Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte. Gesellschaftliche Bedingungen und individuelle Tätigkeiten am Beispiel der Besucher der Wärmestube Warmer Otto in Berlin Moabit. Berlin 1989 (=Diplomarbeit am Fachbereich 22 Erziehungswissenschaften der TU Berlin)

3. GESELLSCHAFTLICHE BEDINGUNGEN

3.1.     ARMUT
3.2.     ARBEIT
3.3.     WOHNEN
3.4.     STAAT
3.5.     WOHNUNGSVERLUST
3.6.     AKTUELLE TENDENZEN
3.7.     ZUSAMMENFASSUNG


3. GESELLSCHAFTLICHE BEDINGUNGEN

Um es vorwegzunehmen: Armut, die sich unter anderem in der Situation der Menschen zeigt, die ohne Wohnung leben (müssen), wird in unserer Gesellschaft genauso produziert wie der ungeheuere Reichtum, der sich in den Villen, Kaufhallen, Fabriken usw. und vor allem auf den Konten stapelt.

Fünf Kategorien, die im Zusammenhang zu sehen sind, scheinen mir hierbei zentral zu sein, um das zeigen zu können:

Erstens: Armut und worin ihre Ursachen zu sehen sind.
Zweitens: Arbeit.
Drittens: Wohnen.
Viertens: Der Staat und seine Intervention, vor allem in Bezug auf Arbeit und Wohnen.
Fünftens: Wohnungsverlust.

Im Rahmen dieser Arbeit beschränke ich mich auf die Darstellung der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die hier von Bedeutung sind. Mit diesen fünf Kategorien ist gesellschaftliche Realität selbstverständlich nicht voll ständig gefaßt, und die Darstellung selbst bleibt auf einer noch sehr allgemeinen Ebene. Im weiteren verzichte ich auch bewußt auf Zahlenbelege und verweise auf die angegebene Literatur.

Trotzdem meine ich, konkret genug zu werden, um aus dieser Darstellung gesellschaftlicher Bedingungen und dem darauffolgenden Kapitel, wo von den individuellen Voraussetzungen die Rede sein wird, forschungsleitende Fragestellungen entwickeln zu können. Die hier gemachten Einschränkungen sind dann später bei der Bewertung des Ergebnisses der Arbeit zu berücksichtigen.

Zum Schluß dieses Kapitels gehe ich auf aktuelle Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklung, insbesondere den Bereich Armut betreffend, ein und fasse die Ergebnisse dieser Darstellung zusammen.

3.1. ARMUT

Die meisten Autoren in der Bundesrepublik Deutschland, die sich mit dem Thema mit Armut beschäftigen, verstehen darunter Einkommensarmut (vgl. ROHRMANN 1987, 33). Zwischen verschiedenen Graden und Ausprägungen wird unterschieden, so zum Beispiel zwischen "absoluter" und "relativer" Armut. Demzufolge ist derjenige als absolut arm anzusehen, dessen Einkommen unter der Grenze liegt, die als "physisches Existenzminimum" angenommen wird. Relativ arm ist, wessen Einkommen weniger als 40%, 50% oder 60% des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens beträgt.

Diese Ansätze sind in verschiedener Hinsicht problematisch und somit unbrauchbar:

Zum einen ist nicht einsichtig, wieso eine bestimmte, definierte absolute oder relative Einkommensgrenze plausibler sein soll als irgendeine andere. Zum anderen: Prozesse wie die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums oder gesamtgesellschaftliche Verarmung können mit diesem Instrumentarium kaum angemessen dargestellt und nur unzureichend theoretisch gefaßt werden.

Andere Autoren definieren die Sozialhilferegelsätze als Armutsgrenze (GEISSLER 1980, 27ff; HARTMANN 1981, 24). Ein solches Verfahren zur Bestimmung von Armut er scheint zunächst als einsichtig, ist aber insofern unbrauchbar, da der Sozialhilfesatz ein Ergebnis politischer Entscheidungen ist und keine objektive Größe darstellt. Mit einer Anhebung der Sozialhilfesätze ändert sich die Armutsgrenze und im Resultat steigt die Anzahl der Armen. Andererseits stellt sich der scheinbare Erfolg einer Sozialpolitik, die die Sozialhilfe kürzt, dadurch ein, daß mit der sinkenden Armutsgrenze auch die Zahl der Armen abnimmt, was tatsächlich nicht der Fall ist.

Nach einem anderen Ansatz bedeutet in der bestehenden Gesellschaft bereits die Existenz als Lohnarbeiter Armut: "Die Arbeit als die absolute Armut: Die Arbeit nicht als Mangel, sondern als völliges Ausschließen des gegenständlichen Reichtums." (MARX, MEW 42, 217).

3.2. ARBEIT

3.2.1. ARBEITSKRAFT ALS WARE

Die in unserer Gesellschaft bestehende kapitalistische Produktionsweise ist hauptsächlich eine Warenproduktion. Sie vollzieht sich unter der Bedingung, daß Arbeit und Produktionsmittel voneinander getrennt sind. Diese Trennung ist ein Ergebnis der historischen Entwicklung der Gesellschaft, was an dieser Stelle nicht weiter von Interesse ist.

Alle Arbeit ist Verausgabung von menschlicher Arbeitskraft. In dieser Eigenschaft produziert sie Gebrauchswerte. Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des gesellschaftlichen Reichtums (vgl. MARX, MEW 23, 50 und 61). Weil nun die freien Arbeiter von den Produktionsmitteln getrennt sind, wird die Arbeitskraft zur Ware.

In einem regulären Warentausch kauft der Eigentümer an Produktionsmitteln die Ware Arbeitskraft und wendet sie an. Gleich allen anderen Waren hat die Ware Arbeitskraft einen Wert, den der Lohnarbeiter auch erhält. Im Unterschied zu anderen Waren hat die Ware Arbeitskraft die eigentümliche Besonderheit, selbst Quelle von Wert zu sein.

Der Eigentümer an Produktionsmitteln bezahlt dem Arbeiter den Wert der Ware Arbeitskraft, wendet aber ihren Gebrauchswert an. Das sind zwei verschiedene Sachen. Die Differenz von beidem, also die Zeit, die der Arbeiter mehr arbeitet als seine Arbeitskraft wert ist, verbleibt in der Form von Mehrwert in den Händen des Käufers, der ja die Arbeitskraft gekauft hat.

Aus dem Mehrwert noch mehr Wert zu machen, die Verwertung von Mehrwert ist der Ausgangspunkt kapitalistischer Produktion. Dieser Prozeß nennt sich Akkumulation. Für den freien Lohnarbeiter heißt das: Er produziert allen Reichtum, aber er verfügt nicht über ihn. Um sich zu ernähren, kleiden, wohnen und für Kinder sorgen zu können (die Bezeichnung für alle diese Tätigkeiten ist Reproduktion, Re-produktion), ist der freie Lohnarbeiter, der ja nichts besitzt an Produktionsmitteln, gezwungen, seine Ware Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten und zu verkaufen.

3.2.2. DER WERT DER WARE ARBEITSKRAFT

Der Wert der Ware Arbeitskraft ist bestimmt, wie bei allen anderen Waren auch, durch die Kosten, die zu ihrer Herstellung (Reproduktion) notwendig sind. Diese Kosten orientieren sich an den gesellschaftlich durchschnittlichen Kosten.

Bei der Ware Arbeitskraft umfassen sie Nahrung, Heizung, Kleidung, Wohnung usw. Und sie sind abhängig von den klimatischen und geographischen Eigenheiten eines Landes. Dabei "ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes (...) ab." (MARX, MEW 23, 185).

Da diese beiden Größen, MARX nennt sie das historische und das moralische Element, veränderbar sind, ist hier ein Unterschied in der Wertbestimmung im Vergleich mit anderen Waren. Diese Möglichkeit der Beeinflussung des Wertes der Ware Arbeitskraft kommt beispielsweise in Arbeitskämpfen zum Ausdruck.

Zwar sind Lohnarbeiter vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen, haben aber, wenn sie die Ware Arbeitskraft verkaufen, einen Zugang zu ihm. Damit ist es ihnen möglich, sich zu reproduzieren, d.h. den Lebensunterhalt für sich und eventuell auch für Familienmitglieder sicherzustellen, mehr nicht. So gesehen ist die Armut der Lohnarbeiter nicht "Mangel". Sie umfaßt ein für die Klasse der Lohnarbeiter durchschnittliches Niveau der Reproduktion. Armut in einem engeren Sinne bedeutet sehr wohl Mangel und ergibt sich ebenfalls aus dem Verkauf der Ware Arbeitskraft.

Zwei Ergänzungen sind zu machen:

Erstens: Die Kosten, die den Wert der Ware Arbeitskraft bestimmen, sind gesellschaftliche Durchschnittskosten und gleichgültig gegenüber besonderen Lebensumständen (z.B. große Familie).

Zweitens: Lohnarbeiter und Eigentümer von Produktionsmitteln treten sich als juristisch gleiche Personen gegenüber. Diese wechselseitige Anerkennung als Eigentümer (von Arbeitskraft und Produktionsmitteln) hat zur Folge, daß der Tauschakt zwischen beiden nur für einen befristeten Zeitpunkt gilt und immer wieder aufs neue vollzogen werden muß. Ist der Eigentümer an Produktionsmitteln nicht mehr gewillt, diesen Vertrag fortzusetzen, sind die Folgen für den Lohnarbeiter fatal: Er muß seine Arbeitskraft anderswo verkaufen. Gelingt ihm dies nicht, ist er arbeitslos.

3.2.3. DIE ÖKONOMISCHE VERWERTUNG DER WARE ARBEITSKRAFT - KAPITALISTISCHE AKKUMULATION

Zweck des Kapitals ist die beständige Verwertung von Mehrwert, kurz: die Akkumulation. Daraus resultiert die Notwendigkeit, Akkumulation und Produktion beständig auszuweiten. Zunächst äußert sich dies in einer wachsenden Nachfrage nach Arbeitskräften. Im Fortschreiten der Akkumulation und der sich ergebenden Konzentration schlägt das ins Gegenteil um.

Das geht so: Im Verhältnis zu den maschinellen Bestandteilen der Produktion werden durch den Einsatz neuer technischer Produktionsverfahren immer weniger Arbeitskräfte benötigt. Dieser Prozeß vollzieht sich in den Krisen und Zyklen der Konjunktur. Dabei wird auch das produziert, was MARX "relative Übervölkerung" nennt. D.h. Arbeitskräfte stehen zwar bereit, werden aber nicht oder nicht mehr im Produktionsprozeß verwertet.

Je nach Bedarf von Akkumulation und Produktion bietet diese "industrielle Reservearmee" (MARX 23, 657) dem Kapital eine ausreichende Anzahl an möglichen Arbeitskräften. Die beispielsweise auch immer wieder von den Gewerkschaften erhobene Forderung nach Ausweitung und Steigerung der Produktion kann die Beseitigung des Problems der industriellen Reservearmee nicht sein:

Die Konsequenz des allgemeinen Gesetzes kapitalistischer Produktion ist, "daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß.

(...) Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf der Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert." (MARX, MEW 23, 675).

Der Verweis darauf, daß es früher noch sehr viel schlechter um die Lage der Lohnarbeiter bestellt war als sie heute ist, verschleiert die wahren Zusammenhänge. Einerseits hat sich an dem Ausbeutungsverhältnis nichts geändert: Es besteht bis heute, wenn auch in vielfach veränderter Form.

Andererseits ist Reichtum immer als eine Größe zu betrachten, die ein Verhältnis ausdrückt. D.h., bei der Betrachtung der Veränderung der Lage der

Lohnarbeiter ist immer mit zu sehen, welche Entwicklung der von den Eigentümern an Produktionsmitteln angeeignete gesellschaftliche Reichtum genommen hat.

3.2.4. DAS REPRODUKTIONSRISIKO

"Nicht als selbst Wert, sondern als die lebendige Quelle des Werts" (MARX, MEW 42, 217) verwirklicht sich die Arbeit für den Lohnarbeiter nur dann, wenn es ihm gelingt, seine Arbeitskraft auch wirklich zu verkaufen. Er muß die damit verbundenen Risiken seiner Lebenshaltung in Kauf nehmen. Dieses Risiko gilt für die ganze Zeit seiner Erwerbstätigkeit.

Worin dieses Reproduktionsrisiko im einzelnen besteht, sei an einigen Beispielen erläutert. Die ganze Diskussion um den Begriff des individuellen Reproduktionsrisikos und was darunter genau zu verstehen ist, kann an dieser Stelle nicht geführt werden.

Bereits in der Schule werden Kinder in Hinblick auf ihre spätere Nützlichkeit im Produktionsprozeß sortiert. Das gängige Mittel dabei ist die Konkurrenz. Schon in der vierten Klasse (in Berlin und einigen anderen Bundesländern in der sechsten Klasse) wird aufgrund von "Leistungen" geurteilt, wer auf die Haupt-, Realschule oder auf das Gymnasium gehen soll. Auch in der Gesamtschule gilt dieses Prinzip, wenn auch in verschleierter Form. Als "letzte Instanz" steht noch die Sonderschule bereit.

Selbstverständlich sind auch die Bedingungen, etwa die sozialen und insbesondere die familiären, unter denen ein Mensch heranwächst, mit von Bedeutung für seine Möglichkeiten der Entwicklung. Darauf werde ich später noch kurz eingehen.

Die schulische Qualifikation, also wer mit welchem Ergebnis in diesem Sortierungsverfahren abschneidet, ist ausschlaggebend für die Möglichkeiten der beruflichen Qualifikation. Zwar wird niemand auf ein bestimmtes Qualifikationsniveau oder einen bestimmten Beruf festgelegt, das Resultat ist jedoch stets das gleiche:

Das erreichte Qualifikationsniveau ist eine Aussage über die Nützlichkeit der Arbeitskraft im Verwertungsprozeß. (Qualifikationsrisiko).

Die Nachfragebedingungen auf dem Arbeitsmarkt bestimmen, ob der Lohnarbeiter seine Ware Arbeitskraft verkaufen kann oder nicht. Nicht jede angebotene Arbeitskraft wird gekauft, somit kann nicht jeder seine Reproduktion durch Lohnarbeit sicherstellen. Wem es nicht gelingt, auf Dauer seine Ware Arbeitskraft zu verkaufen, läuft Gefahr, aus der Arbeiterklasse herauszufallen.

Sein Reproduktionsniveau sinkt unter das der Arbeiterklasse. (Deklassierungsrisiko).

Dieser Prozeß der Deklassierung kann durchaus allmählich verlaufen und muß nicht in jedem Falle völlige Ausgrenzung zur Folge haben. Er beginnt mit der Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse.

Ein weiteres Risiko besteht darin, seine Arbeitskraft nicht entsprechend der Qualifikation verkaufen zu können oder im Laufe der Erwerbstätigkeit Arbeitskraft unter dem Niveau der Qualifikation verkaufen zu müssen. (Dequalifikationsrisiko). Da dequalifizierte und ungelernte Arbeitskräfte aufgrund des niedrigen Niveaus des Arbeitsplatzes wesentlich einfacher zu ersetzen sind, werden diese Arbeitskräfte auch wesentlich stärker vom Arbeitsverlust bedroht als andere.

Die Risiken der Reproduktion sind in der bestehenden Gesellschaft höchst ungleich verteilt. Die Klasse der Lohnarbeiter ist an sich auch nicht heterogen, sie ist keine einheitliche "graue Masse", die einzelnen Lohnarbeiter unterscheiden sich durchaus in Bezug auf Qualifikation, Lohnhöhe, Status usw. Das ist nicht zu vergessen, wenn bisher immer nur von Eigentümern an Produktionsmitteln und Lohnarbeitern die Rede war.

Diese vereinfachte Darstellung diente vor allem der Verdeutlichung der grundlegenden Zusammenhänge, die hier von Bedeutung sind. Andere Autoren beschäftigen sich explizit mit den Substrukturen der bestehenden gesellschaftlichen Klassen. Sie kommen zu der Feststellung, daß einzelne Gruppen dieser Klasse der Lohnarbeiter besonders stark vom Reproduktionsrisiko bedroht sind (vgl. OFFE/ HINRICHS 1977; BURA 1979, 80ff; FRANZ/ KRUSE/ ROLFF 1986).

Die Akkumulation des Kapitals reproduziert die materielle Unsicherheit auf Seiten des Lohnarbeiters langfristig und immer wieder aufs neue.

Mit Absicht ist hier immer von Lohnarbeit die Rede, da es auch andere Formen von Arbeit, nichtentlohnter Arbeit gibt. Einkaufen, Essen machen, Wäsche waschen, einen Haushalt führen, Kinder erziehen usw. sind solche Arbeiten. Viele Familien zerbrechen in der einen oder anderen Weise daran, daß all diese Arbeiten als Teil der Reproduktion noch neben den Bedingungen der Lohnarbeit zu leisten ist.

Der herrschende Sprachgebrauch, den auch ich benutze, ordnet, wie in der Praxis, die Lohnarbeiterinnen den Lohnarbeitern unter. Die Lohnarbeiterinnen sind aus verschiedenen Gründen noch in viel schärferer Form den Reproduktionsrisiken ausgesetzt, was ich hier aber nicht weiter ausführen will.

Grundsätzlich sind, wenn ich entsprechend dem Sprachgebrauch die männliche Form benutze, Frauen auch gemeint.

Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß es sich bei der Gruppe der Wohnungslosen fast ausschließlich um Männer handelt. Das hat vielfältige Gründe, die hier nicht diskutieren will. Im Zusammenhang dieser Arbeit gehe ich daher, um das ausdrücklich zu erwähnen, auf die spezifische Lage der Frauen nicht ein. Ich verweise aber mit Nachdruck auf Arbeiten und Untersuchungen zum Problemkreis der Lage wohnungsloser Frauen (WACHSMANN 1983; ROHRMANN/ RÜTTERS 1985; LANGER 1985). In diesen Arbeiten stellen die Autoren einen zunehmenden Anteil von Frauen in der Gruppe der Wohnungslosen fest.

Ein zentraler Bestandteil des Reproduktionsrisikos umfaßt den Bereich des Wohnens.

3.3. WOHNEN

3.3.1. DIE WOHNUNG ALS WARE

In der bestehenden Gesellschaft ist jeder selbst verantwortlich und zuständig für seine Versorgung mit Wohnraum. Die Wohnung ist dabei eine Ware. Im Unterschied zu anderen Waren geht sie nicht in das Eigentum des Nutzers über, sondern sie wird ihm für einen bestimmten Zeitraum vermietet. Mit anderen Worten: Der Mieter erwirbt mit der Zahlung der Miete, dem Kauf, nicht die Wohnung. Er erwirbt nur das Recht auf den zeitweiligen Gebrauch der Wohnung.

Es ist ein ganz normales Tauschgeschäft zwischen Vermieter und Mieter. Ein einfacher Warenverkauf mit der Besonderheit, daß die Wohnung Eigentum des Vermieters bleibt. Nur der Gebrauch der Wohnung wird verkauft.

Das Verhältnis Mieter - Vermieter ist ein ganz anderes Verhältnis Lohnarbeiter - Kapitalist. Im Produktionsprozeß ersetzt der Kapitalist dem Lohnarbeiter nur die zu seiner Reproduktion notwendigen Kosten. Darüberhinaus eignet er sich den in der Mehrarbeit geschaffenen Wert als Mehrwert an und verwertet ihn.

Im Tausch Wohnung gegen Miete wird nur bereits gezeugter Wert übertragen, es wird kein neuer Wert geschaffen. Insofern ist das Mietsverhältnis keineswegs mit dem Verhältnis von Lohnarbeiter und Kapitalist zu vergleichen. Trotzdem ist dieses Verhältnis vorausgesetzt:

"Der Mieter - selbst wenn er ein Arbeiter ist - tritt als vermögender ( i . O., der Verf.) Mann auf, er muß seine ihm eigentümliche Ware, die Arbeitskraft, schon verkauft haben, um mit ihrem Erlös als Käufer des Niesbrauchs einer Wohnung auftreten zu können (ENGELS, MEW 18, 216).

3.3.2. DER WERT DER WARE WOHNRAUM - DIE ZUSAMMENSETZUNG DER MIETE

Der Wert der Ware Wohnraum bestimmt sich, wie bei allen anderen Waren auch, aus den Kosten, die zu ihrer Reproduktion notwendig sind. Diese Kosten orientieren sich an den gesellschaftlich durchschnittlichen Kosten.

Bei der Ware Wohnraum bestehen sie aus:

  • Den Kosten für das Grundstück (Bodenpreis).
  • Den Kosten für den Hausbau.
  • Den Kosten für laufende Reparaturen, Instandhaltung und Versicherungen.

Natürlich hat die Miete auch die Kosten "unbezahlter Mieten, sowie des gelegentlichen Leerstehens der Wohnung zu decken" (ENGELS, MEW 18, 217).

  • Der Verzinsung von eventuell ausgeliehenem Kapital.

Der Hausbesitzer finanziert die Kosten für Grundstückserwerb und Hausbau im voraus. Er erhält in der Miete eine anteilige, auf lange Zeit angelegte Rückzahlung. Zu der berechnet er für das Kapital, das er vorgeschossen hat, einen Zins. Der macht seinen Profit aus.

Der Verwertungszeitraum von Häusern und Wohnungen ist sehr lang. Selbst alte Häuser werden renoviert oder restauriert. Ein absoluter Verfall kommt selten vor. Der Gebrauchswert eines Hauses kann zudem auch abschnittsweise verkauft werden. Diese beiden Faktoren machen es schwierig, im Mietverhältnis auch nur ein normales Warengeschäft zu sehen (vgl. DRYGALA 1986, 64).

Der Grundstücks- oder Bodenpreis wird bestimmt durch die Grundrente, die der Eigentümer von Grund und Boden bei deren Verwertung erzielen kann.

"Die Grundrente ist (...) die Form, worin sich Grundeigentum ökonomisch realisiert, verwertet" (MARX, MEW 25, 632), "der Unterschied zwischen dem ursprünglichen Kostenpreis eines Hauses, Bauplatzes usw. und seinem heutigen Wert" (ENGELS, MEW 18, 282. Vgl. BURA 1979, ROHRMANN 1987).

Die Grundrente findet ihren Ausdruck im Bodenpreis und ist ein Bestandteil der Kosten, die bei der Herstellung von Wohnraum entstehen. Als variabler Faktor kann die Grundrente im Laufe der langfristigen Nutzung der Ware Wohnraum erheblich steigen.

Alle genannten Kosten bestimmen die Höhe der sogenannten Kostenmiete. Das ist die geltende Miete im Neubaubereich. Aus ihr wird auch die Miete für den Sozialen Wohnungsbau abgeleitet. Der Altbauwohnungsmarkt wird bestimmt von der Marktmiete. Auf der Grundlage der Kostenmiete wird die Marktmiete nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage auf dem "freien Wohnungsmarkt" ausgehandelt.

Berlin (West) bildete hier insofern lange Zeit eine Ausnahme, als daß die Mieten für Altbauwohnungen bis zum 31.12.1987 preisgebunden waren. Mit dem "Gesetz zur dauerhaften Verbesserung der Wohnungssituation im Land Berlin (West)" vom 14.7.1987 wurde diese Mietpreisbindung für Altbauwohnungen schrittweise aufgehoben.

3.3.3. DIE ÖKONOMISCHE VERWERTUNG DER WARE WOHNRAUM

Wohnungen werden nicht gebaut, um Wohnbedürfnisse zu befriedigen, es sei denn, jemand baut ein Haus oder läßt ein Haus bauen, um seine eigenen Wohnbedürfnisse zu realisieren. In allen anderen Fällen erfolgt die Produktion und Verteilung von Wohnungen - Mietwohnungen - aus Gesichtspunkten der Kapitalverwertung, Wohnungen sind Leihkapital in Warenform.

Wohnungsbau ist ein sehr kapitalintensives Geschäft. Die Bau- und Baunebenkosten sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Der Anteil von Fremdkapital, der in der Regel sehr hoch ist, macht Wohnungsvermietung nur dann zu einem sinnvollen Geschäft, wenn die Miete, die eingenommen wird, die Zinskosten auf das Leihkapital langfristig übertrifft (vgl. PETZINGER/RIEGE 1981).

Wie in allen anderen Bereichen kapitalistischer Produktionsweise auch, streben im Wohnungsbau die einzelnen Eigentümer von Kapital nach maximaler Verwertung ihres Kapitals. Dabei unterliegen sie einer Tendenz der durchschnittlichen Verwertung. Damit ist gemeint:

Jeder einzelne Eigentümer von Kapital ist bemüht, sein Kapital dort anzulegen, wo für ihn allein die größten und besten Verwertungsbedingungen bestehen. Das ist die maximale Verwertung von Kapital. Nun ist der einzelne Kapitalist nicht allein auf seinem Gebiet (von Monopolen einmal abgesehen), sondern er sieht sich Konkurrenten gegenüber, die mit ihrem Kapital exakt dasselbe Ziel verfolgen. Durch diese Konkurrenz sind die Verwertungsbedingungen für alle nur wieder durchschnittlich.

Genau das gleiche gilt auch für den Wohnungsmarkt. Kapital wird nur dann angelegt, wenn der Eigentümer des Kapitals damit rechnen kann, mindestens eine durchschnittliche Verwertung realisieren zu können. Ihn interessiert dabei keineswegs, ob das Resultat seiner unternehmerischen Tätigkeiten ein Überangebot oder ein Mangel an zur Verfügung stehendem Wohnraum ist. Dieses Resultat ist jedenfalls solange unerheblich, bis sich die durchschnittlichen Verwertungsbedingungen wieder ändern, etwa aufgrund einer steigenden oder sinkenden Nachfrage oder aufgrund anderer Faktoren.

Die Grundrente ist die Größe, die den Wert des Bodens in Abhängigkeit von den Möglichkeiten seiner Verwertung ausdrückt. Ganz maßgeblich wird von der Grundrente die Situation auf dem Wohnungsmarkt beeinflußt:

  • Wohnungsneubau.
    Immer höhergeschossige Mietshäuser werden gebaut, um die Grundrente durch mehr Etagen teilen zu können.
    Eine weitere sich daraus ergebene Tendenz ist die, mit Neubauten auf Grundstücke mit niedriger Grundrente auszuweichen. In der Regel sind dies Stadtrandgebiete Satellitenstädte am Stadtrand sind die Folge: Gropiusstadt, Märkisches Viertel ...

  • bestehender Wohnraum.
    Ein Altbau kann im Laufe seiner Verschleißdauer anscheinend mehrfach seinen ursprünglichen Preis einbringen. Das ist aber lediglich im Steigen der Grundrente begründet. Selbstverständlich wird die Steigerung der Grundrente anteilig auf die Miete umgelegt.

  • andere Verwertungsmöglichkeiten.
    Wohnungsvermietung ist nur eine von vielen Formen, Grund und Boden gewinnbringend zu nutzen.

Wohnungsvermietung wird dann und dort unattraktiv, wo mit einer anderweitigen Nutzung eine höhere Grundrente zu erzielen ist.

In einem solchen Fall stehen die vorhandenen, möglicherweise noch bewohnten Häuser auf dem Grundstück einer angemessenen Verwertung gleichsam im Wege. Die Kapitaleigentümer verfolgen dann das Interesse, die bestehenden Wohnhäuser zu beseitigen, um anschließend eine höhere Grundrente realisieren zu können.

Die wohnungsmarktpolitischen Konsequenzen sind: Die Exmietierung wird durchgesetzt, Leerstand, Zerstörung der Häuser oder planmäßiger Verfall, schließlich Abriß. Aus innerstädtischen Wohngebieten werden so Banken-, Verwaltungs- und Geschäftszentren.

Steigende Grundrenten drängen den Mietwohnungsbau immer weiter aus den Städten auf preiswerte Grundstücke am Stadtrand. Billiger Altbaubestand in den Innenstädten wird gleichzeitig vernichtet oder luxusmodernisiert und erreicht so enorme Mietpreise. Damit verändern sich gewachsene innerstädtische Wohn- und Lebensstrukturen radikal. Weil die derzeit durchsetzbaren Mieten an Höchstgrenzen gebunden sind, geht der Mietwohnungsbau zurück. Möglicherweise erfährt diese Tendenz in diesen Tagen eine Umkehr durch den verstärkten Zustrom von Bürgern der DDR.

Wie alle Wirtschaftszweige ist auch der Wohnungsbau ökonomischen Krisen und periodischen Schwankungen unterworfen (vgl. BREDE/ KOHAUPT/ KUJATH 1975).

"Wie ist nun die Wohnungsfrage zu lösen? In der heutigen Gesellschaft gerade wie eine jede andere gesellschaftliche Frage gelöst wird: durch die allmähliche ökonomische Ausgleichung von Nachfrage und Angebot, eine Lösung, die die Frage selbst immer wieder von neuem erzeugt, also keine Lösung ist." (ENGELS, MEW 18, 226). ENGELS übrigens stellt sich die Lösung dieses Problems so vor: "Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen." (ENGELS, MEW 18, 213).

3.3.4. WOHNEN ALS BESTANDTEIL DES REPRODUKTIONSRISIKOS

Wohnen ist Bestandteil des individuellen Reproduktionsrisikos. Um Wohnraum mieten zu können, ist bereits vor ausgesetzt, daß es dem Lohnarbeiter gelungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Selbst dann ist es aber nicht gewährleistet, daß es dem Lohnarbeiter gelingt, eine Wohnung zu finden, deren Gebrauch er kaufen kann.

Grund dafür ist, daß Wohnungen aus dem Interesse der Kapitalverwertung produziert werden und nicht, um eine umfassende Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum zu verwirklichen.

Welche Bedeutung kommt nun dem Staat zu, besonders in Bezug auf die Bereiche Arbeiten und Wohnen und den damit verbundenen Risiken der individuellen Reproduktion?

3.4. STAAT

Der Staat ist die politische Form der Vermittlung zwischen Ökonomie und Gesellschaft. Seine Einflußmöglichkeiten in der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft sind nur Zusammenhang mit den bestehenden Produktionsverhältnissen zu verstehen:

"Grundlegend sind die Abhängigkeit des politischen Apparates von dem in seinen Bewegungsmechanismen nicht kontrollierbaren Reproduktionsprozeß und die Schwierigkeit, immer nur regulierend, kompensatorisch oder repressiv-stabilisierend auf die Resultate des unmittelbaren Reproduktionsprozesses reagieren zu können"(HIRSCH 1974, 90).

3.4.1. STAATLICHE BEARBEITUNG GESELLSCHAFTLICHER PROBLEME

Der Staat ist nach dem oben gesagten keineswegs als einheitlicher Block der Herrschaftsausübung mißzuverstehen. Er ist schlechthin auch nicht Subjekt:

Staat ist ein komplexer Organismus der Herrschaft von Menschen über Menschen in Form institutionalisierter Beziehungen und institutionalisierter Gewaltausübung auf der Grundlage ökonomischer Verhältnisse. Es sind stets Menschen - mit unterschiedlichen Interessen und in komplexen Beziehungen zueinander stehend - die handeln, wenn vom Staat, von politischer Herrschaft, von der Ausübung von Staatsgewalt und staatlicher Intervention die Rede ist. Insofern ist der Staatsbegriff eine durchaus auch mißverständliche Abstraktion.

Zur Ausübung und Durchsetzung seiner Funktionen und in der Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme stehen dem Staat neben seinem politischen Apparat auch noch eine ganze Reihe nicht unmittelbar staatlicher Einrichtungen zur Verfügung.

HIRSCH benennt drei Formen:

  • Repressiver Staatsapparat.
    (Parlamente, Regierungs- und Verwaltungsapparate, Polizei, Militär, Geheimdienste, Justiz, ...)
  • Ideologische Apparate.
    (Ausbildungseinrichtungen, kulturelle Institutionen, Medien, Kirchen, ...)
  • Massenintegrative Apparate.
    (Gewerkschaften, Parteien, Vereine, ...)

(Vgl. HIRSCH 1976, 114).

Gesellschaftliche Probleme werden so bearbeitet, daß sie in verschiedene Zuständigkeiten und Betrachtungsweisen aufgespaltet und aus ihrem Ursachenzusammenhang herausgelöst werden. "Diese Struktur gewährleistet, daß der Staat auf artikulierte Bedürfnisse und 'Krisen' zwar reaktionsfähig bleibt, Ansprüche aber so kleinarbeiten kann, daß sie mit den Bedingungen bourgeoiser Herrschaft vereinbar sind" (HIRSCH 1976, 138).

"Bourgeoise Herrschaft" meint die Herrschaft derer, die über Kapital verfügen.

"Kleinarbeiten" heißt konkret:

Verzögern, zeitlich verschieben, in verschiedene bürokratische Kompetenzbereiche zerlegen, Gegeninteressen mobilisieren, auf mangelnde finanzielle Mittel verweisen und anderes mehr.

"Was dabei verkannt wird, ist, daß das organisierte Chaos partikulärer und konkurrierender Bürokraten, das den gegenwärtigen Regierungsapparat kennzeichnet, weniger das Ergebnis von Interesseneinflüssen, administrativer Trägheit oder der 'menschlichen Natur' darstellt, sondern vielmehr in spezifischem Sinn funktional notwendig (im Original, der Verf.) ist, kurz. daß die Logik der erscheinenden Dysfunktionalitäten in ihrer verborgenen Funktionalität zu suchen ist" (HIRSCH 1974, 102).

Mit anderen Worten: Es sieht so aus, als ob es nicht funktioniert, und gerade deswegen funktioniert es so gut.

Zur Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme dient dem Staat auch das System der Sozialen Sicherheit:

3.4.2. DAS SYSTEM DER SOZIALEN SICHERHEIT

Die ersten Sozialversicherungsmaßnahmen am Ende des 19. Jahrhunderts (1883 Krankenversicherung, 1884 Unfallversicherung, 1889 Invaliden- und Altersversicherung) markieren den Beginn des Systems der Sozialer Sicherheit. Diese staatlich garantierten Leistungen sollten wirtschaftliche Notsituationen abwenden und gegen Versorgungsrisiken vorsorgen. Sie bildeten sich im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik weiter aus (vgl. LANDWEHR/ BARON 1983). Sie umfassen heute Leistungen von Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Sicherung für Familie und Kinder, Ausbildungsförderung, Kriegsopferversorgung bis hin zum Wohngeld und der Sozialhilfe.

Aus dieser Entwicklung ist zu erkennen, daß die Reproduktionsrisiken zunehmend vergesellschaftet wurden, und zwar in staatlich kontrollierter Form. Immer umfassendere Teile der Aufgaben, die bisher die Familie geleistet hatte, wurden durch diesen Vergesellschaftungsprozeß vom Staat ersetzt und übernommen. Es ist der Staat mit seinen Institutionen, der in zunehmenden Maße die Risiken ausgleicht, die sich unmittelbar aus dem Verwertungsprozeß der Ware Arbeitskraft durch das Kapital ergeben (vgl. CHASSÉ 1988, HIRSCH/ ROTH 1986).

So, wie die Lebensbereiche, die bisher privat organisiert wurden, immer weiter vergesellschaftet werden, so verlagern sich auch die in der Gesellschaft bestehenden Widersprüche mehr und mehr in den persönlichen Bereich des Einzelnen. Das Reproduktionsrisiko wird zum individuellen Risiko.

Neue Abhängigkeiten von öffentlichen Institutionen entstehen. Neue Zwänge, persönliche Verhältnisse in öffentlichen Überprüfungen darzulegen, sind die Folge. Verschärft wird diese Situation durch die Krisen, die sich aus der kapitalistischen Produktionsweise ergeben. Verschärft wird sie des weiteren durch Kürzungen bei den Leistungen des Systems Sozialer Sicherung (vgl. DRYGALA 1986, 82).

Drei "Säulen" der Sozialen Sicherung sind zu unter scheiden (HOFFMEISTER 1986, 2), auch wenn es in der Praxis nicht so trennscharf möglich ist:

  • Versicherung. (Alters-, Kranken-, Arbeitslosenversicherung)
    "Solidargemeinschaft", deren Mitglieder Beiträge zahlen, im Risikofall ist ein Anspruch auf Unterstützung garantiert.

  • Versorgung. (Kriegsopfer-, Hinterbliebenenversorgung, Lastenausgleich)
    Eine Art Schadensersatz, meist vorübergehende, befristete Maßnahmen, aus Steuermitteln des Bundes finanziert.

  • Fürsorge. (Sozialhilfe)
    Für Einzelne in Notlagen, reines Hilfesystem, kann ohne Vorleistungen in Anspruch genommen werden, aus Steuermitteln der Länder und Gemeinden finanziert.

Die Leistungen Sozialer Sicherung unterscheiden sich wesentlich im Hinblick auf die Anspruchsberechtigung. Im Bereich der Versicherungen ergibt sich die Unterstützung aus der beitragzahlenden Mitgliedschaft in einer "Solidargemeinschaft", im Bereich der Fürsorge hat es den Anschein, es gäbe hier Unterstützung ohne Vorleistung, quasi als "soziale Hängematte".

3.4.3. STAATLICHE INTERVENTION BEI ARBEITSLOSIGKEIT

Der Staat übernimmt die Bearbeitung der dauerhaften Transformation von Lohnarbeitern in Nicht-Lohnarbeiter und umgekehrt (vgl. LENHARDT/ OFFE 1981). Das Risiko, seine Arbeitskraft zeitweise nicht verkaufen zu können, wird abgesichert. ROHRMANN (1987, 36) nennt drei Gruppen von Instrumenten staatlicher Politik:

  • Ordnungspolitische Instrumente.
    Sie verhindern, daß Teile der Arbeiterklasse sich zu einer anderen Lebensform als der der Reproduktion mittels Lohnarbeit entscheiden können.
  • Arbeitsmarktpolitische Instrumente.
    Ihr Ziel ist eine möglichst rasche Eingliederung von aus der Verwertung herausgefallenen Arbeitskräften, zum Beispiel durch Maßnahmen der beruflichen Qualifikation (Umschulung, Fortbildung) oder durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

  • Arbeitsmarktexterne Reproduktionssysteme (Soziale Sicherung).
    Sie garantieren eine zeitweise Reproduktion auch dann, wenn eine Verwertung der Arbeitskraft im Produktionsprozeß nicht erfolgt. Andererseits dürfen sich diese Reproduktionssysteme nicht als Alternativen zur Lohnarbeit durchsetzen.

Die Maßnahmen der Sozialen Sicherung, d.h. die Arbeitsmarktexternen Reproduktionssysteme weisen mehrere gemeinsame Tendenzen auf (vgl. DGB 1988, ROHRMANN 1987, 37):

  • Der Einzelne wird nach dem Anlaß seiner Ausgliederung aus dem Arbeitsmarkt in die unterschiedlichen Leistungssysteme eingeordnet.
  • Die Berechnungsgrundlage ist das letzte Nettoeinkommen. Lohnarbeiter in schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen, die meist einem hohen Arbeitsverlustrisiko unterliegen, sind am schlechtesten geschützt.
  • Mit der Dauer der Ausgliederung aus dem Arbeitsmarkt nimmt das Niveau der Absicherung ab. Der Krankengeldanspruch besteht maximal 18 Monate, danach Sozialhilfe oder Versorgung durch Angehörige.
  • Der Arbeitslosengeldanspruch besteht maximal 12 Monate, danach Arbeitslosenhilfe. Weiterhin werden eigene Ersparnisse und der Verdienst von Angehörigen angerechnet. Langzeitarbeitslose werden bis zum Niveau der Sozialhilfesätze herabgestuft.

So kommt denn auch ROHRMANN zu dem Schluß:

"Die Funktion der Sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik liegt allein in der arbeitsmarktexternen Absicherung von Arbeitskraft, für die vorübergehend (im Original, der Verf.) keine Nachfrage am Arbeitsmarkt besteht und nicht im Schutz der abgesicherten Haushalte vor Armut. Ist auf Dauer eine Eingliederung in das Erwerbsleben nicht mehr zu erwarten, so erfolgt die Überführung in die weitaus kostengünstigere Absicherung durch das Sozialhilfesystem mit allen damit verbundenen Konsequenzen." (ROHRMANN 1987, 37).

3.4.4. SOZIALHILFE

Sozialhilfe als "letzte Instanz" im System Sozialer Sicherung erweist sich als Konsequenz der Notwendigkeit, öffentliche Reproduktion nur in Ausnahmefällen als Alternative der privaten Reproduktion gesellschaftlich zu dulden. Daraus ergibt sich ihr repressiver Charakter:

Sozialhilfe wird nur geleistet

in Fällen, die nicht durch die Familie oder Einrichtungen der Wohlfahrtspflege bewältigt werden (Prinzip des Nachrangs der Sozialhilfe, § 2 BSHG, vgl. SCHELLHORN 1895).

  • wenn der Hilfesuchende seine Arbeitskraft einsetzt (§ 18 BSHG), dies wird notfalls erzwungen durch die Einrichtung von Arbeitsgelegenheiten (§ 19 BSHG, vgl. ROHRMANN 1984, BIRK/ MÜNDER 1983) beziehungsweise durch die Einschränkung der Leistungen "bis auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche" (§ 25 Abs. 2 BSHG).
  • wenn der Hilfesuchende der Behörde seinen persönlichen Bereich offenlegt (§§ 60 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB-AT), HOFFMEISTER 1986, 75 und 80), was nichts anderes als eine subtiler Form der Kontrolle gegenüber den Hilfesuchenden ist (vgl. DRYGALA 1986, 83).
  • vor dem Hintergrund der Differenzierung von Muß-, Kann- und Soll- Leistungen und des Ermessensspielraums der Behörden (DRYGALA 1986, 83).

Die Ausgliederung von Arbeitskräften aus dem Produktionsprozeß führt über den Weg der arbeitsmarktexternen Reproduktionssysteme (Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung) zu einer verstärkten Inanspruchnahme von Sozialhilfe. Sozialhilfe als "Kellergeschoß der Sozialpolitik (...) erweist sich als eine Örtlichkeit, die zwar zum Verweilen nicht einlädt, aber dennoch zu dauerndem Aufenthalt zwingt." (PREUSSER 1988, 63).

3.4.5. STAATLICHE INTERVENTION IN DER WOHNRAUMVERSORGUNG

Wohnen umfaßt einen elementaren Bereich individueller Reproduktion. Es ist Ziel der staatlichen Intervention zur Sicherung der Wohnmöglichkeiten, jedem Mieter Zugang zu angemessenem Wohnraum zu ermöglichen. Dem Staat stehen hierbei mehrere Instrumente zur Verfügung (vgl. PETZINGER/ RIEGE 1981):

  • Miethöhenbegrenzung (Mietwertspiegel),
    welche die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals begrenzt. In ihrer Folge wird weniger Kapital im Wohnungsmarkt angelegt, der Wohnungsmarkt stagniert. Die Aufhebung der Miethöhenbegrenzung führt zu Mieten, die für viele nicht mehr bezahlbar sind. Eine sich daraus ergebende Folge ist Wohnungsleerstand. So entsteht die paradoxe Situation, daß einerseits Wohnungen leerstehen, andererseits Menschen wohnungslos sind, weil sie diese Wohnungen nicht mieten, weil nicht bezahlen können.

  • Subventionen (Sozialer Wohnungsbau),
    welche ermöglichen sollen, daß der Kapitalanleger, der Wohnungen bauen läßt, die Kostenmiete realisieren kann.

  • Dabei wird die sogenannte Bewilligungsmiete festgelegt, d.h. der Kostenteil, der von den erwarteten Mieteinnahmen abgedeckt wird. Die Förderung wird vorrangig in Form zinsverbilligter Darlehen für den Wohnungsbau gewährt. Diese Verbilligung wird Stück für Stück zurückgenommen - das nennt sich degressive Förderung - bis daß das Zinsniveau des Kapitalmarktes erreicht ist. Infolgedessen erhöhen sich auch die Mieten bis zum Niveau des frei finanzierten Wohnungsbaus. Es handelt sich hierbei also nur um eine aufgeschobene Durchsetzung der vollen Kosten auf die Miete (DRYGALA 1986,77).

  • Wohngeldzahlungen,
    welche den Mietern helfen sollen, die Kosten für eine angemessene Wohnung zu tragen. Für Wohngeldzahlungen sind Höchstgrenzen festgelegt. Ihr Gesamtvolumen nimmt zwar Jahr für Jahr zu, die Wohngeldzahlungen haben aber nicht verhindern können, daß die relative Mietbelastung der Haushalte steigt (ROHRMANN 1987, 51).

Von staatlicher Seite wird "davon ausgegangen, daß das Prinzip der freien Marktwirtschaft eine angemessene Versorgung mit Gütern garantiert." (DRYGALA 1986, 72).

Staatliche Intervention erfolgt vorrangig über Subventionen als Unterstützung von Wirtschaftsprozessen und nicht als Versorgung Hilfebedürftiger. Angesichts der Situation auf dem Wohnungsmarkt - Wohnungsleerstand bei einer erheblichen Zahl von Wohnungslosen - erscheint die staatliche Intervention als Konzeptionslosigkeit.

In Wahrheit handelt es sich um eine strukturell bedingte Unfähigkeit des Staates, die Wohnungsversorgung aller zu realisieren. Diese Unfähigkeit ist das Ergebnis widersprüchlicher ökonomischer Interessen, die sich aus dem Verwertungsprozeß der Ware Wohnung und der Notwendigkeit der Reproduktion der Lohnarbeiter ergeben. Die Möglichkeit staatlicher Intervention bestimmt sich aus der kapitalistischen Produktionsweise: Solange die Grundrente weiterhin uneingeschränkt realisiert wird, ist die Steigerung der Mietpreise ein für die Mieter zwar nicht angenehmes, aber ökonomisch richtiges Resultat. Auf der anderen Seite wird der Staat die Realisierung der Grundrente ebensowenig beseitigen wie die Realisierung des Mehrwerts. Umgekehrt: Der bürgerliche Staat und seine Institutionen existieren gerade auf der Grundlage der Anerkennung von Mehrwert und Grundrente, indem er Privateigentum durchsetzt, garantiert und schützt.

Also: Wohnungen stehen leer, weil die Mieten unerschwinglich hoch sind. Immer weniger Haushalte sind in der Lage, steigende Mieten zu zahlen. Erhöhte Wohngeldleistungen heben diese Tendenz nicht auf. Immer mehr Wohnungen stehen leer, immer mehr Wohnungen müssen (zwangs-)geräumt werden, weil Mieter die Kosten nicht aufbringen können. Die Wohnungsnot wächst, mit ihr auch die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen ganz oder teilweise aus dem Wohnungsmarkt. Von dieser Ausgrenzungsstrategie extrem Betroffene erscheinen gar nicht mehr als Nachfrager auf dem Wohnungsmarkt oder werden planmäßig herausgehalten. Das sind die wichtigsten Tendenzen staatlicher Intervention bei der Wohnungsversorgung.

Die Ausgrenzung aus dem Wohnungsmarkt trifft natürlich auch in besonderem Maße die Wohnungslosen. In vielen Städten können sich die Wohnungssuchenden "nicht einmal beim örtlichen Wohnungsamt in die Liste der Wohnungssuchenden eintragen. Dieser Verwaltungsakt setzt nämlich eine polizeiliche Anmeldung voraus. Anmelden kann sich aber nur derjenige, der einen festen Wohnsitz nachweisen kann." (ROHRMANN 1987, 52).

Die Unsicherheit der Wohnungsversorgung in der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft stellt sich als das Problem des Einzelnen heraus. Die Risiken, die entstehen, wenn der Einzelne für seine Versorgung mit Wohnraum allein verantwortlich und auf sich selbst gestellt ist, werden durch staatliche Intervention nicht aus der Welt geschafft. Sie werden lediglich in ihren Ausmaßen abgeschwächt. Eine müßige Frage ist, wem diese Form der Intervention mehr nützt: Dem Mieter oder dem, der als Eigentümer von Grund und Boden Grundrente mit staatlichem Zuschlag realisieren kann. Aber das führt zu weit vom Gegenstand dieser Arbeit weg.

Zu betrachten ist nun die Situation des Wohnungsverlustes an sich.

3.5. WOHNUNGSVERLUST

3.5.1. URSACHEN

Als Wohnungsproblem ist Wohnungslosigkeit nicht ausreichend zu erklären. Entscheidend ist vielmehr: Kann der auf Lohnarbeit angewiesene Einzelne seine Arbeitskraft verkaufen? Reicht das dadurch erworbene Einkommen? Gibt es Wohnungen, die mit diesem Einkommen noch zu bezahlen sind? usw.

Der Zusammenhang zwischen den Produktionskosten zum Erhalt der Ware Arbeitskraft und den Reproduktionskosten, die zum Mieten einer Wohnung notwendig sind, wird durch das scheinbar freie Tauschgeschäft verstellt.

Die Kosten für das Mieten der Wohnung sind Bestandteil des Lohns der Arbeitskraft, die durchschnittlichen Mietkosten gehen ebenso bestimmend in die Kosten für die Reproduktion des Lohnarbeiters ein. Dieser Zusammenhang erscheint aber gerade umgekehrt auf dem Wohnungsmarkt:

Die Höhe des Einkommens bestimmt über die Chancen, auf dem Markt - über Angebot und Nachfrage - eine Wohnung zu finden, deren Gebrauch gekauft werden kann. Tatsächlich aber entsprechen Produktion und Reproduktion von Arbeitskraft auf der einen Seite, Produktion und Verwertung von Wohnraum auf der anderen Seite den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Kapitalverwertung. Die Befriedigung des Bedürfnisses nach Wohnraum bei den Lohnarbeitern ist von untergeordneter Bedeutung.

Diese Faktoren, die ihrer Tendenz nach steigenden Mieten sind die ursächlichen Faktoren für das Entstehen von Wohnungslosigkeit.

Kündigungen und Räumungen, oft aufgrund von Mietschulden, sind Anlässe, nicht Ursachen von Wohnungslosigkeit.

3.5.2. WOHNUNGSVERLUST ERSCHEINT ALS VERSAGEN DES EINZELNEN

Die Nichtzahlung, das Nicht-zahlen-können der Miete ist ein Verstoß gegen die gesetzlich in Rechtsform festgelegte Tauschbeziehung: Ein Vertragsbruch. Der Einzelne wird für diesen Verstoß gegen die Prinzipien des Warentausches haftbar gemacht. Er ist für das Gelingen seiner Reproduktion verantwortlich.

Völlig gleichgültig sind die vorliegenden individuellen und persönlichen Gründe. Völlig gleichgültig, ob es dem Einzelnen überhaupt gelingt, seine Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen: Der Vermieter wird das Nichtzahlen der Miete als einen Ausfall seiner Einnahmen und als Vertrauensbruch nicht hinnehmen.

Das Risiko der individuellen Reproduktion, wie es unter der kapitalistischen Produktionsweise als Lebensform für die einzelnen Individuen gesellschaftlich durchgesetzt ist, erscheint in der Situation der Wohnungslosigkeit als Versagen des Einzelnen.

Die schon vorher bestehende Mangelsituation wird durch besondere Krisen akut. Die Wohnungslosen sind für den Verlust ihrer Wohnung und die daraus resultierenden Folgen nicht verantwortlich zu machen (vgl. DRYGALA 1986, 79)

3.5.3. KÜNDIGUNG

Das Warengeschäft Miete gegen zeitweilige Nutzung von Wohnraum ist rechtlich geregelt. Die rechtliche Form, in der ein Mieter einer Wohnung diese gegen seinen Willen verlieren kann, ist die Form der Kündigung durch den Vermieter.

Die Kündigung kann ordentlich sein, d.h. sie entspricht der im Mietvertrag vereinbarten Kündigungsfrist. Oder die Kündigung ist außerordentlich und erfolgt fristlos.

In beiden Fällen, bei einer ordentlichen und bei einer außerordentlichen Kündigung, ist vom Vermieter zu begründen, wieso der rechtlich garantierte Kündigungsschutz nun nicht mehr gelten soll (vgl. BRÜHL 1977, ROHRMANN 1987, 64f).

Mögliche Gründe einer ordentlichen Kündigung sind:

  • Eigenbedarf des Vermieters, der sich auch auf Angehörige erstreckt.
  • Vertragsverletzungen durch den Mieter. Mietrückstände von weniger als zwei Monatsmieten, unpünktliche Mietzahlungen, häufiger Lärm oder ähnliche "Belästigungen" anderer Mieter oder Nachbarn.
  • Berechtigte Verwertungsinteressen des Vermieters, wenn er "durch die Fortsetzung des Mietverhältnisses an einer angemessenen Verwertung des Grundstücks gehindert oder dadurch erhebliche Nachteile erleiden würde." (BRÜHL 1977, 153).

Mögliche Gründe einer außerordentlichen Kündigung müssen so schwerwiegend sein, daß ein Fortbestehen des Mietsverhältnisses innerhalb der Kündigungsfrist als nicht mehr zumutbar erscheint:

  • Zahlungsverzug.
    Mietrückstände umfassen zwei Monatsmieten oder mehr.
  • Vertragswidriger Gebrauch.
    Nutzung einer Wohnung zu anderen Zwecken als im Mietvertrag vereinbart, z.B. Untervermietung ohne Genehmigung, Gewerbe, Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht.
  • Unzumutbarkeiten.
    "Nachhaltige Störungen des Hausfriedens", "Schwere Beleidigungen", "Tätliche Angriffe".

Erhält der Mieter eine Kündigung, hat er nach geltendem Recht einen Monat Zeit, dagegen etwas zu unternehmen. Nach Ablauf dieser Frist wird die Kündigung rechtswirksam. Der Mieter muß keineswegs der Kündigung nachgeben und ausziehen, vor allem nicht, wenn er der Meinung ist, sie erfolge zu Unrecht. Er kann gerichtlich dagegen vorgehen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, beim Gericht einen vorläufigen Räumungsschutz bis zur Verkündung eines rechtskräftigen Urteils zu beantragen.

Einem solchen Antrag wird meist stattgegeben: Der Grund für diese Möglichkeit liegt darin, daß es meist eine ganze Zeit lang dauert, bis ein Gericht ein Urteil spricht. Es nützt dem Mieter dann sehr wenig, eventuell "sein recht zu bekommen", wenn er inzwischen "auf der Straße sitzt".

Entscheidet das zuständige Gericht, die Kündigung sei unwirksam, kann der Mieter in der Wohnung bleiben, als sei nichts passiert. Erklärt das zuständige Gericht die Kündigung für wirksam, muß der Mieter die Wohnung verlassen. Meistens wird vom Gericht dabei auch gleich festgelegt, in welchem Zeitraum der Mieter die Wohnung zu verlassen hat.

3.5.4. RÄUMUNG

Muß der Mieter die Wohnung verlassen und weigert sich, kann ihn der Vermieter nicht ohne weiteres auf die Straße setzen, schon gar nicht, indem er Gewalt anwendet.

Der rechtliche Weg ist dieser:

Der Vermieter erhebt bei Gericht eine Räumungsklage. Dieser wird meist stattgegeben, wenn eine rechtskräftige Kündigung vorliegt. Der Vermieter erhält dann einen Räumungstitel. Mit dem kann er zu einem Gerichtsvollzieher gehen. Nur der hat das Recht, eine Räumung vor zunehmen. Auch er darf den Mieter nicht gewaltsam aus der Wohnung setzen. Weigert sich der Mieter noch immer, die Wohnung zu verlassen, kann die Polizei zum Vollzug der Räumung hinzugezogen werden. In diesem Fall wird die Räumung, notfalls auch mit physischer Gewalt, durchgesetzt.

3.5.4. WOHNUNGSVERLUST: EINE "SOLLBRUCHSTELLE" ZWISCHEN OBDACHLOSIGKEIT
            UND "NICHTSESSHAFTIGKEIT"

Der Gerichtsvollzieher hat, wenn er mit einer Räumung beauftragt ist, dies der Obdachlosenbehörde mitzuteilen. Diese Regelung besteht aber nicht in allen Bundesländern. Die Obdachlosenbehörde ist formal betrachtet eine Einrichtung des Ordnungsamtes, die aber oft an das Sozialamt angegliedert ist.

Obdachlosigkeit ist eine Ordnungswidrigkeit im Sinne des Ordnungsbehördengesetzes, eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die es zu beseitigen gilt. Aus diesem Grund nimmt die Ordnungsbehörde bei der Zwangsräumung eine zwangsweise Einweisung der Betroffenen in eine Obdachlosensiedlung oder -einrichtung vor (vgl. BRÜHL 1977).

Die Betroffenen können sich nicht aussuchen, ob sie das "Angebot" annehmen oder zurückweisen wollen. Sie erhalten vom Ordnungsamt einen Verwaltungsbescheid und wer den in die Unterkunft zwangseingewiesen. Notfalls, also wenn sich die Betroffenen weigern, können sie auch mit Polizeigewalt dazu gezwungen werden (vgl. BRÜHL 1977, llff; ROHRMANN 1987, 65f).

In dieser Weise wird allerdings nur verfahren, wenn es sich bei den Betroffenen um Familien handelt.

Mit Alleinstehenden wird anders verfahren (RÄUCHLE 1979, 11; BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT 1981, 4 und 1986, 8f; EFN 1981, 14; WEBER 1984, 22; ROHRMANN 1987, 66 und 1987a, 114ff und 1989, 35f):

Entweder werden Alleinstehende, das sind vorwiegend alleinstehende Männer im erwerbsfähigen Alter, sich selbst überlassen, oder sie werden an Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe überwiesen. Bestenfalls stellt die Obdachlosenbehörde sicher, daß der Betroffene die kommende Nacht im (Obdachlosen- oder Nichtseßhaften-) Asyl übernachten kann. Der Aufenthalt ist jedoch fast überall auf nur wenige Tage begrenzt.

Diese unterschiedliche Bearbeitung des Wohnungsverlustes bei Familien und Alleinstehenden nenne ich eine "Sollbruchstelle": Ein Alleinstehender ist von dem Zeitpunkt des Wohnungsverlustes an mit grundlegend an deren, durch unterschiedliche Formen der staatlichen "Hilfe" verursachten Bedingungen konfrontiert als eine Familie.

Erst die unterschiedliche Art der Bearbeitung ihres gemeinsamen Problems macht einen Teil der Gruppe derer, die ihre Wohnung verloren haben, zu "Nichtseßhaften".

Auf die Problematik, die sich aus dieser Zuschreibung "nichtseßhaft" ergibt und auf die gesellschaftliche Umgangsweise mit der Situation Wohnungsloser, die mit eben diesem Begriff verbunden ist, bin ich im vorherigen Kapitel eingegangen. Welche praktischen Folgen sich für den alleinstehenden Einzelnen aus dieser Situation des Wohnungsverlustes ergeben, ist noch zu klären.

Zunächst jedoch werde ich noch kurz auf die Frage nach der Zukunft der Armut eingehen und auf aktuelle Tendenzen hinweisen:

3.6. AKTUELLE TENDENZEN

3.6.1. FORDISMUS UND POSTFORDISMUS - AKKUMULATIONSSTRATEGIEN DES KAPITALS

Seit Beginn der 80er Jahre sind verschiedene Prozesse zu beobachten: Der Umbau des Sozialstaats (im Vordergrund: Die Reduzierungen der Sozialleistungen), Armut und Wohnungsnot nehmen zu (vgl. FRANZ/ KRUSE/ ROLFF 1986; DRYGALA 1988). Diese aktuellen Entwicklungstendenzen sind nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer umfassenden inneren Umstrukturierung des kapitalistischen Systems. HIRSCH/ ROTH (1986) beschreiben diese Prozesse als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus, als eine neue Akkumulationsstrategie des Kapitals.

Fordismus ist die Bezeichnung einer Akkumulationsstrategie des Kapitals. Ihr Kennzeichen ist Massenproduktion und Massenkonsum. Eine Entwicklung, die sich in der BRD im "deutschen Wirtschaftswunder" durchsetzte. Sie wird möglich, indem die Reproduktion der Arbeitskraft mit in den Kreislauf des Kapitals einbezogen wird. Die Lohnarbeiterrisiken werden vergesellschaftet, traditionelle Lebenszusammenhänge lösen sich auf: Der moderne Sozialstaat bildet sich aus.

Die "Regulierung der Arbeitskraft" wird zu einer "immer ausschließlicher staatsbürokratisch organisierten Angelegenheit" (HIRSCH/ ROTH 1986, 66). Die Grenze zwischen Lohnarbeitern und Arbeitslosen wird in beide Richtungen durchlässig gehalten. Die Folge der sich ausweitenden Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche: Früher private Lebensräume werden zunehmend durch Geld und Warenbeziehungen bestimmt und kontrolliert. Es ist für den Einzelnen kaum noch möglich, seine Reproduktion ohne die Verfügung über Geld zu realisieren.

Die Krise des Fordismus zeigte sich seit Mitte der 70er Jahre in allen führenden westlichen Industrienationen: Sie erschien in Form erlahmender Produktivität, die auch durch Rationalisierungsmaßnahmen nicht zu kompensieren war. Zunächst wurde sie in der Krise der Staatsfinanzen - defizitfinanzierte Konjunkturprogramme greifen bei sich verschlechternden Verwertungsbedingungen nicht mehr - sichtbar. Notwendige Einsparungen im Staatshaushalt wurden auf Kosten derer durchgesetzt, die sich bisher über die Umverteilung aus dem Staatshaushalt finanziert hatten:

Die Folge ist ein scheinbarer Rückzug des Staates bei einer gleichzeitigen zunehmenden öffentlich-staatlichen Durchdringung der privaten Lebensbereiche.

Die sich derzeit andeutende technologische Umwälzung macht eine erneute Erhöhung der Arbeitsproduktivität möglich, beispielsweise durch den Einsatz von Mikroprozessoren und Informationsverarbeitungstechnologien. Das Ziel ist eine Flexibilisierung von Mensch und Maschine in ihrer Verwertung im Produktionsprozeß zum Zweck der Profitmaximierung. Diese Veränderungen im Produktionsprozeß führen zu einer radikalen Flexibilisierung der Anwendung von Arbeitskraft.

Mit der selektiven Durchsetzung dieser neuen Produktionskonzepte und ihrer Durchmischung mit traditionellen Formen der Produktion wird ein neuer gesellschaftlicher Ausbeutungsmodus etabliert. Stärkere Qualifikationshierarchien, Schichtungen und Spaltungen der Lohnarbeiter und die damit verbundene Schwächung der kollektiven Interessensvertretung führen zu schärferen Lohndifferenzierungen, weitgehender Diversifizierung der Arbeitsbedingungen und einer Aushöhlung der Sozialen Sicherung. Eine länger anhaltende Massenarbeitslosigkeit drückt das reale Reproduktionsniveau, gleichzeitig vergrößert sich die soziale Ungleichheit innerhalb der Arbeiterklasse.

Der Umbau der Gesellschaft vollzieht sich, indem sich Spaltungen multiplizieren und vertiefen.

Die in der fordistischen Phase angelegte, durch den Sozialstaat kompensierte Polarisierung zwischen Kern- und Randsektoren vertieft und vervielfältigt sich. Schon heute ist eine Aufspaltung in relativ hochbezahlte, sichere Arbeitsplätze einerseits und einfachere, unsichere und fluktuierende Arbeitsplätze andererseits erkennbar. Die den Fordismus tragende, breite Mittelschicht aus qualifizierten Facharbeitern und mittleren Angestellten bricht auseinander. Einkommens- und Arbeitsbedingungen fallen auf dem peripheren Arbeitsmarkt weiter auseinander; eine stärkere Lohndifferenzierung senkt das Reproduktionsniveau der unteren Lohngruppen.

In den Lücken und Nischen der durchorganisierten Verwertungsstrategien entsteht auf der Basis hoher Arbeitslosigkeit ein "neuer Markt". Alternative Produktions- und Dienstleistungsangebote kompensieren die Folgen der Durchkapitalisierung und reproduzieren vorfordistische Arbeitsbedingungen mit den Kennzeichen: Niedriges Einkommen, hoher Grad an Selbstausbeutung und die fast völlig fehlende sozialen Absicherung.

3.6.2. UMBAU DES SOZIALSTAATS UND ZUKUNFT DER ARMUT

Durch die Regulierung der aus dem Arbeitsprozeß herausgefallenen setzt sich die Spaltung der Lohnabhängigen fort: Der Umbau des Sozialstaats vollzieht sich als Ausdünnen sozialer Sicherungssysteme, Individualisierung von Arbeitslosigkeit, gruppenspezifische Ausgrenzung und die Abwälzung von Dauerarbeitslosigkeit auf soziale "Problemgruppen".

Zu erwarten ist "eine postfordistische Schichtung der Gesellschaft (...), die die ökonomischen Klassenspaltungen multipliziert" (HIRSCH/ ROTH 1986, 136) und bei der die größer werdenden Ungleichheiten das materielle Reproduktionsniveau senken werden.

Bestehen bleibt eine staatliche Regulierung, um die sich vollziehenden Spaltungen und Umwälzungen im Griff zu behalten. Trotz des scheinbaren Rückzugs des Staates geht es bei dem zu erwartenden Umbau des Sozialstaats "nicht nur um eine schlichte Demontage des Sozialen Sicherungssystems, sondern darum, bei insgesamt (relativ) abnehmenden Leistungen seine Spaltungs- und Kontrollpotentiale weiter auszubauen" (HIRSCH/ ROTH 1986, 145).

Armut hat Zukunft, vor allem, da sie sich immer mehr als chronischer Zustand zeigt, der durch staatliche Sozialpolitik auf Dauerhaftigkeit konzipiert wird.

Nach PREUSSER (1988, 68) bewegen sich die zukünftigen Überlebenstechniken der Armenbevölkerung zwischen den legalen Formen der Überlebenssicherung - die tradierte Nutzung ökonomischer Nischen und günstiger Gelegenheiten, die durch die Kommerzialisierung fortschreitend ausgetrocknet werden, und jener Grauzone zwischen legaler Subsistenzsicherung und manifester Kriminalität, die immer schwerer einzuhalten wird.

Die Armen werden lernen müssen, sich den neuen Bedingungen anzupassen, bewährte Überlebenstechniken zu variieren und aufgezwungene Anpassungsleistungen zu optimieren. Sie werden lernen müssen, am Rande des Existenzminimums zu überwintern und versuchen, sich absoluter Verelendung zu entziehen.

Zu fragen bleibt, ob der Handlungsspielraum der einzelnen Armen sich tatsächlich innerhalb des Szenarios bewegen muß, den PREUSSER beschreibt:

"...wer im Keller des Sozialstaats angekommen ist, verfügt nur noch über zwar entgegengesetzte, aber gleichermaßen widerwärtige Alternativen:

  • entweder den aufgezwungenen Armenstatus bewußt zu akzeptieren, all die Tricks und Kniffe zu erlernen, die die Armengesetzgebung nahelegt, damit aber auch
  • jenen Bettelcharakter auszuprägen, der die Ausschließung aus der Arbeiterklasse besiegelt;
  • oder sich derart negativen Lernprozessen zu verweigern, den Leistungsdruck auf Abhängige - vor allem Frauen und Kindern - abzuwälzen;
  • oder in Druck, Dreck und Resignation zu versinken.

(PREUSSER 1988, 63).

3.7. ZUSAMMENFASSUNG

Armut nimmt dort ihren Anfang, wo ein Mensch feststellt, daß er über nicht anderes verfügt als seine Arbeitskraft, die er verkaufen muß, um leben zu können. Unter dem bestehenden kapitalistischen Produktionsverhältnis, das auf der erzwungenen Trennung von Arbeit und Produktionsmitteln beruht, wird auf der einen Seite gewaltiger Reichtum produziert, auf der anderen Seite sind und werden ständig Lohnarbeiter freigesetzt.

Der einzelne Lohnarbeiter ist einem ständigen, individuellen Reproduktionsrisiko unterworfen.

Wohnen ist ein elementarer Bereich des Lebens. Voraussetzung ist, Wohnraum mieten, also bezahlen zu können. Da Wohnraum produziert und vermietet wird, um Eigentum an Grund und Boden gewinnbringend zu verwerten, ist die Folge eine ständige Wohnungsnot.

Das ständige, individuelle Reproduktionsrisiko besteht auch in der Sicherstellung der eigenen Versorgung mit Wohnraum.

Der Staat, die politische Form der Herrschaft, ist ein komplexer Organismus an institutionalisierten Beziehungen, dem vielfältige Aufgaben zukommen:

Er greift u.a. regulierend in Wirtschaft und Wohnungsbau ein, wo es ihm notwendig erscheint. Er übernimmt u.a. die Bearbeitung der Risiken der Reproduktion der Lohnarbeiter (Soziale Sicherheit) in dem Umfang, wie es ihm notwendig erscheint.

Er setzt u.a. durch, daß Eigentum (an Produktionsmitteln, an Grund und Boden, an Geld) geschützt ist, daß Teile der Lohnarbeiter sich nicht für andere Existenzformen als die als Lohnarbeiter entscheiden, daß Gewalt nur von ihm auszugehen hat.

Da der Staat die Ursachen von Arbeits- und Wohnungsverlust nicht beseitigt, sondern garantiert und durchsetzt, können staatliche Institutionen Arbeits- und Wohnungslosigkeit nicht verhindern, sondern nur mehr oder weniger erfolgreich bearbeiten.

Für den Einzelnen heißt das, es bleibt ihm selbst überlassen, gegenüber diesen staatlichen Instanzen seine Rechte als Staatsbürger geltend zu machen.

Der Wohnungsverlust von Familien und Alleinstehenden wird unterschiedlich bearbeitet. Das führt zu dem einen gesellschaftlichen Problem der Obdachlosigkeit und zu dem anderen Problem, das fälschlicherweise "Nichtseßhaftigkeit" genannt wird.

Für den Einzelnen heißt das, er bleibt, wenn er dann keine eigene Wohnung mehr hat, sich selbst überlassen oder ist bestenfalls mit den Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe konfrontiert.

Die aktuelle Situation ist die, daß die bisherige Akkumulationsstrategie der Massenproduktion und des Massenkonsums und seine staatliche Regulierung in Form des "Wohlfahrtsstaats" den beständigen Verwertungsinteressen des Kapitals im Wege stehen und sich eine neue Verwertungsstrategie auf der Grundlage flexibler Anwendung von Arbeitskraft und neuer Technologie durchzusetzen scheint. In deren Folge differenziert und verschärft sich die Situation der Armut, alte und neue Strategien des Überlebens gewinnen an Bedeutung.

Von diesen hier beschriebenen gesellschaftlichen Bedingungen ist auszugehen, wenn nun im Folgenden die Seite der individuellen Voraussetzungen betrachtet wird.

Es mag sein, daß dem einen oder anderen Leser die hier getroffenen Aussagen doch etwas zu sehr vereinfacht erscheinen. Sicher ist die Wirklichkeit noch wesentlich komplexer und trägt weitaus mehr Widersprüche in sich, als hier geschildert sind. Wichtig ist mir aber, in dieser Arbeit zeigen zu können, daß Wohnungslosigkeit (zunächst und trotz aller noch offenen Fragen) als Produkt bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden muß - gegen alle Konzeptionen, die fälschlicherweise Wohnungslosigkeit in irgendeiner Form ursächlich mit einem Merkmal der Persönlichkeit der Betroffenen in Verbindung bringen.

Diese Position - daß Wohnungslosigkeit als Ergebnis gesellschaftlicher Widersprüche verstanden wird - ist die Grundlage, die es ermöglicht, die individuelle Seite der Situation Wohnungsloser unter nun ganz anderen Voraussetzungen zu betrachten.


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