die Herren auch Fremdsprachen können würden. „Yes, a little bit," meint daraufhin Hamster, der bis dahin seinen Notizen nachgegangen ist. Und Harry hebt mit geschwellter Brust hervor: „Ich kann Fremdsprachen".
Ich könnte mich auch mit dir unterhalten, und du würdest gar nichts verstehen," meint Hamster und in der Tat, seinen nächsten Satz verstand keiner in der Runde. „Zigeunersprache," löst er grinsend das Sprachrätsel auf. Und kritisch werden die Sprachkenntnisse der beiden weiter überprüft.
„Der ganze Nachmittag geht darauf hinaus, Leute anzusprechen und ein bisschen Geld zu sammeln. Und zu einem gewissen Zeitpunkt, so gegen 18 Uhr, gehen wir auf „Platte" und schmeißen den Kocher an." | |
Denn schließlich müssen sich die beiden auf ihrer Tour durch Italien beim Schmalemachen auch verständlich machen.
„Auf jeder Art und Weise," verkündet Harry, „wie hättest du es den gern? Thank you very much!" Und nach der Aufforderung zum Italienischen überzugehen kommt dann ein trocken dahingehauchtes „Amore".
Irgendwie kommt die Frage nach den Familienangehörigen. Wollen die nicht wissen, wo ihr bleibt, oder habt ihr mit denen gar keinen Kontakt mehr?" „Kontakt – doch immer" betont Hamster. „Wenn die nicht wissen wo ich bin, dann... Die haben mich sogar schon einmal gesucht und auch gefunden, als ich mich ein halbes Jahr nicht gemeldet habe. Wir sind nicht aus der Welt. Wir sind ja existent. Wir sind da und uns kann man nicht wegdenken. Geht nicht, auch wenn es Leute gibt, die uns nicht sehen möchten," ergänzt Harry.
Und während Hamster aus dem "Osten" kommt, wie Harry sagt aber gleich auflöst, dass er damit "Ostfriesland" meint, ist Harry ein waschechter Hamburger. Dann ist Harry wohl das schwarze Schaf der Familie? Ja, ist er, aber trotzdem ist er bei seiner Mutter in Hamburg immer willkommen. In Hamburg darf er keine „Platte" machen, denn dann würde er Ärger mit seiner Mutter bekommen, und das wolle er nicht.
„Wenn ich in Hamburg ankomm’, geh ich zu meiner Mutter und hab’ da mein Zimmer mit Fernseher, ein Tisch, ein Stuhl. Und dann kann ich mich dahinlegen. Kein Bett. Nach 20 Jahren ist mir ein Bett zu weich. Ich muss meine Iso-Matte haben und meine Unterlage."
Schnell wieder „runde Füße"
Meist bleibt er dann eine Woche und bekommt anschließend wieder „runde Füße", „die rollen dann von alleine wieder los," meint Harry, den es schon bald wieder hinaus in die Welt zieht. Anrufen bei Muttern ist gang und gebe. „In Hamburg sage ich Bescheid: ‚Ich lebe noch’, und dann hat sich das erledigt."
Und dann stellt Hamster eine Frage in die Runde, die ihn beschäftigt: "Warum gibt es unter den Jugendlichen einige, die uns Penner nennen?" Die Antwort, dass sei ein Allgemeinausdruck, der einfach so verwendet wird, lassen die beiden nicht gelten. Nach einigen weiteren Überlegungen erklären Harry und Hamster die Entstehung der Begriffe und ihre Unterschiede.
Du musst dir den Zweiten Weltkrieg vorstellen," beginnt Harry, „alles war zerstört. Die Leute wohnten in irgendwelchen notdürftigen Unterschlüpfen und haben da ‚gepennt’. Daher stammt das Wort "Penner". Aber wir sind "Rumreisende". Die Berber, das ist ein reisendes Volk aus Afrika, aus der Ecke von Tansania. Die Berber sind ein nomadischer Stamm. Und in unseren Kreisen gibt es auch die wandernde Leute."
Und dann erklärt er die feinen Unterschiede der Bewohner der Straße: „Die Leute, die du hier Tag für Tag, Jahr für Jahr, verdreckt bis zum Gehtnichtmehr siehst, das sind für uns Penner. Stadtratten. Da haben wir absolut kein’ Bock drauf. Weil: Es gibt die Möglichkeit, erstens sich zu duschen
(„entweder in der Diakonie – oder du hast einen freundlichen Hausmeister"); zweitens: sich neue Klamotten zu holen, egal wo. Ob ich zum Sozialamt gehe oder zum Roten Kreuz ..."
In Skandinavien schon minus 17 Grad erlebt
Dann behauptet Hamster, seine Lieblingsmarke sei S-Oliver, und die Unterhosen bevorzugt er von Hugo Boss. Alles, wovon viele Jugendliche träumen würden, würden sie geschenkt bekommen.
Da sitzen in der vollen Kirche ungefähr 10.000 Jahre Gefängnis und fast 100 Millionen Mark. Is’ wahr. Das ist St. Pauli. Jedes Jahr das Gleiche. | |
Und nachts? Selbst sein Schlafanzug trage den Namen Olivie, mit dem er Nachtfröste bis Minusgrade bis 17 Grad erlebt hat. Hamster spürte in Skandinavien sogar schon 45 Grad minus.
Skandinavien? Bekommen die beiden auch Geld im Ausland, wollen die Redakteure wissen und erfahren, dass sich Hamster und Harry im Ausland an die Deutsche Botschaft wenden und die Auslandspolizei konsultieren. Dort erhalten sie dann ihre Tagessätze.
Die deutschen Nachbarländer sind für die beiden kein unbekanntes Terrain. „Holland, Belgien, Frankreich, Dänemark, in Schweden hab’ ich Verwandte," erinnert sich Harry. Normalerweise bleiben sie immer nur kurze Zeit an einem Ort. "Paris, Brüssel, Amsterdam, Lissabon – das alles hab ich abgekraucht."
In der vollen Kirche sitzen 10.000 Jahre Gefängnis
In Nordenham würden sie im Dezember nur so lange vor Ort bleiben, weil die Stadt zwar einen geringen Tagessatz ausgibt, aber mit am meisten Weihnachtsgeld bezahlt.
„Also, sag ich mir doch, bevor ich unten in Schlicktown (Wilhelmshaven) bin und nur 60 Mark kriege, oder ob ich hier bin und 136 Mark bekomme, bleibe ich lieber hier. Wir sind hier nur zu früh angetanzt."
Das Weihnachtsgeld ist für die beiden besonders wichtig, weil sie mit dem Satz über Weihnachten und Neujahr auskommen wollen. „Wir müssen also bunkern," erklärt Harry die Taktik. Und wie feiern die beiden Weihnachten? „Geht ihr in die Kirche?" lautet eine Frage und Harry weiß ganz schnell zu antworten: „Vor die Kirche setzten wir uns. Wir gehen aber auch rein und reden mit dem Pastor."
Harry gräbt in seinen Erinnerungen und spricht dann von der Mitternachtsmesse am Heiligen Abend: "Ich Hamburger hab mal die Mitternachtsmesse auf Sankt-Pauli mitgemacht. Große Freiheit 21 hat eine Kirche, die zu St. Pauli gehört. Und die hat traditionell eine Mitternachtsmesse, da träumt der Führer von, wie man so schön sagt."
Da sitzen in der vollen Kirche ungefähr 10.000 Jahre Gefängnis und fast 100 Millionen Mark. Is’ war. Das ist St. Pauli. Jedes Jahr das Gleiche. der da drinne erzählt. Die Kirche ist voll.
Vor acht Jahren war ich mal mit einem Kumpel da drinnen. Danach haben wir in einer Nacht 1.800 Mark ausgegeben – in einer Nacht! Nicht in irgendeinem Puff. Wir sind nur in den Kneipen gewesen und haben unsere Bierchen getrunken. Von 12 Uhr an bis morgens um 7. 1800 Mark. Hat uns nicht wehgetan."
Hamster erklärt: „Ich habe einen Glauben, wo ich sage, zu bestimmten Tagen gehe ich in die Kirche: Weihnachten und Silvester." Und warum: „Ich habe in Wilhelmshaven einen Sohn von 14 Jahren und mit dem verbringe ich jedes Jahr Weihnachten und Silvester." "Deshalb wollen wir auch nach Schlicktown," ergänzt Harry. Hamster führt fort: „Wenn ich es nicht schaffe, zu diesen Zeiten in Wilhelmshaven bei meinem Sohn zu sein, bin ich nicht in der Kirche."
Harry: Wünscht für Sohn besseres Leben
Für den Sohn sei die Wanderschaft des Vaters akzeptabel. „Jeder Mensch hat seinen eigenen Willen. Er ist so erzogen worden, den Willen jedes einzelnen zu akzeptieren. Er akzeptiert ihn (Hamster) so wie er ist und seinen Freundeskreis", berichtet Harry. „Wer dem was tut, wenn wir das hören, sind wir schneller unten in Schlicktown als man denken kann. Und wenn das auch unsere letzten Geldreserven sind, nehmen wir sogar ein Taxi." Allerdings wehren sich sowohl Vater Hamster als auch Freund Harry dagegen, dass der Sohn einmal auch Berber werden soll. Dem Sohn solle seine Zukunft offen stehen. Aber wünschen würde Harry sich, dass sein Sohn nicht Berber wird. „Ich würde ihm ein besseres Leben wünschen, Familie..."
Wie könnte denn das Leben der beiden noch besser werden? "Erstens kann man sagen: das Umfeld." Darunter verstehen die beiden ihre Mitmenschen. „Mehr Toleranz." Und zweitens wünschen sich die beiden weniger Vorurteile. „Warum gibt es in eueren Kreisen so viele, die uns als Penner bezeichnen? Und das ist das, was uns ärgert. Wir sind keine Penner."
Wie die Penner den Berbern schaden, erläutert Harry an einem Beispiel. „Vor vier, fünf Jahren gab es bei Schlachter Lehmann für Obdachlose immer Wurstreste. Und dann kamen Leute aus der Magdalenen-Straße (Obdachlosenheim), weil sie festgestellt haben, dass die Berber etwas bekommen. Und dann gab es drei, vier Leute, die haben sich Wurst geholt und haben all das aussortiert, was sie nicht mochten, und haben ihm das dann an die Scheiben geklebt.
Nur die wenigsten grüßen zurück
Von da an hieß dass dann, dass alle Obdachlose einen kleinen Obulus zu bezahlen haben. Auch kein Problem," berichtet Harry, „bezahlen wir auch. Dann gab es aber noch mal einen solchen Vorfall und seitdem gibt es bei Lehmann keine Wurstreste mehr für Obdachlose. Ich kann da mit einem Hunderter stehen, ich krieg’ keine Wurstreste," überspitzt Harry die Situation.
Und was könnte sich bei Harry persönlich verbessern? „Ich könnte ein neues Zelt gebrauchen. Meins ist kaputt." Aber daran hängt doch kein generell besseres Leben? „Doch, ein wärmeres. Das ist allerdings für uns das kleinste Problem. Das größte Problem ist das Umfeld."
„Ihr Schüler sagt zu uns „Guten Morgen,„ erklärt Hamster und Harry ergänzt: „Wir haben hier noch nie ein unfreundliches Wort gehört." Am Bahnhofskiosk allerdings, wo ein Gemeinschaftskaffeeautomat steht, erwidern nur die wenigsten die freundlichen Morgengrüße der Berber.
Der Tag im Leben der Berber setzt sich damit fort, dass die beiden ein geeignetes Plätzchen zum „Schmale-machen" oder „Sitzung-machen" suchen. „Der ganze Nachmittag geht darauf hinaus, Leute anzusprechen und ein bisschen Geld zu sammeln. Und zu einem gewissen Zeitpunkt, so gegen 18 Uhr, gehen wir auf
„Platte" und schmeißen den Kocher an."
Dann wird etwas zu essen vorbereitet, die Musik wird angestellt, es kommen Karten auf den Tisch oder die beiden halten alleine oder mit Kumpels ein wenig Smalltalk. Zu dem Zeitpunkt wird auch der abgelaufene Tag besprochen und es kommt zur Sprache, was einigen nicht gefallen hat. „Und irgendwann dann, acht oder neun rum, geht’s schlafen".
Und was könnte sich bei Harry persönlich verbessern? „Ich könnte ein neues Zelt gebrauchen. Meins ist kaputt." Aber daran hängt doch kein generell besseres Leben? „Doch, ein wärmeres." | |
Oder es wird „gebrödelt". „Muss mal herkommen, wenn ich anfange zu brödeln!" meint Harry und lacht. Aber was ist „Brödeln„? "Normalerweise reden wir da nicht drüber, das wird probiert," meint Hamster und fügt an: „Der Hausmeister hat schon probiert, hat zwei Gläser davon getrunken und ist eingeschlafen." Harry führt die Geschichte fort: „Und wir haben immer noch gegessen und weitergetrunken."
Hausmeister schläft beim „Brödeln" ein
Zum „Brödeln" braucht man ein Geheimrezept. Die Mixtur wird in einem großen Topf angesetzt. Hinein geschüttet wird Glühwein, entweder Brandwein, um oder Wodka, Bowle oder Sekt, „man könnte eventuell auch einen Schluck Wein dazutun – Schluck? Das ist immer gleich eine Flasche", fügt Harry ein und am Ende muss eine Dose Bier den Trunk krönen. Und dann kann der feuchtfröhliche Brödelabend beginnen. Gerne wird dazu die "Platte" an der Realschule I genommen. Sie sei "die beste", wie Harry betont.
Und er sei dankbar für die Gastfreundschaft der Schule erläutert er: „Wir halten unsere Platte sauber, was zum Beispiel Penner oder Stadtratten niemals machen würden. Es sind Einzelpersonen, die irgendeine Scheiße bauen. Aber im Endeffekt wird das verallgemeinert." Und die Zukunft? Auf die Frage nach dem Reiseplan hält Harry einen Finger in die Luft:
„Der Wind kommt von da, also gehen wir dahin, in die entgegengesetzte Richtung."
aus: http://www.aberhallo-online.de/hallo17/obdachlose/obdachl.htm
Vor noch nicht allzu langer Zeit fand in Moskau ein Bettler-Wettbewerb statt, organisiert von einer hauptstädtischen Kunstzeitschrift. Die Kunstwissenschaftler wollten damit rausfinden, wie zynisch bzw. romantisch die Moskauer sind. Ob man sie noch zum Weinen bringen kann, zur Rührung, und wem sie bereit sind zu helfen bzw. wem nicht. Auch viele Journalisten, als Penner verkleidet, nahmen am Wettbewerb teil. Mit ausgedachten Geschichten liefen sie durch die Züge der Moskauer Metro, saßen in den unterirdischen Gängen oder einfach auf der Straße.
Gab es Zeiten
Wo ihr froh wart
Brot zu haben?
Trocknes Brot?
Heute findet ihr
In den Abfalltonnen
Der Schulen
Der neuen Häuser
Dick beschmierte Brote
Ist das gerecht?
Gab es Zeiten
Wo ihr reich wart
Mit 'nem Dach?
'Nem undichten Dach?
Findet ihr Menschen in
Baracken
Und in Ruinen
Dann schämt ihr euch ihrer
Ist das gerecht?
Gab es Zeiten
Wo ihr krank wart?
Abgezehrt?
Und oft sehr hungrig?
Noch findet ihr Bettler
Hungrig und
Auch oft abgezehrt
Dann gebt ihr nicht Nahrung?
Sicher kein Dach?
Warum beschimpft
Bespuckt ihr sie ?