Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 8. Zusammenfassung und Folgerungen
8. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
8.1. ZUSAMMENFASSUNG
8.2. SCHLUSSFOLGERUNGEN
8. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
8.1. ZUSAMMENFASSUNG
Das Leben ohne die je eigene Wohnung bringt maßgebliche Veränderungen in der Struktur der individuellen Tätigkeiten mit sich. Damit erfahren auch die auf der Grundlage dieser Tätigkeiten realisierten sozialen und gegenständlichen Beziehungen einschneidende Veränderungen.
Die spezifischen Bedingungen der Situation Wohnungsloser führen zur Entwicklung von Handlungssystemen, die ihrer Lebenslage angemessen sind.
Die Beobachtung der Tätigkeiten und Beziehungen Wohnungsloser zeigt beachtliche Unterschiede ihrer Handlungssysteme im Vergleich zur vorherrschenden, von der Mehrheit der Lohnarbeiter auf der Grundlage einer eigenen Wohnung verwirklichten Lebensform.
Der Vergleich unterstreicht die herausragende Bedeutung des Lebens in der je eigenen Wohnung. Die eigene Wohnung ist quasi in konzentrierter Form grundlegende Bedingung für eine Vielzahl von Handlungen, mit denen gegenständliche und soziale Beziehungen gestaltet werden.
Als Folge des Wohnungsverlustes - wobei der Wohnungsverlust als Prozeß zu verstehen ist - werden die bisher auf Grundlage des Lebens in der je eigenen Wohnung realisierten Handlungen aufgegliedert.
Die Realisierung bestimmter Bedürfnisse erfordert - im Vergleich zu einzelnen Handlungen bei "Wohnenden" sehr viel umfassendere Handlungen bis hin zu Handlungsketten.
Die Bedürfnisbefriedigung, das ergibt sich daraus, erfordert dann auch mehr Zeit, mehr Aufwand, eine Lernfähigkeit in neuen Situationen usw.
Damit ändert sich auch der Charakter der tätigen Beziehungen, ob gegenständlich oder sozial. Diese Aufgliederung der Handlungen betrifft nicht nur den unter den veränderten Bedingungen notwendigen Umfang, die Aufgliederung vollzieht sich auch in einer räumlichen Dimension, die von den Betroffenen ein erhöhtes Maß an Mobilität erfordert.
Hinweise darauf finden sich in den Bereichen Ernährung, Körperpflege, Bekleidung, Wohnmöglichkeit, Geldbeschaffung usw.
In Folge der aufgegliederten Handlungen verkleinert sich auch der Umfang tatsächlich verwirklichter Beziehungen, ob sie nun materiellen oder sozialen Bedürfnissen entsprechen. Der Umfang erfüllbarer Bedürfnisse ist eingeschränkt - dem ersten Eindruck nach aufgrund der Aufgliederung von Handlungen.
Die individuellen Handlungssysteme werden mehr und mehr auf die Bewältigung der Lebenslage Wohnungslosigkeit eingeengt.
Viele Handlungen bei Wohnungslosen werden auf der Grundlage der neuen Bedingungen ihrer spezifischen Lebenslage vollzogen und sind durch eben diese veränderten Bedingungen charakterisiert.
Das läßt sich an den mit der Wärmestube verbundenen Angeboten verdeutlichen:
Wer sich aufwärmen will, muß sich an den Öffnungszeiten orientieren, der wärmende Ort ist nicht immer zugänglich. Wer Hunger hat, muß warten, bis Essen ausgegeben wird und essen, was vorgesetzt wird. Wer sich ausruhen will, ist nicht ungestört. Wer sich waschen und rasieren will, muß das Bad mit anderen teilen und muß um Handtuch, Seife, Rasierer usw. bitten. Wer Kleidung braucht, muß hoffen, daß für ihn etwas passendes da ist usw.
Die Anpassung der individuellen Handlungen an die mit ihrer Lebenslage verbundenen Bedingungen werden auch an anderen Beispielen außerhalb der Wärmestube deutlich:
Wer Sozialhilfe bezieht, ist aufgrund der gewährten Hilfeleistung gezwungen, häufig, in einzelnen Fällen mehrmals wöchentlich das Sozialamt aufzusuchen. Wer seine Arbeitskraft verkaufen will, muß häufig erfolglos die Arbeitamt-Schnellvermittlung aufsuchen. Wer mit anderen Strategien Geld erwerben will, muß dafür komplexe Handlungsketten entwickeln.
Die Veränderung der Tätigkeiten ist also richtiger zu bestimmen als notwendige tätige Reflexion auf die gegebenen Bedingungen, unter denen die Befriedigung konkreter Bedürfnisse vollzogen wird.
Mit dem Verlust der je eigenen Wohnung fällt diese grundlegende Bedingung für viele individuelle Tätigkeiten nicht nur einfach weg:
Wohnungslos gewordene sind nun mit neuen Bedingungen konfrontiert, die die Ausführung der Handlungen offen sichtlich erschweren. Die Bedingungen haben sich objektiv verschlechtert, sie erfordern einen größeren Umfang von Handlungen und verhindern so systematisch die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse.
Selbst die Befriedigung elementarster Bedürfnisse ist erheblich eingeschränkt.
So ist die eine "Stulle" im Warmen Otto gerade der Grund für den Zwang, darüber hinaus andere Ernährungsmöglichkeiten organisieren zu müssen. Und die Wohnverhältnisse in Pensionen veranlassen Wohnungslose, trotz der ständigen Gefahr des Vertrieben Werdens das "Platte schieben" vorzuziehen.
Wohnungslose sind aufgrund solcher Einschränkungen schon im Moment der Befriedigung eines Bedürfnisses sofort wieder mit dem Problem der Realisierung des nächsten konfrontiert. Das individuelle Risiko, die eigene Reproduktion sicherzustellen, ist bei Wohnungslosen ständig akut.
Wohnungslose sind gezwungen, einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf die Sicherung der individuellen Reproduktion in der nächsten Zukunft zu richten. Solche Voraussetzungen behindern massiv die Planung der Reproduktion auf mittel- und langfristige Zeiträume und die Entwicklung eigener Perspektiven.
Das allgemeine, mit der Situation eines Lohnarbeiters verbundene Reproduktionsrisiko ist bei Wohnungslosen in akuter Weise auf Dauer gestellt. Dieses Risiko ist existenzgefährdend.
Um Mißverständnisse auszuräumen: Wenn die Wärmestube mit ihren Angeboten die materiellen und sozialen Bedürfnisse der Besucher nur in Teilen befriedigt und in der Konsequenz die Besucher immer wieder zum Weg gehen veranlaßt, so ist das nicht der Wärmestube selbst anzulasten. Sie schafft im Gegenteil überhaupt erst diese bescheidenen Möglichkeiten und gewährleistet damit eine relative, aber reale Verbesserung der Lebensbedingungen Wohnungsloser.
Der Warme Otto ist vor sechs Jahren entstanden aus der Intention, für die Wohnungslosen in Berlin, besonders in Moabit zunächst einen Ort zu schaffen, in dem sich die Besucher aufwärmen können. Die im Laufe der Jahre in Verbindung mit dieser Einrichtung entstandenen Angebote sind eine Reflexion auf die konkreten Bedürfnisse der Besucher, ohne an ihrer Wohnungslosigkeit grundsätzlich etwas ändern zu können.
Trotzdem ist die mögliche und auch naheliegende Schlußfolgerung, daß die individuellen Handlungssysteme sich beschränken auf eine Bewältigung der Lebenslage Wohnungslosigkeit, nicht haltbar.
Eine Fülle der in der Wärmestube gemachten Beobachtungen verweisen auf Handlungszusammenhänge der Besucher, die mit einer bloßen Lebenslagebewältigung nicht zu erklären sind und im Gegenteil weit darüber hinausgehen.
Ein bedeutender Teil der Tätigkeiten der Besucher ist nicht auf die Realisierung unmittelbarer materieller Bedürfnisse gerichtet, sondern besteht aus Handlungen wie sitzen, dösen, Zeitung lesen, Kreuzworträtsel lösen, sich unterhalten, miteinander spielen etc.
Das sind wichtige Hinweise für die These, daß es keine Schichtung der Bedürfnisse nach ihrer Nähe zu existentiellen Bedürfnissen gibt. Diese Beobachtungen verweisen aber noch auf einen weiteren Umstand:
Trotz der Tatsache, daß die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse der Besucher aufgrund der Bedingungen ihrer Lebenssituation einen weitaus größeren Umfang von Handlungen erfordert, bleibt ihnen für die o.g., nicht auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse gerichteter Tätigkeiten noch ausreichend Zeit bzw. die Besucher nehmen sich diese Zeit.
Mit anderen Worten: Eine These, die besagt, die Besucher sein mit der Bewältigung ihrer Lebenslage so sehr in Anspruch genommen, daß keine Zeit mehr für andere Aktivitäten bleibt, ist nach den vorliegenden Beobachtungen nicht haltbar.
Daraus folgt: Es ist nicht mit mangelnder Zeit zu erklären, wenn Besucher eine aktive Veränderung ihrer Lebenslage nicht in Angriff nehmen.
Ich setze das in Bezug zu anderen Beobachtungen, in de nen Besucher Aussagen machen zu der Möglichkeit, wieder zu einer eigenen Wohnung zu kommen und zu der Möglichkeit, eine Arbeitsstelle zu erhalten:
"Wohnungen - jibt doch keene Wohnungen"
"Börse? - Da brauchste erst gar nich hingehen!".
Entweder die gesellschaftlichen Bedingungen - Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt usw. - sind so, daß sie eine aktive Veränderung der Lebenslage aufgrund der individuellen Voraussetzungen der Besucher gar nicht zulassen. Oder die Besucher wollen diese Bedingungen so wahrnehmen, daß sie sich nichts mehr davon erwarten.
Beide Positionen müssen sich nicht notwendigerweise widersprechen. Vielleicht entspricht der Bedeutungszusammenhang der sich mit "Arbeit" verbindet, konkreten Erfahrungen und nicht etwa der Absicht: "Ich schlag mich auch ohne Arbeit durch!"
Dazu ein Zitat aus der Neuen Zeit von 1912; Bd. 2, S. 452-453, das diesen Umstand besonders gut verdeutlicht:
"Wenn sich so viele auf der Landstraße herumtreiben, die keine Lust zur Arbeit mehr haben, so ist diesen durch die bestehenden Verhältnisse erst diese Unlust beigebracht worden. Stückweise wurde ihnen der Glaube zertrümmert, daß sie jemals noch eine Rolle in der menschlichen Gesellschaft spielen könnten. Die Entbehrungen, die ihnen das Landstraßenleben brachte, haben den Körper sowohl als auch den Geist zermürbt." (zit. nach JOHN 1988, 304).
D.h., Wohnungslose verfolgen bestimmte Motive nicht mehr, weil diese Motive ihnen aufgrund der bestehenden Bedingungen unerreichbar erscheinen oder weil sich die Motive aufgrund ihrer tätigen Auseinandersetzung mit den bestehenden Bedingungen als unerreichbar heraus gestellt haben. Die bestehenden, herrschenden Bedeutungssysteme, - beispielsweise daß es nur auf die Leistung des Einzelnen ankäme -, haben sich in der konkreten Lebenssituation Wohnungsloser praktisch als Stereotypen, als nicht tauglich erwiesen.
Der daraus resultierende Konflikt auf der Bewußtseinsebene der Betroffenen findet in vielfältiger Weise und individuell sehr unterschiedlich seinen Ausdruck.
Bei einem Teil der Besucher finden sich Tendenzen, ihre Situation tatsächlich nur auf ihr individuelles Versagen zurückführen.
"Ich bin so jemand, den man als verkrachte Existenz bezeichnen würde."
Bei anderen Besuchern finden sich Tendenzen, sich "in ihr Schicksal zu fügen":
"Na, was willste machen?"
Vielfach drückt sich dieser Konflikt bei Besuchern in Frustration, Enttäuschung, Resignation usw. aus. Alkohol kann in einer solcher Situation häufig als Mittel zur "Bewältigung" dieses Konflikts gebraucht, bzw. mißbraucht werden.
Die erfahrene, erlebte Inadäquatheit der angeeigneten Bedeutungssysteme macht auch Aussagen einiger Besuchern verständlich: daß es sie beispielsweise nicht mehr interessiere, ob sie beim Schwarzfahren, beim Diebstahl usw. erwischt werden. Auch die Beobachtung, daß einige Besucher gar nicht mehr auf ihr Äußeres, auf Körper pflege, Kleidung usw. achten wird verständlich. Die angeeigneten, tätigkeitsorientierenden Bedeutungen sind diskreditiert:
"Das ist mir alles so scheißegal wie nur irgendwas!"
Das trifft sicher in diesem Umfang nur auf einen Teil der Besucher zu. Bei anderen Besuchern sind die verschiedensten Übergangsformen zu dieser Art des Realitätsbezugs zu beobachten. Jeder Besucher bewältigt seine Situation anders.
Einige Besucher bewältigen ihre Lebenslage, indem sie sich positiv auf die ihnen verbleibenden Möglichkeiten beziehen und diese weitgehend für sich nutzen. Dafür gibt es vor allem am Beispiel des "Inneren Kreises" Hinweise. Diese genutzten Möglichkeiten beschränken sich nicht nur auf die Angebote im Warmen Otto.
Etliche Wohnungslose wissen sich zu helfen, indem sie Handlungsstrategien entwickeln, die sich aus ihrer Lebenslage ergeben. Viele dieser Strategien bringen weitere Schwierigkeiten mit sich, beispielsweise, wenn aus Geldmangel "Schwarzgefahren" wird, wenn aufgrund der Kälte Alkohol zum "Aufwärmen" getrunken wird usw.
Was die sozialen Beziehungen der Besucher betrifft, so sind sie weitgehend isoliert. Wenn Besucher über Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen sprachen, dann meist so, als ob es sich um frühere, abgebrochene Beziehungen handelt oder um Beziehungen, die eventuell "mal wieder" aufzunehmen wären. Die Besucher, darauf deuten die Beobachtungen hin, haben zum einen sehr differenzierte Beziehungen - auch Freundschaften - untereinander, zum anderen ebenfalls sehr differenzierte Beziehungen zu Personen, die in irgendeiner Form mit der Lebenslage der Betroffenen beruflich konfrontiert sind.
Nach meinem Eindruck werden Wohnungslose, wie viele andere soziale Gruppen auch, von einem großen Teil der Bevölkerung nach wie vor diskriminiert, und viele sind oft nur zu schnell bereit, sich auf die Seite der "Helfenden" zu schlagen, ohne sich mit den Menschen auseinanderzusetzen.
Wohnungslose sind nicht an sich isoliert, sondern sie teilen ihre Isolation mit Menschen in spezifischen, einander ähnlichen Lebenslagen.
Die Lebenslage Wohnungsloser ist m.E. immer noch am besten durch den Begriff Armut zu charakterisieren. Diese Armut beinhaltet weit mehr als nur den Ausschluß vom gegenständlichen Reichtum der Gesellschaft.
Wohnungslose sind in der tätigen Bewältigung mit ihrer Lebenslage mit konkreten Bedingungen konfrontiert, die der Verwirklichung ihrer Subjektivität und der Entfaltung ihrer Persönlichkeit systematisch beschränken.
Die einzelnen dargestellten Beobachtungen sind noch weitergehender zu systematisieren und auf innere Zusammenhänge hin zu untersuchen. Das Bild, das sich aus den Beobachtungen ergibt, muß noch klarer gezeichnet
8.2. SCHLUSSFOLGERUNGEN
8.2.1. Schlußfolgerungen für die Arbeit mit der tätigkeitstheoretischen Konzeption
Ein großer Vorteil der tätigkeitstheoretischen Konzeption, der auch in der vorliegenden Arbeit zum Tragen kommt, besteht darin, daß sie nicht unvermittelt "neben" der Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse steht, sondern daß sie auf allen Ebenen inhaltliche Zusammenhänge eröffnet, die im konkreten Fall zu erarbeiten sind. Das kann besonders in konkreten Einzelfragen interessante Perspektiven eröffnen, weil die isolierte Bearbeitung einer Problemstellung aufgebrochen wird.
Es gibt meines Wissens noch keine Arbeiten auf der Grundlage der tätigkeitstheoretischen Konzeption in Bezug auf das Problem Wohnungslosigkeit. Insofern wird hier in gewisser Weise "Neuland betreten". Diese Vorgehensweise erfordert präzises wissenschaftliches Arbeiten.
Von besonderer Bedeutung ist, und das ist nach meinem Verständnis auch die Intention der Autoren der tätigkeitstheoretischen Konzeption, daß es bei ihrer Anwendung nicht in erster Linie um die Anhäufung von theoretischen Erkenntnissen über einen bestimmten Sachverhalt geht, sondern um praktische Konsequenzen, die sich für alle Handelnden daraus ergeben.
Diese, auch der Konzeption immanente Intention muß in folgenden Arbeiten noch deutlicher herausgearbeitet werden.
Ich verspreche mir Konsequenzen:
- in der Auseinandersetzung mit bestehenden theoretischen Modellen zur Verursachung von Wohnungslosigkeit mit der tätigkeitstheoretischen Konzeption. Die Kategorie "Persönlichkeit" kann erneut aufgegriffen werden, ohne daß damit unbegründete Zuschreibungen verbunden sind.
- für ein besseres Verständnis der aktuellen Lebenssituation Wohnungsloser durch die Analyse des Systems individueller Tätigkeiten und ihrer Veränderungen unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Aus einem solchen besseren Verständnis heraus können angemessenere Hilfen für Wohnungslose erarbeitet werden.
- was die Erforschung des individuellen lebensgeschichtlichen Prozesses betrifft, der in die Situation der Wohnungslosigkeit führte. Dieses Wissen ist die Voraussetzung für die Umkehrung des Prozesses und die Erarbeitung der damit verbundenen notwendigen Schritte.
DANKWERTS schlägt in seinem Aufsatz "Qualifikationselemente sozialer Arbeit mit Obdachlosen" (1982, 159) vor, mit den Betroffenen gemeinsam die Biographie auf arbeiten.
Grundlage einer solchen biographischen Rekonstruktion könnte die tätigkeitstheoretische Konzeption sein. Eine biographische Aufarbeitung verfolgt das Ziel, konkrete Lebensverhältnisse als historisch entstandene Ergebnisse tätiger Vermittlungen zwischen dem betreffenden Individuum und seinen gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu erfassen.
In Anlehnung an DANKWERTS (1982, 160ff) nenne ich vier mögliche Wirkungen einer solchen biographischen Rekonstruktion:
1. Ihre Erarbeitung schafft eine gemeinsame Arbeitsbasis. Die so erfahrene Kooperationsmöglichkeit ist für den Betroffenen ein erster Schritt, die bestehende Isolation zu durchbrechen.
2. Ihre Erarbeitung ermöglicht den Betroffenen einen neuen Zugang zum Verständnis der eigenen bisherigen Entwicklung, "zum Schlüssel zu sich selbst".
3. Ihre Erarbeitung hilft, eine Lebensorientierung wiederzufinden, die den konkreten Bedingungen entspricht.
4. Die Erarbeitung der Biographie wird so zur Erarbeitung von Handlungsschritten, die aus der bestehenden Lebenslage herausführen können.
Eine konkrete Arbeit mit den Betroffenen ist nur möglich mit einer Konzeption, die Erklärungsleistungen bietet
- zu den sozialen und gegenständlichen Beziehungen, die Menschen im Zuge der Verwirklichung ihrer Persönlichkeit eingehen,
- zu der Struktur der Tätigkeiten, mit der diese Beziehungen realisiert werden und zu den Bedingungen, die objektiv gegeben sind oder von Menschen erst geschaffen werden,
- zu menschlichem Bewußtsein, mit dem der tätige Wirklichkeitsbezug der Menschen vermittelt wird.
Mit einer solchen Konzeption können Pädagogen und Betroffene gemeinsam Perspektiven erarbeiten, die Handlungsschritte ermöglichen.
8.2.2. Schlußfolgerungen für die Forschung zur Verursachung von Wohnungslosigkeit und der Lebenslage Wohnungsloser
Der eingeschlagene Weg eröffnet vielversprechende Möglichkeiten für die Forschung zur Verursachung von Wohnungslosigkeit und zur Lebenslage Wohnungsloser.
Diese Herangehensweise ist von den Voraussetzungen her zunächst wesentlich allgemeiner als die bestehenden Konzeptionen zur Frage nach der Verursachung von Wohnungslosigkeit. Andererseits kennzeichnet es gerade die Unbrauchbarkeit bestehender Modelle, den Erklärungszusammenhang unzulässig einzuengen. Mit Blick auf Wohnungslose muß immer wieder betont werden, daß es sich hierbei um eine heterogene Gruppe handelt.
Eine Erklärungsleistung nach dem hier dargestellten Ansatz wird sich immer zwischen zwei Polen bewegen:
Auf der einen Seite sind die gesellschaftlichen Bedingungen möglichst genau zu erfassen, die zum Problem Wohnungslosigkeit führen, und unter denen Wohnungslose ihr Leben bewältigen, auf der anderen Seite können letztlich immer nur für jeden Einzelnen die konkreten Bedingungen, unter denen seine Tätigkeit verläuft, und so sein individueller Prozeß, der in die Wohnungslosigkeit führte, rekonstruiert werden.
Der lebensgeschichtliche Prozeß des Einzelnen, der zur Situation der Wohnungslosigkeit führt, ist demnach genauer zu fassen als Prozeß der konkreten tätigen Auseinandersetzung des Individuums mit den gegebenen konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Das gilt ebenso für die aktuelle Lebenslagebewältigung in der Situation Wohnungslosigkeit.
Eine Erforschung der Verursachung von Wohnungslosigkeit muß in einer Analyse die Inhalte dieses Prozesses her ausarbeiten, um ihn verstehen zu können.
8.2.3. Schlußfolgerungen für Soziale Arbeit mit Wohnungslosen
Eine Soziale Arbeit mit Wohnungslosen muß sich verabschieden von allen Konzeptionen, die Wohnungslose erst zu dem machen, was sie gar nicht sind: zu Nichtseßhaften. Daß sie wohnungslos sind, ist für die Betroffenen selbst schon Schwierigkeit genug.
Ein Blick auf den Komplex der gesellschaftlichen Bedingungen zeigt, daß es kurz- und mittelfristig nicht möglich ist, die Gründe zu beseitigen, die das Problem Wohnungslosigkeit erst verursachen.
Das sind die beiden Extreme, zwischen denen eine realitätsnahe Soziale Arbeit mit Wohnungslosen stattfinden muß.
Eine Sozialarbeit, die sich die Perspektive setzt, Wohnungslose mit den materiellen Mitteln zu auszustatten, an denen es ihnen fehlt - Wohnung, Arbeit, Geld - muß scheitern und ist in allen bisherigen Versuchen gescheitert - weil sie zu kurz greift. Der Prozeß des Wohnungsverlustes und der damit verbundenen umfassenden Neuorientierung des Lebensvollzugs unter den veränderten Bedingungen der Wohnungslosigkeit erfordern eine Umkehrung.
Das erfordert, einen Rahmen zu schaffen, der über die Bereitstellung der materiellen Mittel die hinaus ermöglicht, die Integration als Prozeß zu verstehen, der entsprechend zu unterstützen und zu fördern ist.
Eine Betrachtung der durchgesetzten vorherrschenden politischen Absichten muß eine solche Vorstellung realistischerweise in das Reich frommer Wünsche entlassen.
Die sich daraus für eine Soziale Arbeit ergebenden Konsequenzen sind, daß Hilfe von dieser Seite nicht anders sein kann als ambulant: Bezogen auf die Lebenslage und die konkreten Bedürfnisse der Wohnungslosen.
Das Beispiel der Wärmestube Warmer Otto zeigt, daß ein auf die konkreten Bedürfnisse der Besucher hin orientiertes Hilfsangebot nicht auf die Bereitstellung materieller Gegenstände reduziert sein darf. Von erheblicher Wichtigkeit ist die Seite der Angebote, die Voraussetzungen und Grundlagen für die Entwicklung sozialer Beziehungen bietet. Das schließt Beziehungen Betroffener untereinander ebenso ein wie Beziehungen zu professionellen Helfern, die Aktivierung noch bestehender sozialer Strukturen im Stadtteil usw.
Die Organisation materieller Hilfen und das Realisieren sozialer Beziehungen bedingen einander: Die Leiterin eines Kindergartens in der Nähe der Wärmestube ruft des öfteren an, ob sie übriggebliebene Portionen vom Mittagessen vorbeibringen könne. Bewohner Moabits bringen gelegentlich Kleidungs- und Geldspenden vorbei. Bäckereien legen altes Brot beiseite. Firmen spenden Waren aus ihrer Produktion (vielleicht um ihre Bilanzen moralisch zu frisieren).
In einer privateigentumfixierten, wertverwertenden Gesellschaft sind Menschen allzuschnell bereit, nutzloses wegzuwerfen: In gewisser Weise muß eine Einrichtung wie die Wärmestube darauf achten, was andere an Abfall produzieren, und mit diesen Ressourcen sinnvoll umgehen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Aktivieren von Fähigkeiten und Fertigkeiten der Besuchern. Die Verwirklichung ihrer Subjektivität ist unter den Bedingungen ihrer Lebenslage massiv eingeschränkt. Es bedarf oft nur einfachster Mittel und einer notwendigen Sensibilität, um die vielfältigen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Besucher ans "Tageslicht zu bringen". Das ist nicht nur eine Bereicherung für andere Betroffene in dem oft grauen Alltag, sondern auch von besonderer Bedeutung für das Vertrauen des einzelnen Besuchers in sich selbst.
Wie die konkreten Erfahrungen zeigen, wird ein solcher Anspruch viel Arbeitszeit und darüberhinausgegendes Engagement beanspruchen, um überhaupt den sozial - politischen Instanzen die Mittel zur Verwirklichung eines solchen Anspruchs abzuringen.
In den Schlußfolgerungen war die Rede davon, daß auch die Angebotsseite der Wärmestube Elemente in sich birgt, die bestehende Bedürfnisse nur hinausschiebt. Dieses Problem wird sich grundsätzlich nicht beseitigen lassen. Trotzdem meine ich, daß die Möglichkeiten einer Wärmestube in verschiedenen Bereichen noch nicht voll ausgeschöpft sind. Hier ist die Seite materieller Angebote noch weiter voranzutreiben:
Dringend erforderlich ist es, beispielsweise eine zumindest notdürftige - medizinische und ärztliche Versorgung, eine bessere Ausstattung mit Kleidung, eine vielseitigere und reichhaltigere Ernährung zu gewährleisten.
Ich bin mir darüber im klaren, daß auch solche Vorschläge an dem Problem Wohnungslosigkeit grundsätzlich nichts ändern. Trotzdem ist gerade die dauerhafte teil weise Befriedigung der Bedürfnisse von Wohnungslosen ein besonderes Problem. Wärmestuben haben hier die Chance, innovativ zu werden, indem sie beispielhaft versuchen, bestimmte sozialpolitische und gesellschaftliche Handlungsspielräume "auszureizen".
Ein Teil der Besucher der Wärmestube hat sich schon jetzt die in der Wärmestube bestehenden Handlungsräume zu eigen gemacht - sie räumen auf, sie gehen kegeln, sie treffen sich hier, sie planen die Mahlzeiten usw. Hier ist schon eine praktische Voraussetzung von Seiten der Besucher erkennbar, an der eine soziale Arbeit mit den Betroffenen ansetzen kann.
Die Perspektive einer lebenslagebezogenen und bedürfnisorientierten Sozialarbeit wird um so effektiver sein, je mehr sich Pädagogen und Betroffene als Partner verstehen (vgl. ARNSCHEID/ STURM 1987, 1-3.).
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- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 7. Teilnehmende Beobachtungen
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 6. Durchführung der Untersuchung
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 5. Forschungsfragen & Methodik
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 4. Individuelle Bedingungen
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 3. Gesellschaftliche Bedingungen
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 2. Theoretische Modelle
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 1. Einleitung
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - 0. Vorwort
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte. Berlin 1989 [Diplomarbeit]
- Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte - Das Praktikum