Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte. Gesellschaftliche Bedingungen und individuelle Tätigkeiten am Beispiel der Besucher der Wärmestube Warmer Otto in Berlin Moabit. Berlin 1989 (=Diplomarbeit am Fachbereich 22 Erziehungswissenschaften der TU Berlin)

4. INDIVIDUELLE BEDINGUNGEN - DIE TÄTIGKEITSTHEORETISCHE KONZEPTION A.N.LEONTJEWS

4.1.     TÄTIGKEIT UND PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNG
4.2.     TÄTIGKEIT
4.3.     BEWUSSTSEIN
4.4.     PERSÖNLICHKEIT
4.5.     ZUSAMMENFASSUNG


4. INDIVIDUELLE BEDINGUNGEN - DIE TÄTIGKEITSTHEORETISCHE KONZEPTION A.N. LEONTJEWS

Daß Wohnungslosigkeit ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse ist, sagt noch nichts aus über die Situation derer, die ohne Wohnung leben (müssen). Dem gegenüber steht die Unbrauchbarkeit vorliegender theoretischer Konzeptionen, die Ursachen der Situation der Wohnungslosen zu erklären und ihre aktuelle Situation zu verstehen. Darauf habe ich im zweiten Kapitel hingewiesen.

Wohnungslose sind nicht einfach nur Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse, die mit sich und den Verhältnissen fertig werden müssen. Diese Feststellung mag für eine soziologisch orientierte Fragestellung ausreichen. Was hier aber interessiert, ist die individuelle Seite der Situation Wohnungsloser: Wie sie ihr Leben unter den gegebenen Bedingungen bewältigen - eben als gesellschaftliche Subjekte.

Es stellt sich also die Frage nach dem Sein, dem Bewußtsein und der Persönlichkeit der Wohnungslosen in ihren Zusammenhängen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Notwendig ist eine Konzeption, die ausgehend von dieser Grundlage einen wissenschaftlichen Zugang zur Situation der Wohnungslosen ermöglicht. Eine Konzeption, die darauf verzichtet, vorschnell und unbegründet der Persönlichkeit der Betroffenen Merkmale zuzuschreiben. Eine Konzeption, die Möglichkeiten eröffnet, menschliche Individualität auch in besonderen Lebenslagen zu be-greifen und zu verstehen.

Ein Zugang, der diesen Anforderungen gerecht wird, ergibt sich aus der tätigkeitstheoretischen Konzeption A.N. LEONTJEWS.

Diese Konzeption ist in der wissenschaftlichen pädagogischen und psychologischen Arbeit noch wenig bekannt. Sie wurde noch nie im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Situation Wohnungsloser verwendet. Einzig ROHRMANN (1987, 57f) zeigt diese Möglichkeit auf und verweist auf Autoren, die sich ihrerseits auf LEONTJEW beziehen. Er fordert eine Konzeption, die "menschliche Individualität weder ausschließlich genuin aus dem einzelnen Individuum heraus erklärt, noch als ohnmächtig den gesellschaftlichen Bedingungen ausgesetzt versteht." (ROHRMANN 1987, 57).

Ein solches Konzept kann allerdings auf das "Problem der Wohnungslosigkeit nicht einfach 'angewandt' und übertragen werden. Die Dialektik zwischen den objektiven Bedingungen von Armut und Wohnungslosigkeit und der subjektiven Deutung und Verarbeitung dieser Bedingungen durch die Betroffenen muß vielmehr grundlegend neu gefaßt und herausgearbeitet werden. Eine solche Arbeit steht bisher noch aus" (ROHRMANN 1987, 58).

Ausgehend von LEONTJEWS bedeutenden Veröffentlichungen "Probleme der Entwicklung des Psychischen" (1973; abgekürzt: PEP) und "Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit" (1982; abgekürzt: TBP) werde ich die wichtigsten Gedanken der tätigkeitstheoretischen Konzeption hier dar stellen. "Probleme der Entwicklung des Psychischen" ist die deutschsprachige Veröffentlichung einer Sammlung verschiedener Aufsätze und Arbeiten LEONTJEWS über einem längeren Zeitraum, während "Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit" eine einheitlich konzipierte Arbeit LEONTJEWS darstellt. Eine Werkausgabe von LEONTJEWS Arbeiten ist zur Zeit im Entstehen, aber noch nicht allgemein zugänglich.

LEONTJEW ist, neben Rubinstein, Wygotski, Galperin und Lurija, einer der herausragenden Vertreter der kulturhistorischen Schule, die sich in der Sowjetunion gebildet hat. Es bietet sich an, in diesem Zusammenhang gerade LEONTJEWS Arbeiten heranzuziehen, weil bei ihm vor allem in der Veröffentlichung "Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit" - eine geschlossene und systematische Entfaltung der tätigkeitstheoretischen Grundkonzeption auf hohem Verallgemeinerungsniveau zu finden ist. Nicht berücksichtigt wurden die neueren Arbeiten zur tätigkeitstheoretischen Konzeption, etwa die umfangreichen Materialien vom 1. Internationalen Kongreß zur Tätigkeitstheorie 1986 in Berlin.

Hier stelle ich nur diejenigen der zentralen Kategorien A.N. LEONTJEWS dar, die m.E. im Zusammenhang mit der Frage nach der Verwirklichung der Subjektivität bei Wohnungslosen zunächst relevant sind.

Aus dieser Darstellung und den Ergebnissen der Analyse gesellschaftlicher Bedingungen im vorherigen Kapitel ergeben sich die theoretischen Voraussetzungen, aus denen forschungsleitende Fragen für die Beobachtungen im Feld, dem praktischen Teil dieser Arbeit zu entwickeln sind (Kapitel 5.).

4.1. TÄTIGKEIT UND PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNG

Die spezifischen Prozesse, die ein Lebewesen vollzieht und in denen sich die aktive Beziehung des einzelnen Subjekts zur Wirklichkeit äußert, sind die Tätigkeit. Durch seine Tätigkeit ist das Subjekt praktisch mit der Umwelt verbunden, es wirkt auf sie ein und ordnet sich ihren objektiven Eigenschaften unter. Im Verlauf der biologischen Evolution wird die Wechselwirkung zwischen den Lebewesen und der Umwelt immer komplizierter. Die Tätigkeit der Lebewesen wandelt sich qualitativ.

(Vgl. dazu ausführlich: LEONTJEW, PEP, Das Problem des Entstehens von Empfindungen, 6-122.)

Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Lebens entstehen spezifische Erscheinungen, die die Eigenschaften der objektiven Realität in ihren objektiven Zusammenhängen abbilden: Die Prozesse der psychischen Widerspiegelung.

Der Begriff Widerspiegelung mag an dieser Stelle zunächst etwas verwirren. LEONTJEW betont immer wieder, daß hierunter nicht ein passiver Vorgang im Sinne eines spiegelbildlichen, bloßen Abbilds zu verstehen ist.

(Zu den Prozessen der Widerspiegelung vgl. LEONTJEW, PEP, Über den Mechanismus der sinnlichen Widerspiegelung, 123-152 und TBP, Die psychische Widerspiegelung, 51-74.)

Der Vorgang der psychischen Widerspiegelung ist viel mehr materieller Lebensprozeß des Subjekts, ein Teil seiner Tätigkeit, die das Subjekt mit seiner Umwelt verbindet. Die aktiven Prozesse der Widerspiegelung, die das Subjekt vollzieht und die seine Tätigkeit in der Realität orientieren, entstehen notwendig mit der Tätigkeit und werden in ihrer Entwicklung durch die Bedingungen und Anforderungen des Lebens bestimmt.

Auch die Form der aktiven Widerspiegelung hängt von der Eigenart des Lebensprozesses, der Art der Wechselwirkung von Subjekt und Umwelt ab und damit vom Sein des Subjekts.

Mit dem Übergang zu spezifisch menschlichen Lebensformen und menschlicher (Arbeits-)tätigkeit, die ihrem Wesen nach werkzeugvermittelt und gesellschaftlich ist, wandelt sich auch die Form des Widerspiegelungsprozesses. Menschliches Bewußtsein - oder bewußte Widerspiegelung - stellt eine qualitativ neue Form des Psychischen dar. Sie unterliegt nicht mehr nur biologischen, sondern auch gesellschaftshistorischen Entwicklungsgesetzen.

(Zur Entwicklung des Psychischen vgl. LEONTJEW, PEP, Abriß der Entwicklung des Psychischen, 155-261. Abschnitt I behandelt "Die Entwicklung des Psychischen beim Tier", 155-189, die Abschnitte II und III die Entstehung und historische Entwicklung des menschlichen Bewußtseins.)

Nur die Analyse der menschlichen Tätigkeit ermöglicht es, in die tatsächliche Natur des Psychischen, das menschliche Bewußtsein einzudringen. Nach LEONTJEW ist die Tätigkeit der Prozeß, der jene inneren bewegenden Widersprüche, Differenzierungen und Transformationen in sich trägt, die das Psychische erzeugen. Psychisches wird verstanden als notwendiges Moment der Eigenbewegung der Tätigkeit und ihrer Entwicklung. Tätigkeit wird so zum Gegenstand psychologischer Forschung.

Daraus ergibt sich das Prinzip der historischen Herangehensweise an das Psychische, wie es in der kulturhistorischen Schule praktiziert wird.

(Das Prinzip des historischen Herangehens an das Psychische wird von LEONTJEW ausführlich entwickelt in dem Aufsatz "Über das historische Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche" in PEP, 262-310. Hier diskutiert und kritisiert Leontjew u.a. die Positionen der traditionellen Psychologie und begründet daraus seine Konzeption. Vgl. auch LEONTJEW, TBP, Vorwort des Autors, 9-21.)

Die im Folgenden kurz dargestellten wesentlichen Kategorien der tätigkeitstheoretischen Konzeption A.N. LEONTJEWS sind nach den Anforderungen dieser Arbeit ausgewählt. Auf die Darstellung der historischen Entwicklung des Psychischen gehe ich nur insoweit ein, wie es zur Verdeutlichung beiträgt. Ich verweise weiterhin auf die ausführliche Darstellung von LEONTJEW.

4.2. TÄTIGKEIT

4.2.1. TÄTIGKEIT - GEGENSTAND - MOTIV

Mittels der Tätigkeit vollziehen die einzelnen Menschen ihren Bezug zur Wirklichkeit. In der Gesamtheit der Tätigkeiten sind es immer besondere Tätigkeiten, die sich durch den Gegenstand unterscheiden, auf den sie gerichtet sind. Ein solcher Gegenstand ist das tatsächliche Motiv der Tätigkeit. Es kann stofflich oder ideell, d.h. in der Wahrnehmung oder nur in der Phantasie gegeben sein. Jedes Motiv entspricht einem bestimmten Bedürfnis. (Vgl. LEONTJEW, TBP, Die allgemeine Struktur der Tätigkeit, 101-120, besonders lOlff.)

Die Besonderheit menschlicher Tätigkeit besteht darin, daß sie von Anfang an - zunächst als Arbeitstätigkeit ein gesellschaftlicher Prozeß ist. Das erfordert die Veränderung und Differenzierung der Tätigkeit auch beim einzelnen Menschen. Aus der früheren, komplizierten aber einheitlichen Tätigkeit bilden sich einzelne Bestandteile heraus, die sich in selbständige Handlungen des Subjekts verwandeln. (Vgl. LEONTJEW, PEP: Bedingungen für die Entstehung des Bewußtseins, 197- 208.)

Die Hauptkomponente der menschlichen Tätigkeit ist die Handlung.

4.2.2. HANDLUNG - ZIEL

Die Handlung ist, wie gesagt, das Ergebnis der Aufteilung der Arbeitstätigkeit in der menschlichen Gesellschaft. Jede Handlung ist ein Prozeß, der einem bewußten Ziel untergeordnet ist. Das Ziel ist Zwischen- oder Teilergebnis auf dem Weg zum Motiv, es befriedigt das Bedürfnis aber an sich nicht. Tätigkeit existiert nicht anders als in der Form von Handlungen oder Handlungsketten.

Die Verbindung zwischen Motiv und Ziel der Tätigkeit spiegelt nicht die natürlichen, sondern die objektiv gesellschaftlichen, die von Menschen geschaffenen Beziehungen wider. Dieses Verhältnis zwischen dem Motiv seiner Tätigkeit und dem Ziel seiner Handlungen muß der handelnde Mensch im Prozeß der Widerspiegelung bewußt erfassen. Er muß es erfassen: Die Handlung wäre sonst nicht möglich, da sie ohne Sinn für das Subjekt wäre. Darin besteht die Notwendigkeit, die Prozesse der Widerspiegelung auf das für den Menschen spezifische Niveau des Bewußtseins weiterzuentwickeln.

Ein und dieselbe Handlung kann verschiedene Tätigkeiten realisieren, ein und dasselbe Motiv kann verschiedene Handlungen initiieren, d.h. in verschiedenen Zielen konkretisiert werden.

Ziele werden nicht "erfunden" oder von einzelnen Menschen willkürlich aufgestellt, sie sind in den objektiven Umständen gegeben. Das Bestimmen und Erfassen eines Ziels ist ein relativ langer Prozeß des Erprobens der Ziele durch die Handlung. (Vgl. LEONTJEW, TBP, 102-107.)

Ohne Zweifel haben die objektiven Umstände bei Wohnungslosen eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Auch wenn der Wohnungsverlust als ein punktuelles Ereignis verstanden werden kann (was er sicher nicht ist), so ist zumindest anzunehmen, daß aufgrund der veränderten Umstände nach dem Wohnungsverlust ein Prozeß eintritt, der eben genau durch das o.g. Bestimmen und Erfassen neuer Ziele und das Erproben der Ziele durch neue Handlungen zu charakterisieren ist.

Mit anderen Worten: Wenn schon nicht der Wohnungsver lust als Prozeß angesehen wird, so erfordert spätestens die individuelle neue Lebenslage des jetzt Wohnungslosen von ihm individuelle Prozesse seiner Tätigkeit, in denen er die Ziele der einzelnen Handlungen unter maßgeblich veränderten Umständen erst wieder neu bestimmen, neu erfassen und erproben muß, bevor er sie realisieren kann. In der Konsequenz bedeutet das: Ein Wohnungsloser hat in der Bewältigung seiner individuellen Lebenslage hochgradig komplexe Lernprozesse zu vollziehen.

Ein mögliches Ergebnis der Lernprozesse ist, daß in ihrem Verlauf die Zusammensetzung der Tätigkeiten den objektiven Umständen eines Lebens in der Situation, wohnungslos zu sein, mehr oder weniger angemessen ist. Mit anderen Worten: Die von Wohnungslosen verfolgten Ziele und die im Zuge der Verwirklichung dieser Ziele praktizierten Handlungen müssen diesen Lebensumständen adäquat sein.

Ich sage mit Absicht, es ist ein mögliches Ergebnis. In Wirklichkeit ist nicht zu erwarten, daß diese Prozesse so reibungslos vor sich gehen. Realistischer ist die Annahme, daß im aktuellen Lebensvollzug Wohnungsloser sich Elemente in der Tätigkeit wiederfinden, die auf "Brüche" in der Bewältigung ihrer Lebenslage verweisen. Darauf komme ich später noch zurück.

Jede Handlung hat einen intentionalen Aspekt, d.h. was erreicht werden soll, und einen operationalen Aspekt, d.h. wie, auf welche Art und Weise dieses Ziel erreicht werden soll. Der operationale Aspekt einer Handlung ist nicht durch das Ziel an sich, sondern durch die objektiv-gegenständliche Bedingung zur Erreichung des Ziels bestimt.

4.2.3. OPERATION - BEDINGUNG

Operationen sind Verfahren zur Verwirklichung von Handlungen, sie entsprechen den objektiv-gesellschaftlichen Bedingungen.

Operationen sind entstanden im Zuge der Entwicklung menschlicher Arbeitstätigkeit als das Ergebnis der Umwandlung von Handlungen. Die Umwandlung von Handlungen erfolgt durch die Einbeziehung einer Handlung in eine andere oder durch die Technisierung einer Handlung. Die Entwicklung von Operationen ist deshalb nicht zu trennen von der Entwicklung von Werkzeugen der menschlichen Arbeit. Es ist gerade die Besonderheit menschlicher Arbeitstätigkeit, daß sie werkzeugvermittelt vollzogen wird. Darin ist auch der Grund dafür zu sehen, daß Operationen zu Funktionen von Maschinen werden können. (Zur Entstehung von Operationen vgl. LEONTJEW, PEP, 208ff und 226ff.)

In der Operation sind die Beziehungen in abstrahierter und verallgemeinerter Form fixiert, die die gegenständlichen Handlungsbedingungen charakterisieren. Bei identischem Ziel, aber veränderten Bedingungen ändert sich auch die operationale Zusammensetzung der Handlung. Andererseits kann ein und dieselbe Operation verschiedene Handlungen realisieren. (Vgl. LEONTJEW, TBP, 106-108.)

Die Veränderung der operationalen Zusammensetzung der Handlung unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ist besonders bedeutsam. Wenn das Wohnen in einer eigenen Wohnung als Handlungsbedingung aufgefaßt werden kann, müssen die einzelnen Handlungen von Menschen in der Situation der Wohnungslosigkeit eine zumindest teilweise verschiedene, durch den Wohnungsverlust veränderte operationale Zusammensetzung zeigen. Der Charakter der Handlungen ist ein anderer, weil die Handlungsbedingungen andere geworden sind.

4.2.4. ÄUSSERE UND INNERE TÄTIGKEIT

Menschliches Denken als die Form der inneren Tätigkeit besitzt im Prinzip die gleiche Struktur wie die praktische Tätigkeit. Auch sie entspricht Bedürfnissen und besteht aus Handlungen, die bewußten Zielen unter geordnet sind und mit Hilfe bestimmter, z.B. logischer, mathematischer usw. Operationen vollzogen werden.

Aufgrund der gleichartigen Struktur der äußeren und inneren Tätigkeit sind konstante, wechselseitige Ubergänge möglich. Die aus der äußeren, praktischen Tätigkeit hervorgehende innere Tätigkeit trennt sich nicht von ihr oder stellt sich über sie, sondern bleibt mit ihr prinzipiell und wechselseitig verbunden:

Innere Tätigkeitsprozesse sind das Ergebnis der Interiorisation und der Umwandlung der äußeren, praktischen Tätigkeit. Interiorisation bezeichnet den Ubergang, durch den äußere Prozesse, die sich mit äußeren, stofflichen Gegenständen vollziehen, in Prozesse verwandelt werden, die auf der Ebene des Bewußtseins ablaufen. Dabei werden sie verallgemeinert, verbalisiert, ver kürzt und sind zu Weiterentwicklungen fähig. (Vgl. LEONTJEW, TBP, Wechselbeziehung von äußerer und innerer Tätigkeit, 94-100.)

Innere Tätigkeit entsteht zusammen mit der Entwicklung des Bewußtseins und der Sprache, sie ist aber nicht mit ihnen identisch.

Im Zuge der historischen Entwicklung haben sich als Folge gesellschaftlicher Arbeitsteilung geistige und praktische Tätigkeit voneinander relativ verselbständigt, unter bestimten gesellschaftlichen Verhältnissen werden sie sogar voneinander isoliert. Schließlich erscheint dann das Denken als Äußerung eines besonderen geistigen Prinzips, das der besonderen Sphäre des Bewußtseins angehört und der materiellen Welt gegenüber

Daß ich in diesem Zusammenhang auf auf den Bezug von äußerer und innerer Tätigkeit eingehe, hat zwei Gründe. Zum einen kann aus der Darstellung der Struktur der Tätigkeit das Mißverständnis entstehen, es handele sich dabei ausschließlich um äußerliche Vorgänge. Zum anderen wird deutlich, daß der Komplex der inneren Tätigkeiten "immer von vorneherein ein nach Bedürfnis (i.O., der Verf.) verschwindendes und sich reproduzierendes Moment im Gesamtleben des Individuums" (MARX, MEW 3, 246) ist.

4.2.5. DIE BEWEGUNGEN IM SYSTEM DER TÄTIGKEIT

In der Analyse der Gesamtheit der Tätigkeiten eines Menschen sind also einzelne, besondere Tätigkeiten anhand der sie initierenden Motive, Handlungen als bewußten Zielen untergeordnete Prozesse und Operationen, die unmittelbar von den Bedingungen zur Erlangung der konkreten Ziele abhängen, zu unterscheiden. Diese "Einheiten" der Tätigkeit bilden ihre Struktur.

Eine Analyse, die diese Einheiten bestimmt, soll nicht die lebendige Tätigkeit des konkreten Menschen in Elemente zergliedern, sondern vielmehr ihre charakteristischen inneren Beziehungen aufdecken. Durch das Aufdecken dieser charakteristischen inneren Beziehungen im System der Tätigkeit treten auch die Veränderungen zutage, die im Verlauf der Entwicklung dieses Systems der Tätigkeiten entstehen. Die Tätigkeit ist ein Prozeß, der durch ständige Transformationen gekennzeichnet ist.

Eine Tätigkeit kann das Motiv verlieren, das sie initiiert hat und zu einer Handlung werden, die eine andere Tätigkeit realisiert. Eine Handlung kann eine selbständige stimulierende Kraft erlangen und um ihrer selbst willen vollzogen werden und so zu einer besonderen Tätigkeit werden. Eine Handlung kann aber auch zu einem Verfahren zur Erreichung eines Ziels, zu einer Operation werden, die unterschiedliche Handlungen realisieren kann.

Jede Einheit kann zur Komponente einer anderen werden oder Einheiten in sich aufnehen, die vorher selbständig waren. Das sind Prozesse der Ausgliederung oder der integrativen Erweiterung von Einheiten der Tätigkeit.

Es gibt kaum Tätigkeiten, die ausschließlich innere oder ausschließlich äußere Tätigkeiten sind. Häufig werden innere Tätigkeiten mit Hilfe äußerer Handlungen oder Operationen vollzogen. Ebenso können auch die Handlungen und Operationen, die eine äußere Tätigkeit vollziehen, die Form innerer, geistiger Prozesse haben. Mit anderen Worten: Es findet eine Integration von äußeren und inneren Elemente beim Vollziehen einer Tätigkeit statt. Unabhängig davon, ob es sich dabei um innere oder äußere Handlungen bzw. Operationen handelt: Nur in ihrer Unteilbarkeit, ihrer Ganzheit können sie Einheiten der entsprechenden Tätigkeit sein, die sie verwirklichen. (Vgl. LEONTJEW, TBP 108-110 und PEP 229-231.)

Nach einer Bemerkung von LEONTJEW ist das menschliche Leben "eine Gesamtheit, genauer gesagt, ein System einander ablösender Tätigkeiten. In der Tätigkeit erfolgt auch der Ubergang des Objekts in seine subjektive Form, in das Abbild; gleichzeitig erfolgt in der Tätigkeit auch der Übergang in ihre objektiven Resultate, ihre Produkte. Nimmt man die Tätigkeit von dieser Seite, fungiert sie als ein Prozeß, in dem die wechselseitigen Ubergänge zwischen den Polen "Subjekt - Objekt" verwirklicht werden." (LEONTJEW, TBP, 83.)

Als subjektive Auseinandersetzung mit objektiven Gegebenheiten ist auch der Prozeß zu fassen, der zur Wohnungslosigkeit führt, und - was hier vordringlich interessiert - die aktuelle Situation, in der sich Wohnungslose befinden. Der Zugang zu dem Inhalt dieses Prozesses ergibt sich aus der Untersuchung der individuellen Tätigkeiten, mittels derer die "wechselseitigen Ubergänge" realisiert werden.

Die Tätigkeit, oder besser: das System der Tätigkeit wird vermittelt und orientiert durch die Prozesse der psychischen Widerspiegelung, die beim Menschen die Form der bewußten Widerspiegelung - des Bewußtseins - haben. Im folgenden gehe ich auf diesen Komplex Bewußtsein und seine Besonderheiten in der bestehenden Gesellschaft ein, um dann am Schluß dieses Kapitels zu zeigen, wie nach der tätigkeitstheoretischen Konzeption "Persönlichkeit" verstanden wird.

4.3. BEWUSSTSEIN

4.3.1. BEWUSSTSEIN UND SPRACHE

Das menschliche Bewußtsein stellt eine qualitativ neue Form des Psychischen dar. Es entsteht notwendig beim Menschen im Prozeß der Herausbildung der Arbeitstätigkeit und der gesellschaftlichen Beziehungen. Es entsteht, um die unter diesen Bedingungen immer komplexer werdende Tätigkeit zu orientieren. Bewußtsein ist von Anfang an ein gesellschaftliches Produkt.

In diesen gesellschaftlichen Beziehungen, die Menschen durch ihre (Arbeits-)tätigkeit eingehen, erzeugen sie auch die Sprache, die zur Bezeichnung der Gegenstände, der Mittel und der Tätigkeit dient. Das ist nichts anderes als die Heraussonderung der ideellen Seite der Objekte. Was für den Menschen Motiv, Ziel und Bedingung seiner Tätigkeit ist, muß von ihm auf die eine oder andere Weise wahrgenommen, vorgestellt, verstanden, festgehalten oder reproduziert werden. Das gilt auch für die Tätigkeit des Menschen und für ihn selbst, seine Zustände, Eigenschaften und Besonderheiten.

Indem sich Menschen Sprache aneignen, eignen sie sich die mittels der Sprache bezeichnete Wirklichkeit an, sie wird ihnen bewußt. Sprache erzeugt nicht Bewußt sein. Sprache ist vielmehr die Existenzform menschlichen Bewußtseins. Bewußtsein und Sprache sind nicht voneinander zu trennen. Sie sind das Produkt jener besonderen gesellschaftlichen Beziehungen, die Menschen eingehen.

(Vgl. LEONTJEW, PEP, Die Entstehung des Denkens und der Sprache, 208-214 und TBP, Die Theorie des Bewußtseins, 28-37.)

4.3.2. OBJEKTIVE BEDEUTUNG

Die Tätigkeit, die äußere wie die innere, wird durch die Prozesse der psychischen Widerspiegelung der Wirklichkeit vermittelt und gesteuert. Die Tätigkeit ist Grund und Grundlage für die Reproduktion der Objekte der Tätigkeit in der Form sinnlicher Abbilder im Kopf

Diese sinnlichen Abbilder sind die allgemeine Form, in der sich dem Menschen die Wirklichkeit erschließt. Sie werden durch die gegenständliche Tätigkeit des Menschen erzeugt. (Vgl. LEONTJEW, TBP, Die sinnliche Grundlage des Bewußtseins, 130-135.)

Menschliches Bewußtsein ist jedoch nicht nur ein einfaches Abbild-Bewußtsein. Die sinnlichen Abbilder erhalten beim Menschen eine neue Qualität - die der Bedeutungen. Träger der Bedeutungen ist die Sprache Worte oder Wortbedeutungen.

Die Bedeutungen repräsentieren in ideeller, geistiger Form die Wirklichkeit der gegenständlichen Welt - ihre Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen -, die durch die gesellschaftliche Praxis der Menschen erarbeitet wurde und in der die gesellschaftliche Erfahrung der Menschheit enthalten ist.

Die Bedeutungen sind auch Ausdruck der Bewegung menschlicher Erkenntnisse und ideologischer - religiöser, politischer, philosophischer - Vorstellungen und ordnen sich gesellschaftshistorischen Prozessen unter. D.h. einer Veränderung der gesellschaftlichen Struktur entspricht auch eine Veränderung im System der Bedeutungen.

Das System der Bedeutungen ist der Inhalt des gesellschaftlichen Bewußtseins. Das gesellschaftliche Bewußtsein existiert aber nur und nirgendwo anders als in den Köpfen der einzelnen Menschen.

In der Tätigkeit erfolgt der Prozeß der Aneignung von "fertigen", historisch erarbeiteten Bedeutungen. Die einzelnen Menschen eignen sich den Reichtum der gesellschaftlichen Erfahrungen in dem Maße an, wie sie Bedeutungen beherrschen lernen.

Ursprünglich stimten die gesellschaftlichen Bedeutungen und die Bedeutungen für den einzelnen Menschen überein. Gesellschaftliches und individuelles Bewußtsein waren identisch. Mit dem Zerfall der ursprünglichen Beziehungen der Menschen zu den materiellen Bedingungen und den Produktionsmitteln im Kollektiv, mit der Entstehung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und des Privateigentums ist dieses Verhältnis auseinandergefallen. Es ist zu einer Nicht-Übereinstimmung der objektiven Bedeutungen und den Bedeutungen für das Subjekt im Bewußtsein der einzelnen Menschen gekommen.

Im Bewußtsein der einzelnen Menschen äußern sich die Bedeutungen in jener besonderen Subjektivität, die in der Engagiertheit des Subjekts zum Ausdruck kommt: Die Bedeutungen äußern sich als Realisierung des persönlichen Sinns.

(Vgl. LEONTJEW, TBP, Die Bedeutung als Problem der Psychologie des Bewußtseins, 136-143.)

4.3.3. PERSÖNLICHER SINN

Die Bedürfnisse der einzelnen Menschen sind in den Motiven ihrer Tätigkeit vergegenständlicht. Menschen befriedigen und entwickeln ihre Bedürfnisse, indem sie sich der konkreten Ziele bewußt werden und sie erreichen. Dafür müssen sie sich die Operationen der einzelnen Handlungen angeeignet haben.

Motiv meint hier jenen objektiven Tatbestand, in dem dieses Bedürfnis unter den gegebenen Bedingungen konkretisiert ist, der die Tätigkeit anregt und worauf sie sich richtet.

Ein Motiv kann bewußt sein oder sich als Interesse, Wunsch, Leidenschaft usw. indirekt offenbaren. Unabhängig, ob das Motiv dem Subjekt bewußt wird oder nicht, seine Funktion für das Bewußtsein des Subjekts zeigt sich darin, die Lebensbedeutung der objektiven Bedingungen und Handlungen des einzelnen Menschen unter diesen Bedingungen zu "werten".

Mit anderen Worten: Ein persönlicher Sinn entsteht, indem der einzelne Mensch das objektive Verhältnis zwischen dem Gegenstand seiner Tätigkeit, also dem Motiv und dem, worauf sich seine Handlung richtet, dem Ziel, im Bewußtsein widerspiegelt.

Der persönliche Sinn drückt die Beziehung des Subjekts zu der bewußtgewordenen objektiven Wirklichkeit aus. Die objektiven Erscheinungen werden dem einzelnen Subjekt bewußt durch die angeeigneten objektiven Bedeutungen. Daraus folgt: Persönlicher Sinn und die erfaßte objektive Bedeutung hängen eng miteinander zusammen, sind aber nicht dasselbe.

(Vgl. LEONTJEW, TBP, 142ff)

4.3.4. PERSÖNLICHER SINN UND OBJEKTIVE BEDEUTUNG

Das Bewußtwerden der Erscheinungen der Wirklichkeit erfolgt nur mittels der von außen angeeigneten "fertigen" Bedeutungen. Auch der persönliche Sinn wird in diesen Bedeutungen verkörpert.

Insofern ist das Sein der einzelnen Menschen nicht "selbstredend", es kann nur mittels der Bedeutungen ausgedrückt werden, die das konkrete Subjekt vorfindet, sich aneignet oder neu erarbeitet.

Die Bedeutungen als Erscheinungen des gesellschaftlichen Bewußtseins funktionieren im System des individuellen Bewußtseins. Die Wirklichkeit wird durch die objektiven Bedeutungen für das Individuum wie durch ein Prisma gebrochen, und zwar unabhängig, in welcher Beziehung die Bedeutungen zum Leben, zu den Bedürfnissen und den Motiven des Individuums stehen. Indem Bedeutungen im System des individuellen Bewußtseins funktionieren, findet in ihnen die Bildung und Entwicklung des persönlichen Sinns einen Ausdruck.

Persönlicher Sinn ergibt sich nicht aus den Bedeutungen. Es verhält sich anders: Der persönliche Sinn eines Menschen drückt sich in den angeeigneten Bedeutungen

(Vgl. LEONTJEW, TBP 144ff)

Persönlicher Sinn ist immer Sinn von etwas, stets gegenständlich. Es gibt keinen "reinen", für sich genommenen Sinn. Was geschieht, wenn persönlicher Sinn und objektive Bedeutung nicht mehr übereinstimmen? Wenn der persönliche Sinn keine ihn adäquat verkörpernden Bedeutungen findet?

4.3.5. DESINTEGRATION DER BEWUSSTSEINSSTRUKTUR

Persönlicher Sinn und objektive Bedeutung fallen nicht zusammen, sie sind nicht identisch. Der persönliche Sinn verbindet im Bewußtsein des einzelnen Menschen die Bedeutung mit der Realität seines Lebens in dieser Welt, also mit seinen Motiven. Persönlicher Sinn findet in der Engagiertheit der Menschen Ausdruck.

Die Nicht-Übereinstimmung von persönlichem Sinn und objektiver Bedeutung im Bewußtsein des Subjekts wird unter bestimmten Bedingungen zu einer Fremdheit.

Der Lohnarbeiter beispielsweise ist subjektiv bestrebt, durch das Ergebnis seiner Tätigkeit seine Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung oder Wohnung zu befriedigen. Das objektive Ergebnis seiner Arbeit ist jedoch ein ganz anderes, vielleicht ein Panzerrohr. Trotzdem bleibt das Leben unter diesen Bedingungen einheitlich.

Der Sinn, den die Tätigkeit und ihr Produkt für den Menschen erlangen, und die objektiven Bedeutungen, in denen sich dem Menschen seine Umwelt und sein eigenes Leben darbieten, stimmen nicht mehr überein. Sinn und Bedeutung werden einander fremd.

Diese Desintegration und Inadäquatheit des Bewußtseins entsteht mit Notwendigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft: Die mit der Entwicklung des Privateigentums verbundene Trennung der Mehrzahl der Produzenten von den Produktionsmitteln und die dadurch bedingte ökonomische Entfremdung führt notwendig zu einer Entfremdung der Bewußtseinsstruktur der unter diesen Bedingungen lebenden Menschen.

Die in der Gesellschaft reproduzierten Widersprüche und Gegensätze finden gleichsam ihre Fortsetzung in der Bewußtseinsstruktur der konkreten Menschen. Der persönliche Sinn findet keine ihn adäquat verkörpernden objektiven Bedeutungen. Der einzelne Mensch ist sich aber "nicht bewußt, daß Sinn und Bedeutung einander fremd sind, diese Tatsache bleibt seiner Selbstbeobachtung verborgen" (LEONTJEW, PEP 248), dieser Widerspruch offenbart sich ihm in der Form eines inneren Kampfes.

Menschen eignen sich die Wirklichkeit durch das Prisma gesellschaftlich erarbeiteter Bedeutungen an. Mit den Bedeutungen eignen sie sich die gesellschaftlicher arbeiteten Kenntnisse und Vorstellungen, sowie Teile aus dem System der Ideen, Ansichten und Ideale an, die mit diesen Bedeutungen bezeichnet werden.

Mit den angeeigneten Bedeutungen erwerben die Menschen zugleich auch deren allgemeineren ideologischen Inhalt. Der ideologische Inhalt der Bedeutungen wird von der jeweils herrschenden Klasse oder Gruppierung bestimmt und bildet die Realität entsprechend ihren Herrschaftsinteressen oberflächlich, einseitig und damit oft auch verzerrt und entstellt ab.

Damit besteht die Möglichkeit, in das Bewußtsein der einzelnen Menschen entstellte und wirklichkeitsfremde Vorstellungen und Ideen hineinzutragen, auch solche, die in der praktischen Lebenserfahrung keinerlei Grundlage haben. Bedeutungen dieser Art offenbaren im Bewußtsein des Subjekts deren Unsicherheit, indem sie zu Stereotypen werden. Stereotypen können nur durch eine Konfrontation mit der Realität, d.h. mit dem Leben zerstört werden.

Ich möchte diesen Punkt etwas weiter ausführen:

Die Vorstellungen, Wohnungslose seien "faul", "arbeitsscheu", "asozial", "Herumtreiber", "Alkoholiker" und "die wollen es gar nicht anders" sind solche Stereotypen, die immer noch weit verbreitet sind und weiter verbreitet werden.

Grundlage solcher Stereotypen ist gelegentlich wirklich das äußere Erscheinungsbild einiger Wohnungsloser, die sich tatsächlich oft im Freien aufhalten, die auf den ersten Blick nichts tun und keiner Arbeit nachgehen, deren Kleidung tatsächlich in einem miserablen Zustand ist und die unrasiert und ungepflegt aussehen, die tatsächlich alkoholische Getränke zu sich nehmen usw.

Auch wenn das auf der Erscheinungsebene für einige Wohnungslose so zutrifft, besteht ein offensichtlicher Unterschied zwischen der Aussage: Es gibt Wohnungslose, die haben - teilweise auch besonders große - Probleme mit Alkohol und der Aussage: Das sind alles Alkoholiker.

Jemand, der tatsächlich im Verlauf eines Prozesses wohnungslos wird, lebt gleichzeitig zunächst mit den Bedeutungen weiter, die er sich über die Wohnungslosen angeeignet hat. Möglicherweise sind es dieselben wie die oben genannten. Diese Bedeutungen sind für seine aktuelle Lebenssituation alles andere als adäquat. Er kann diese Bedeutungen für sich annehmen, er kann versuchen, sich neue anzueignen. Wie dem auch sei, es sind schwierige, nicht einfach zu bewältigende Bewußtseinsprozesse, die sich hier vollziehen.

In Wirklichkeit sind die Prozesse, die sich aus der Nicht-Übereinstimmung von persönlichem Sinn und objektiver Bedeutung der konkreten Lebenssituation, wohnungslos zu werden und zu sein, natürlich noch wesentlich komplexer.

Die Funktion vieler existierenden Bedeutungssysteme liegt darin, daß sie die bestehenden Herrschaftsverhältnisse fixieren, aufrechterhalten und die Menschen, die ihre Tätigkeit mittels der angeeigneten Bedeutungen orientieren, in der Verwirklichung ihrer eigenen Subjektivität einschränken und behindern.

Es sind zunächst die bestehenden Verhältnisse, welche die menschliche Subjektivität unterdrücken und innere Widersprüche in ihm aufkommen lassen. Das menschliche Leben geht aber nicht völlig in diesen Verhältnissen auf, und auch die durch das Leben der einzelnen Menschen entstandenen Sinngehalte sind nicht vollständig durch jene Bedeutungen auszudrücken, die lebensfremde, entfremdete Beziehungen widerspiegeln: Das macht es schwer, diese Tatbestände vollständig zu erfassen.

Die ständig reproduzierte Nichtübereinstimmung von persönlicher Sinnbildung und den ihnen gegenüber "indifferenten" Bedeutungen, über die allein der Mensch sich selbst ausdrücken kann, ist der Grund für die Desintegration und Inadäquatheit des menschlichen Bewußtseins.

LEONTJEW argumentiert an dieser Stelle, daß Menschen aus ihrem Verlangen nach einem wahren Leben bestrebt sind, die Desintegration ihres Bewußtseins zu überwinden.

"Um diese Erscheinung zu überwinden, gilt es die objektiven Bedingungen, die sie entstehen lassen, praktisch zu verändern. (...) Genauer gesagt: Diese Erscheinung kann nur beseitigt werden, indem sich das Bewußtsein vom realen Leben absetzt oder indem ein aktiver Kampf gegen diese Verhältnisse geführt wird" (LEONTJEW, PEP 251) und neue, adäquatere Bedeutungen und Bedeutungssysteme erarbeitet werden.

Aus heutiger Sicht ist diese Äußerung nicht als geschichtlicher Automatismus mißzuverstehen, auch wenn bei LEONTJEW ein solches Verständnis vorzuliegen scheint und im Kontext zum Ausdruck kommt.

Das Verhältnis von persönlichem Sinn und objektiver Bedeutung ist die Hauptkomponente der inneren Struktur des menschlichen Bewußtseins.

Auch in der besonderen Lebenslage der Wohnungslosen haben die angeeigneten Bedeutungen die Funktion, ihre individuelle Tätigkeit zu vermitteln und zu orientieren. Auch ihre persönliche Sinnbildung wird in den Bedeutungen ausgedrückt.

Es ist anzunehmen, daß aufgrund der spezifischen Umstände der Lebenslage Wohnungsloser die angeeigneten Bedeutungen in besonderem Maße nicht adäquat sind, persönlichen Sinn zu verkörpern und Tätigkeiten zu orientieren. Auch der Prozeß der individuellen Bewältigung der Lebenslage wird aufgrund Desintegration des Bewußtseinsstruktur mit besonderen Schwierigkeiten verbunden

Möglicherweise entwickeln Wohnungslose eigene, lagebezogene Bedeutungen, "Fachausdrücke", die Situation angemessener sind.

4.4. PERSÖNLICHKEIT

Menschliche Tätigkeit und die von ihr erzeugten Prozesse und Formen psychischer Widerspiegelung - das menschliche Bewußtsein - vermitteln die Verbindungen zwischen dem Subjekt und der objektiven Realität. Bisher war immer vom einzelnen Menschen als einem Individuum die Rede. Hier schließt sich nun die Frage nach der Persönlichkeit des einzelnen Menschen an.

Die Frage nach dem Verständnis von Persönlichkeit in der tätigkeitstheoretischen Konzeption ist im Zusammenhang mit dieser Arbeit von besonderer Bedeutung: Im 2. Kapitel wird dargestellt, daß alle Konzepte, die versuchen, Merkmale in der Persönlichkeitsstruktur Wohnungsloser zur Ursache für ihre Lebenslage zu erklären, als gescheitert anzusehen sind. Mehr noch, diese Konzepte haben zu unkontrollierbaren Zuschreibungen solcher Merkmale geführt. Diese Zuschreibungen haben nachhaltige Folgen für den gesellschaftlichen Umgang mit dem Problem Wohnungsloser und nicht zuletzt für die Betroffenen selbst.

Im allgemeinen wird Persönlichkeit als unwiederholbare Einheit, als Ganzheit verstanden. Der Persönlichkeit wird die Rolle der höchsten integrierenden Instanz der Steuerung psychische Prozesse zuerkannt. (Zur Diskussion der verschiedenen psychologischen Konzeptionen der Persönlichkeit vgl. LEONTJEW, TBP, 154-165.)

Nach LEONTJEW ist die Persönlichkeit zunächst als psychologische Neubildung zu verstehen. Sie wird in den Lebensbeziehungen des Subjekts infolge der Gestaltung seiner Tätigkeit, also aus dem Prozeß der "Selbstbewegung", geformt.

Das führt zur Position vom gesellschaftshistorischen Wesen der Persönlichkeit: Menschen treten als mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten begabte Individuen in die Gesellschaft ein, aber nur als Subjekte der gesellschaftlichen Beziehungen werden sie zur Persönlichkeit. Die Persönlichkeit der Menschen wird ebenso wie ihr Bewußtsein durch die Tätigkeit erzeugt.

(Vgl. LEONTJEW, TBP, 165-166)

Diese Position vom gesellschaftshistorischen Wesen der Persönlichkeit wird noch deutlicher bei der begrifflichen Unterscheidung von Individuum und Persönlichkeit. Dieser Umstand von besonderer Bedeutung für die Abgrenzung gegenüber Modellen, die der Persönlichkeit von vorneherein bestimmte Eigenschaften zuschreiben (Kapitel 2.) Deshalb gehe ich darauf ein.

4.4.1. INDIVIDUUM UND PERSÖNLICHKEIT

Das Individuum ist Produkt des Prozesses der biologischen Evolution - die Entwicklung des Lebens, - der Wechselwirkung mit der Umwelt. Es weist eine spezifische physische Konstitution, ein bestimmtes Nervensystem, verschiedene dynamische Kräfte der biologischen Bedürfnisse und Affekte und viele andere Merkmale auf, die im Laufe der ontogenetischen Entwicklung teils weiterentwickelt, teils unterdrückt wurden, sich vielfach verändern.

Die Persönlichkeit dagegen ist ein spezifisch menschliches Gebilde, sie wird durch die gesellschaftlichen Beziehungen geschaffen, die das Individuum in seiner gegenständlichen Tätigkeit eingeht.

Sowohl dem Individuum als auch der Persönlichkeit kommt die Funktion zu, jene Prozesse zu integrieren, die die Lebensbeziehungen des Subjekts verwirklichen. Beide Begriffe drücken die Einheit des Lebensvollzugs aus.

Die Unterscheidung von Individuum und Persönlichkeit ergibt sich aus der Natur jener Beziehungen, die sie erzeugen. Das Individuum erwirbt, wenn es in der Gesellschaft zu handeln beginnt, neue, systembedingte Eigenschaften, die die tatsächliche Charakteristik der Persönlichkeit bilden. Die Voraussetzungen der Persönlichkeitsentwicklung sind an und für sich unpersönlich.

Über welche besonderen Merkmale das Individuum auch verfügen mag, sie sind nur Voraussetzungen seiner Entwicklung, die aufhören, das zu sein, was sie der Möglichkeit nach "an sich" waren. Die Entstehung der Persönlichkeit als einer besonderen Einheit ist weitaus mehr als die bloße Anreicherung des Individuums mit bereits existierenden gesellschaftlichen Erfahrungen.

Der Zugang zur Persönlichkeit ergibt sich demnach in der Untersuchung des Aufbaus, der Verknüpfung und jener Veränderungen der Tätigkeiten des Subjekts im System gesellschaftlicher Beziehungen, die zur Herausbildung seiner Persönlichkeit führen.

(Vgl. LEONTJEW, TBP, 166-174.)

4.4.2. TÄTIGKEIT UND PERSÖNLICHKEIT

Grundlage der Persönlichkeit ist die Gesamtheit der gegenständlichen und sozialen Beziehungen des Menschen zur Welt, die durch die Gesamtheit der vielfältigen Tätigkeiten der Menschen realisiert wird.

Die Tätigkeiten sind die "Ausgangs"einheiten der psychologischen Analyse der Persönlichkeit.

Handlungen, Operationen, oder die erworbenen Fertigkeiten, Fähigkeiten oder Kenntnisse charakterisieren die Tätigkeit, aber nicht unmittelbar die Persönlichkeit. Außerdem verändert die Entwicklung der Persönlichkeit die Bedeutung dieser Voraussetzungen selbst radikal.

Auf der Ebene des Individuums existieren Zusammenhänge zwischen den Tätigkeiten, die ihre Grundlage in der Einheit des Subjekts haben. Hier sind sie unmittelbar durch die allgemeinen und individuellen, die angeborenen und im Leben erworbenen Eigenschaften des Subjekts bestimmt. Mit der Entwicklung des Subjekts entwickeln und vermehren sich auch seine Tätigkeiten. Die Tätigkeiten gehen dann hierarchische Beziehungen ein. Diese hierarchischen Beziehungen der Tätigkeiten sind es, welche die Persönlichkeit charakterisieren. Merkmal der hierarchischen Beziehungen der Tätigkeiten ist ihre "Ungebundenheit" gegenüber den Zuständen des Organismus.

Der Kern der Persönlichkeit wird nach LEONTJEW durch die Tätigkeitshierarchien gebildet, die durch die eigene Entwicklung der Tätigkeit erzeugt werden.

Mit der Entwicklung und der Vermehrung der Tätigkeiten erfolgt ihre Zentrierung um einige Haupttätigkeiten, die sich die anderen unterordnen.

Die Entwicklung der Tätigkeit ist nicht von der Entwicklung des Bewußtseins zu trennen. Aber das Bewußtsein bildet nicht die Grundlage der Persönlichkeit. Das Bewußtsein vermittelt sozusagen den Entwicklungsprozeß der Persönlichkeit.

Der Persönlichkeit liegen Beziehungen der Koordinierung der menschlichen Tätigkeit zugrunde. Diese koordinierten Beziehungen werden durch den Entwicklungsprozeß der Tätigkeit erst erzeugt werden. Die Korrelation der Tätigkeiten ist eine Korrelation der Motive, auf die die Tätigkeiten gerichtet sind.

Die Analyse der Motive, ihrer Entwicklung, ihrer Umgestaltung und ihrer Fähigkeit zur Aufspaltung von Funktionen ist der nächste Schritt der Analyse der Persönlichkeit. (Vgl. LEONTJEW, TBP, 174-180.)

4.4.3. MOTIV - BEDÜRFNIS, EMOTION

Jedes Motiv einer Tätigkeit entspricht einem Bedürfnis. Das Individuum wird als bedürftiges geboren. Die Bedürftigkeit ist innere Bedingung, notwendige Voraussetzung der Tätigkeit, ein Mangelzustand des Organismus, der an sich nicht imstande ist, eine bestimmte gerichtete Tätigkeit hervorzurufen.

Erst die Begegnung mit einem entsprechenden Gegenstand verleiht der Bedürftigkeit die Fähigkeit, die konkrete Tätigkeit des Subjekts zu steuern und zu regulieren. Erst diese Begegnung erzeugt das konkrete Bedürfnis. Das Bedürfnis wird gegenständlich, der Gegenstand erfüllt eine tätigkeitsausrichtende und die Tätigkeit initierende Funktion. Der Gegenstand wird zum Motiv.

Sobald das Subjekt zu handeln beginnt, erfolgt die Transformation des Bedürfnisses: Die Voraussetzung der Tätigkeit verwandelt sich in ihr Ergebnis. Bedürfnisse werden durch die Gegenstände in dem Prozeß der Konsumption transformiert.

Menschliche Bedürfnisse werden durch die Entwicklung der Produktion erzeugt, Produktion ist gleichzeitig Konsumption, die die Bedürfnisse schafft. Konsumption wird durch das Bedürfnis am Gegenstand vermittelt.

In diesem Prozeß fungiert der Gegenstand als ideelles, innerlich stimulierendes Motiv.

Neben den Bedürfnissen, deren Befriedigung die notwendige Voraussetzung für das Aufrechterhalten der physischen Existenz ist, entstehen bei den Menschen Bedürfnisse, die keinerlei Entsprechung bei den Tieren haben. Bei der Herausbildung neuer Bedürfnisse und Bedürfnistypen entstehen zwischen den Bedürfnissen neue Beziehungen.

Zunächst handelt der einzelne Mensch für die Befriedigung seiner elementaren, vitalen Bedürfnisse. Dann befriedigt er seine elementaren, vitalen Bedürfnisse, um zu handeln. Dahinter offenbart sich die Entwicklung des gegenständlichen Inhalts der Bedürfnisse, also die Entwicklung der konkreten Motive der menschlichen Tätigkeit.

Die infolge der spezifisch menschlichen Produktionstätigkeit erfolgende Transformation der Bedürfnisse der Menschen umfaßt ihren gesamten Bereich. Es gibt nach LEONTJEW (Vgl. TBP, 186) keine Schichtung der Bedürfnisse nach ihrer Nähe zu den elementaren Bedürfnissen.

(Vgl. LEONTJEW, TBP, 181-187.)

Emotionen haben die Funktion innerer Signale. Sie spiegeln die Beziehungen der Motive zum Erfolg oder der Möglichkeit der erfolgreichen Realisierung der den Motiven entsprechenden Tätigkeit des Subjekts wider.

Emotionen sind das Ergebnis einer Differenzierung zwischen den objektiven Merkmalen des Inhalts der Tätigkeit und der Beziehung dieses Inhalts zu den Bedürfnissen der Subjekte.

Emotionen sind die unmittelbar-sinnliche Widerspiegelung im Erleben. Sie entstehen, bevor der Mensch seine Tätigkeit auf der Bewußtseinsebene wertet. Emotionen sind tätigkeitsrelevant, d.h. auf seine Motive und nicht auf seine Ziele oder Bedingungen bezogen: Ein und dieselbe Handlung kann, wenn sie unterschiedliche Tätigkeiten realisiert, eine unterschiedliche emotionale Färbung erhalten. (Vgl. LEONTJEW, TBP, 188-190.)

Motive werden vom Subjekt meist nicht aktuell erfaßt. Sie werden aber in der Form der emotionalen Färbung der Handlungen psychisch widergespiegelt. Subjektiv äußern sie sich als Erleben des Wünschens und Wollens, des Strebens nach einem Ziel. Mit anderen Worten: In indirekter Form. Zum Bewußtwerden der tatsächlichen Motive seiner Tätigkeit gelangt der einzelne Mensch nur durch einen "Umweg".

Die Beziehungen zwischen den Motiven werden durch die sich entwickelnden Zusammenhänge der Tätigkeiten des Subjekts und ihre Vermittlungen auf der Ebene des Bewußtseins bestimmt. Von daher sind sie relativ. (Vgl. LEONTJEW, TBP, 194-196.)

4.4.4. DIE ENTWICKLUNG DER PERSÖNLICHKEIT

Die prinzipielle Struktur der Tätigkeit realisiert eine zweifache Beziehung - eine gegenständliche und eine Sozialbeziehung. Aus diesem Doppelcharakter der Tätigkeit ergeben sich ineinander übergehende Entwicklungslinien in den Beziehungen zu den Menschen und den Beziehungen zu den Dingen. Von diesen Übergängen werden auch die Veränderungen der Motive charakterisiert: Es entstehen die hierarchischen Motivverbindungen, die nach LEONTJEW die "Knotenpunkte" für die Persönlichkeit darstellen.

Der Mensch lebt in einer Wirklichkeit, die sich ihm gleichsam ständig erweitert. Es sind zunächst die ihn unmittelbar umgebenden Menschen und Gegenstände, die Wechselwirkung mit ihnen, ihre sinnliche Wahrnehmung, die Aneignung von Bekanntem über sie, die Aneignung von Bedeutungen. Dann erweitert sich ihm die Wirklichkeit weit über den Kreis seiner praktischen Tätigkeit und seiner direkten Kommunikation hinaus.

Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe fungieren manche Motive erst nur als mögliche, gewußte Motive, die real noch keine Handlungen initiieren. Hinzu kommt die Entwicklung der Zielbildungen und der Handlungen des Subjekts.

Die Handlungen des Subjekts werden immer reicher, sie wachsen über den Kreis der Tätigkeiten hinaus, die sie realisieren können und können in Widerspruch zu den Motiven geraten. Daraus ergibt sich eine Verschiebung der Motive auf Ziele, eine Änderung der Hierarchie der Motive. Neue Motive können entstehen und neue Tätigkeitsarten, Handlungen können in Operationen umgewandelt werden, die wiederum andere Handlungen realisieren können usw.

Die Beziehungen des Subjekts zur Welt werden immer um fassender, sie beginnen sich zu überlagern. Die psychische Widerspiegelung, das menschliche Bewußtsein kann die einen oder anderen Handlungen des Subjekts schon nicht mehr nur orientieren.

Im Prozeß der Widerspiegelung muß vom Subjekt auch aktiv die Hierarchie der Beziehungen, das Unter- und Umordnen der Motive erfaßt werden. In dieser Bewegung entsteht ein System von persönlichen Bedeutungen, diese Bewegung ist Ausdruck der Entstehung von Persönlichkeit. (Vgl. LEONTJEW, TBP, 199-203.)

Zu der sich dem einzelnen Menschen ständig erweiternden aktuellen Wirklichkeit gehören auch Vergangenheit und Zukunft.

Frühere Eindrücke, Ereignisse und die eigenen Handlungen werden für das Subjekt Gegenstand seiner Beziehungen, seiner Handlungen. Vergangenes verschwindet oder verliert seinen Sinn und wandelt sich in eine einfache Bedingung seiner Tätigkeit, bestimmt lediglich ihre Art und Weise in Form von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensstereotypen. Anderes erhält neue Bedeutung oder wird vom Subjekt aktiv abgewiesen, hört psychologisch auf zu existieren, verbleibt aber im Gedächtnis.

Die Wirklichkeitserweiterung erfolgt auch in Richtung auf die Zukunft. Zukunft ist nicht nur "antizipierende Widerspiegelung", sondern auch Besitz des Menschen. Auch sie gestaltet seine Persönlichkeit.

Ein weiteres wichtiges Kriterium der Persönlichkeit ist der Hierarchiesierungsgrad der Tätigkeiten, der Motive. Motivhierarchien existieren immer und bilden relativ selbständige Lebenseinheiten der Persönlichkeit. Das allgemeine "psychologische Profil" der Persönlichkeit wird bestimmt aus den inneren Wechselbeziehungen der hauptsächlichen Motivationslinien in der Gesamtheit der Tätigkeit eines Menschen.

Ein hoher Hierarchisierungsgrad der Motive zeigt sich darin, daß ein Mensch seine Handlungen gleichsam an dem für ihn wichtigsten Haupt- oder Leitmotiv mißt. Auf der anderen Seite kann sich unter bestimmten Bedingungen eine "Armut der Persönlichkeit" mit der Befriedigung eines breiten Kreises von Alltagsbedürfnissen verbinden, was für LEONTJEW (TBP, 211) die besondere Gefahr der modernen Konsumgesellschaft ist.

Die vielfältigen Beziehungen, die der Mensch mit der Wirklichkeit eingeht, sind objektiv widersprüchlich. Das führt zu Konflikten, die unter bestimmten Bedingungen fixiert werden (vgl. 4.3.5. Desintegration der Bewußtseinsstruktur) und in die Persönlichkeitstruktur eingehen.

Persönlichkeit entsteht in den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen durch die Gesamtheit der Tätigkeit des einzelnen Menschen, der seine Beziehungen zur Welt

Die Entwicklung der Persönlichkeit ist individuell und unwiederholbar.

Der Reichtum und der Umfang der Beziehungen der Subjekte zur Welt unterscheidet auch die einzelnen Menschen. Der Kreis der Tätigkeiten kann sich im Verlauf der individuellen Entwicklung aber nicht nur erweitern, er kann auch verarmen. In Umfang und Breite der Beziehungen der Menschen zur Welt kommen nicht nur quantitative, sondern auch qualitative, inhaltliche Unterschiede zum Ausdruck: Jene gegenständlichen und sozialen Beziehungen, die durch die objektiven Bedingungen der Epoche, Klasse, Nation usw. bestimmt werden.

Die Entwicklung der Persönlichkeit verläuft völlig unterschiedlich je nach den konkreten Bedingungen, nach der Zugehörigkeit des einzelnen Menschen zu dem einen oder dem anderen Milieu, der einen oder anderen Klasse. Das bedingt in gewisser Weise von Anfang an die Möglichkeiten der Entwicklung der Beziehungen des einzelnen Menschen zur Welt, den Umfang seiner praktischen Tätigkeit, seines Umgangs, seines Wissens, der angeeigneten Verhaltensnormen usw. Nichtsdestotrotz können die Beziehungen des Subjekts zur Welt ärmer als auch weitaus reicher sein als diejenigen, die durch die objektiven Bedingungen vorgegeben werden.

Die tätigkeitstheoretische Konzeption nach LEONTJEW ermöglicht es, zumindest drei grundlegende Parameter der Persönlichkeit hervorzuheben:

Den Umfang der Beziehungen zur Welt, ihren Hierarchisierungsgrad und ihre allgemeine Struktur.

Die Persönlichkeit wird als eine neue Qualität betrachtet, die durch die Bewegung des Systems der objektiven gesellschaftlichen Beziehungen erzeugt wird und die in die Tätigkeit der Subjekte eingebunden ist, sie "gilt als das, was der Mensch aus sich macht, indem er sein menschliches ( im Original, der Verf.) Leben bewältigt." (LEONTJEW, TBP 213).

(Vgl. LEONTJEW, TBP, 197-218).

4.5. ZUSAMMENFASSUNG

Die Gesamtheit der Tätigkeiten eines menschlichen Subjekts realisiert seine Beziehungen zur objektiven, gesellschaftlichen Realität.

Es sind stets konkrete, gegenständliche Tätigkeiten, die sich durch das jeweilige, einem bestimmten Bedürfnis entsprechende Motiv unterscheiden und die durch zielgerichtete Handlungen und den Bedingungen entsprechende Operationen verwirklicht werden.

Das System der Tätigkeiten des Subjekts ist durch ständige Veränderung, Entwicklung und Umgestaltung all seiner Komponenten gekennzeichnet. Mit dieser Bewegung im System der Tätigkeiten verändern sich auch gegenständlichen und sozialen Beziehungen im Leben des Menschen.

Die Tätigkeit des Subjekts wird durch die Prozesse der psychischen Widerspiegelung, das menschlichen Bewußtsein, vermittelt.

Dem Menschen erschließt sich die objektiv gesellschaftliche Wirklichkeit mittels der Aneignung, Beherrschung und des Umgangs mit dem System der sprachlichen Bedeutungen.

Auch der persönliche Sinn des einzelnen Menschen drückt sich in den von ihm angeeigneten und von ihm neu geschaffenen Bedeutungen aus.

Als Inhalt des gesellschaftlichen Bewußtseins bilden die Bedeutungen die Wirklichkeit entsprechend den Interessen der jeweils herrschenden Klasse oberflächlich, einseitig und damit auch oft verzerrt und entstellt ab.

Der persönliche Sinn eines Menschen kann sich in diesen Bedeutungen nicht adäquat verkörpern. Das ist der Grund für eine Desintegration der menschlichen Bewußtseinsstruktur.

Die Persönlichkeit eines Menschen ist ein gesellschaftshistorisches Produkt: Menschen - mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestatte Individuen - werden als Subjekte ihrer gesellschaftlichen Beziehungen zur Persönlichkeit.

Mit der Entwicklung der Tätigkeiten erfolgt die Entwicklung der Persönlichkeit. Die tätigen Beziehungen der Menschen umfassen im Verlauf ihrer Entwicklung einen immer größeren Teil der Realität, zu der auch Vergangenheit und Zukunft gehören.

Motivationshierarchien entstehen, die Entwicklung der Persönlichkeit ist individuell und unwiederholbar und verläuft entsprechend den konkreten Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht. Die konkreten Bedingungen bestimmen die Möglichkeiten der Entwicklung der Persönlichkeit, auch wenn die tatsächlich realisierten Beziehungen weitaus ärmer wie auch weitaus umfangreicher als durch die objektiven Bedingungen vorgegeben sein können.

Es mag den Anschein haben, daß die Ausflüge in die "klassischen" Themen der Psychologie, "Bewußtsein" und "Persönlichkeit" zu weit weg führen von der Frage nach den "individuellen Tätigkeiten" Wohnungsloser. Dem halte ich entgegen: Gerade der innere Zusammenhang von Tätigkeit und Persönlichkeit zeigt die Perspektive, die sich aus der gewählten Herangehensweise - der Beobachtung der individuellen Tätigkeiten Wohnungsloser - eröffnet.

Diese Perspektive ist besonders bedeutsam auf dem Hintergrund bestehender Modelle, die "Nichtseßhaftigkeit" im Sinne eines Merkmals der Persönlichkeit Wohnungsloser zuschreiben.

Die Arbeit verfolgt nicht das Ziel, den bestehenden Modellen ein neues hinzuzufügen. Trotzdem zeichnet sich ab, daß die Frage nach der Persönlichkeit Wohnungsloser aufgrund der dargestellten Konzeption völlig anders zu beantworten ist. 


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