2. THEORETISCHE MODELLE ZU "NICHTSESSHAFTIGKEIT"
2.1. PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCH ORIENTIERTE ERKLäRUNGSMODELLE
2.2. PSYCHOLOGISCH ORIENTIERTE ERKLÄRUNGSMODELLE
2.3. SOZIOLOGISCH ORIENTIERTE ERKLÄRUNGSMODELLE
2.4. "NICHTSESSHAFTIGKEIT " - EIN BEGRIFF UND SEINE FOLGEN
2.5. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
2. THEORETISCHE MODELLE ZU "NICHTSESSHAFTIGKEIT"
Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, die bestehenden Theoriemodelle zum Problemkreis der Lebenssituation Wohnungsloser sowie deren Verursachung um fassend darzustellen und zu diskutieren. Hier kann lediglich anhand einiger typischer Erklärungsansätze gezeigt werden, welches Verständnis von dem Personenkreis, der damit beschrieben werden soll, zugrundegelegt wird.
Das jeweilige zugrundegelegte Verständnis hatte und hat stets konkrete Folgen für den gesellschaftlichen Umgang mit dem Problem der Wohnungslosigkeit und den davon betroffenen Menschen. Auch darauf kann nur kurz eingegangen werden.
Der von Bodelschwingh für die Gruppe der Wohnungslosen geprägte Begriff der "Wanderarmen" wurde im Faschismus von dem Begriff "Nichtseßhafte" abgelöst, der noch heute Verwendung findet. Auf die Diskussion zu dem Begriff "Nichtseßhaftigkeit" und die mit ihm verbundene Problematik wird in diesem Abschnitt ebenfalls kurz eingegangen, weil sich aus den Ergebnissen dieser Diskussion wichtige Konsequenzen für die prinzipielle Herangehensweise an eine Arbeit zur Problematik Wohnungsloser ergeben.
2.1. PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCH ORIENTIERTE ERKLÄRUNGSMODELLE
Die ersten Erklärungsansätze zur Personengruppe der Wohnungslosen sind bereits am Ende des 19. Jahrhunderts zu finden. Es sind zunächst psychiatrisch-orientierte Ansätze. So wird 1899 der Krankheitsbegriff des "Wandertriebs" (Poriomanie) geschaffen, der zunächst der Epilepsie zugeordnet ist, dann aber immer mehr ausgeweitet wird und schließlich zunehmend allgemeine Anwendung für alleinstehende Wohnungslose findet. 1934 erscheint eine psychologische Dissertation von Ludwig Mayer über den "Wandertrieb". Im Zusammenhang mit dem Wandertrieb-Konzept werden Landstreicherei, Schulschwänzen, Fortlaufen aus der Fürsorgeerziehung und Fahnenflucht als "krankhafte Wanderzustände" eingeordnet.
Das Wandertrieb-Konzept bleibt als Erklärungsansatz auch in sich vollkommen widersprüchlich. Der behauptete und unterstellte Wandertrieb kann bis heute von keinem Vertreter der Wandertrieb-Konzeption begründet und nachgewiesen werden (vgl. GOSCHLER 1983, 11).
Ein ähnlicher psychiatrisch orientierter Erklärungsansatz findet sich im Psychopathie-Konzept. Unter Psychopathen werden sogenannte "Abnorme Persönlichkeiten" verstanden, deren Auffälligkeit als vererbbar angesehen wird. Dieser Ansatz dient der psychiatrischen Einordnung: In der psychopathischen Diagnose werden verschiedene, in Art und Ursprung sehr unterschiedliche Merkmale der Persönlichkeit einer zusammenhängenden Krankheitskategorie zugeordnet.
Wie wenig wissenschaftlich fundiert diese Konzeption ist, zeigt die Feststellung, daß dabei auch die "völlig unmedizinische gesellschaftliche Wertung und die persönliche Abscheu des Untersuchers gegenüber dem körperlichen Zustand des Betroffenen diesem die Diagnose "Psychopath" eintragen kann." (GOSCHLER 1983, 11).
Die Funktion der Psychopathiediagnose besteht vor allem in der gesellschaftlichen Ausgliederung der so Bezeichneten. Auch innerhalb dieser Konzeption kann die behauptete und unterstellte "vererbbare Auffälligkeit" oder "Abnormität" bisher von ihren Vertretern nicht begründet und nachgewiesen werden.
1970 veröffentlicht ADERHOLD eine juristische Dissertation über "Nichtseßhaftigkeit", die über lange Jahre die Bedeutung eines Standardwerks hatte. Er bezieht sich dabei ausschließlich auf das Psychopathiekonzept. Auch er findet Ursachen für die "Nichtseßhaftigkeit" nur in der Persönlichkeit der "Nichtseßhaften" selbst: "Die wichtigsten Ursachen des Nichtseßhaftwerdens und noch mehr des Nichtseßhaftbleibens sind nächst der psychopathischen Wesensart und den körperlichen bzw. geistigen Behinderungen die beiden Faktoren Alkoholismus und Kriminalität." (ADERHOLD 1970, 125).
1976 gehen SCHWINDT/ VEITH in ihrer Untersuchung "Von den Krankheiten der Nichtseßhaften" der Frage nach, "welche Erkrankungen vor der Nichtseßhaftigkeit entstanden, welche Relevanz ihnen für das Scheitern zu kommt und welche Erkrankungen im Gefolge des unsteten Lebens auftraten." (SCHWINDT, VEITH 1976, 14). Sie führen ihre Untersuchung anhand der Leichen und vor allem der Gehirne von 82 "Nichtseßhaften" durch und kommen zu dem Schluß: "Im Einzelfall ist nicht immer zu entscheiden, ob die Anfänge der zum Tode führenden Erkrankung eine Mitursache des sozialen Abstiegs waren oder ob das unstete Leben den raschen körperlichen Verfall bedingte." (SCHWINDT/ VEITH 1976, 20).
In Bezug auf die eingangs formulierte Fragestellung ist die Untersuchung ergebnislos geblieben. SCHWINDT und VEITH haben die Leichensektion weiter fortgesetzt (Vgl. SCHWINDT/ VEITH 1983).
2.2. PSYCHOLOGISCH ORIENTIERTE ERKLÄRUNGSMODELLE
Seit etwa der Mitte der 70er Jahre rückt die Situation Wohnungsloser auch in das Blickfeld psychologischer Forschung. Dabei wird das Ziel verfolgt, die zunächst befremdend wirkenden Lebensformen Wohnungsloser als psychisch bedingte Verhaltensauffälligkeit zu erklären.
Je nach theoretischem Vorverständnis wird "nichtseßhaftes" Verhalten als erlerntes Verhalten, als hilflose weil uneffektive Konfliktlösungsstrategie oder als in unbewältigten lebensgeschichtlichen Faktoren begründete Zwangs- oder Angstreaktion verstanden. Oft wurden diese Ansätze auch miteinander kombiniert. Die wohl bedeutendste Untersuchung in diesem Zusammenhang stammt von Wickert.
Vom Tübinger Wickert-Institut werden im Zeitraum von 1977 bis 1983 drei psychologisch orientierte Forschungsberichte vorgelegt, die sich vor allem auf die Frage nach besonderen Persönlichkeitsmerkmalen von "Nichtseßhaften" konzentrieren. Die Hypothese "Nichtseßhafte zeichnen sich durch bestimmte übereinstimmende Merkmale des Handelns aus, die mit ihrem Nichtseßhaft-Sein in einem statistisch signifikanten Zusammenhang stehen" läßt sich in mehrjähriger Forschungsarbeit nicht bestätigen. Die "Nichtseßhaften" sind mit den Methoden der angewandten empirischen Psychologie nicht von anderen Personen zu unterscheiden. Keine einzige von Wickerts Hypothesen kann bestätigt werden (vgl. dazu JOHN 1988, 85ff).
So zieht der Vorstand des Evangelischen Fachverbandes für Nichtseßhaftenhilfe e.V. mit Recht schon 1981 den Schluß: "Das Scheitern des Bestätigungsversuches der wickertschen Hypothese war so deutlich, daß es danach als nicht mehr rational gelten kann, Nichtseßhaft-Sein als Ausdruck einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur anzusehen." (kursiv i.O., der Verf.; EFN 1981, 17). Für die Situation Wohnungsloser sind bisher weder psychologische Verursachungsfaktoren noch eine psychische Struktur, die zu einer solchen Situation prädisponiert, gefunden worden.
2.3. SOZIOLOGISCH ORIENTIERTE ERKLÄRUNGSMODELLE
Ebenfalls Mitte der 70er Jahre wird von einer Tübinger EG-Forschungsgruppe um Rothenberger ein an der soziologischen Handlungs- und Kompetenztheorie orientiertes Konzept entwickelt, daß die "abweichende soziale Beziehung 'Nichtseßhaftigkeit"' vorwiegend als einen "Mangel an interaktiver Kompetenz" versteht.
Dieses Konzept stellt insofern einen bedeutenden Fortschritt dar, als daß hier nicht mehr versucht wird, "Nichtseßhaftigkeit" mit einem Merkmal zu erklären, das in irgendeiner Form der Persönlichkeit der Betroffenen zugeschrieben wird.
Dagegen wird eingewandt, daß das Verständnis von "Nichtseßhaftigkeit" als ein Problem abweichender oder kranker Interaktion strukturelle Bereiche wie Arbeitslosigkeit und Wohnraummangel als Ursachen ausblendet (vgl. ROHRMANN 1987, 21). Existenzielle Armut wird zu einem Kommunikationsproblem umdefiniert und durch diese Ausklammerung materieller Bedingungen jeglicher Möglichkeit konkreter Analysen beraubt (vgl. GOSCHLER 1983, 12).
Andere Ansätze nehmen Bezug auf Goffmans Stigmatisierungsbegriff und begreifen Wohnungslose als Stigmatisierte. Die "individuellen Reaktionsweisen" der Betroffenen werden im Sinne von Goffmans Konzept als Übernahme einer neuen, abweichenden Identität angesehen, die in der Folge handlungsleitend wird.
Specht versteht Stigmata in Anlehnung an Goffman als unabänderliche, zugewiesene und chancenbeschneidende Positionen. Er geht davon aus, daß diese die Chancenstruktur beschneidende Stigmatisierung schon frühzeitig erfolgt und sich lebenslang negativ auswirken kann.
GIRTLER (1980), der sich ebenfalls auf Goffman bezieht, siedelt diese Stigmatisierungsprozesse lebensgeschichtlich später an. Nach GIRTLER wird durch desintegrative Vorgänge dem Betroffenen seine vorherige, sozial anerkannte Identität genommen, die dieser sich in der neuen, abweichenden und zugleich "autonomen" Identität der Stadtstreichergruppe (oder in ähnlicher Form) sucht und findet.
Die im Zusammenhang mit dem Stigmata-Begriff zu führende Diskussion über das Konzept "Abweichendes Verhalten" führt hier zu weit.
Der Haupteinwand findet sich bei Specht selbst, der feststellt, daß damit der spezifische Übergang in die spätere Existenzform der "Nichtseßhaftigkeit" nicht zu erklären ist (vgl. JOHN 1988, 106).
1979 erscheint die im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhaftenhilfe erstellte Grundlagenstudie. Hier findet sich eine sehr konsequente Abkehr von einem Verständnis von "Nichtseßhaftigkeit", das die Ursachen individueller Wohnungslosigkeit als Ausdruck individueller Merkmale der davon betroffenen Menschen sieht. Mit dem in der Grundlagenstudie entwickelten "Armutsansatz" wird konstatiert, daß der "Nichtseßhaftigkeit" stets eine Ausgliederung aus dem Produktionsprozeß vorhergeht. Daraus resultiert eine ökonomische und soziale Sonderbedingung, eine absolute oder relative Verarmung, innerhalb der "Nichtseßhaftigkeit" eine, aber nicht die einzige Überlebensform ist.
In dem Bemühen um einen sozialisationsbedingten Erklärungszusammenhang der individuellen "Nichtseßhaften Karriere" wird der Blickwinkel jedoch sofort wieder verengt: Im theoretischen Teil der Grundlagenstudie stellt Albrecht ein Modell auf, das den Weg in die Wohnungslosigkeit als Teil einer abweichenden Lebenskarriere versteht, die in der beeinträchtigten Primärsozialisation der ersten Lebensjahre ihren Anfang nimmt und deren späte, aber nicht notwendige Folge Wohnungslosigkeit ist.
Die Feststellung, daß ein großer Teil der Wohnungslosen unter ungünstigen sozialen Bedingungen aufgewachsen ist, ist belegt und unbestreitbar. Keineswegs läßt sich die später eingetretene Wohnungslosigkeit als Folge von Sozialisationsdefiziten verstehen. Naheliegender ist der Schluß, daß dieselben gesellschaftlichen Bedingungen, die auf der einen Seite zu einer beeinträchtigten Primärsozialisation führen können, auf der anderen Seite mögliche Gründe für einen Wohnungsverlust darstellen. Ein theoretischer Zusammenhang zwischen Sozialisationsproblemen mit der späteren Wohnungslosigkeit ist nicht ersichtlich und wurde von den Verfassern solcher Konzeptionen bisher auch noch nicht formuliert (vgl. JOHN 1988, 106).
2.4. "NICHTSESSHAFTIGKEIT" EIN BEGRIFF UND SEINE FOLGEN
Der Begriff "Nichtseßhafte", von dem bisher immer die Rede war, wird 1938 vom SS Standartenführer Seidler als öffentliche und allgemeine Bezeichnung eingeführt und verbreitet. Der Begriff findet seine erstmalige Verwendung in dem vom Bayerischen Landesamt für Wanderdienst herausgegebenen, damaligen Standardwerk "Der nichtseßhafte Mensch. Ein Beitrag zur Neugestaltung der Raum und Menschenordnung im Großdeutschen Reich" (München 1938).
Dieser Ausdruck ermöglicht es im Zusammenhang mit nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wohnungslosigkeit zum Charakterzug, zum Persönlichkeitsmerkmal umzudeuten (vgl. GOSCHLER alias JOHN 1983, 7f und 1988, 32 und AYASS 1984). Dieser angebliche Charakterzug ließ sich dann in die nationalsozialistische Vorstellung von Menschen einbauen. "Nichtseßhafte" werden in dem o.g. Werk als "entartete Natur", "arbeitsscheue Parasiten", "volksschädigend" und "minderwertig" eingeordnet und damit zum Gegenteil des "nordischen Menschen" stilisiert. Ein Charaktermerkmal "Nichtseßhaftigkeit" wird im Sinne der damals betriebenen Erbbiologie als anlagebedingter Persönlichkeitszug gesehen. Dieser Persönlichkeitszug wird in engem Zusammenhang mit "Gemeinschaftsunfähigkeit" gebracht. Insofern ist die Forderung nach der Vernichtung "Nichtseßhafter" und ihre Durchführung logische Konsequenz. Ende 1942 wird vom Hauptamt für Volkswohlfahrt der NSDAP die "rassenhygienische Sonderbehandlung" und "Überführung in Arbeitserziehungslager" dieser "Gemeinschaftsunfähigen" als entscheidender Schritt zu einem "biologischen Endsieg" hin verstanden.
Der Begriff wird nach Kriegsende von der gesamten Wandererfürsorge übernommen und findet bis heute Verwendung.
JOHN (1988, 15f) zitiert in seiner Arbeit die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitteln der Stadt Kiel finanzierte Untersuchung des Kieler Bevölkerungswissenschaftlers Hans W. Jürgens von 1961, der "die Nichtseßhaften als 'Asoziale' einordnet, eine erbbiologische Liste erstellt, aus der 'Asoziale' u.a. an Fingerstellung, Augen, Körpergröße, Konstitution, Haarfarbe und Kopfform erkennbar sein sollen, die 'Volksgemeinschaft' von den so Bezeichneten bedroht sieht, bedauert, daß die Maßnahmen der Nationalsozialisten nicht hart und durchgreifend genug gewesen seien und Zwangssterilisierung und Lagerunterbringung fordert." (JOHN q~ 15f)
2.4.1. "NICHTSESSHAFTIGKEIT" IM SOZIALHILFERECHTLICHEN SINNE
Die seit dem 25.3.1974 gültige Fassung des § 72 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) - Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten - sieht vor: "Personen, bei denen besondere soziale Schwierigkeiten der Teil nahme am Leben in der Gemeinschaft entgegenstehen, ist Hilfe zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu gewähren, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind." (§ 72, Abs. 1, Satz 1 BSHG, neue Fassung).
Die seit dem 9.6. 1976 bestehende Durchführungsverordnung (DVO) zu § 72 BSHG legt fest, an welche Zielgruppen sich der § 72 seinem Anspruch nach richtet:
1. Personen ohne ausreichende Unterkunft. (Die sogenannten Obdachlosen.)
2. Landfahrer. (Der Verwaltungsbegriff für den Personenkreis Sinti und Roma.)
3. Nichtseßhafte.
4. Aus Freiheitsentzug Entlassene.
5. Verhaltensgestörte junge Menschen, denen Hilfe zur Erziehung nicht gewährleistet werden kann.
(Vgl. § 1 Abs. 2 der DVO zu § 72 BSHG)
In den weiteren §§ der DVO zu § 72 BSHG wird ausgeführt, wie die aufgezählten Personengruppen im sozialhilferechtlichen Sinne zu charakterisieren und voneinander zu unterscheiden sind. Es heißt: "Personen ohne ausreichende Unterkunft im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 sind Personen, die in Obdachlosen- oder sonstigen Behelfsunterkünften oder in vergleichbaren Unterkünften leben." (§ 2 DVO zu § 72 BSHG). Dagegen: "Nichtseßhafte im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 sind Personen, die ohne gesicherte wirtschaftliche Lebensgrundlage umherziehen oder sich zur Vorbereitung auf die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft oder zur dauernden persönlichen Betreuung in einer Einrichtung für Nichtseßhafte aufhalten." (§ 4 DVO zu § 72 BSHG).
Ein Vergleich zeigt: Werden Obdachlose aufgrund eines sozialen Kriteriums definiert, erfolgt die Zuweisung des Nichtseßhaftenstatus aufgrund einer angeblich individuellen Handlungsweise - des Umherziehens - oder aufgrund des Aufenthalts in einer Einrichtung der Nichtseßhaftenhilfe.
Die Kommentatoren des BSHG legen die sozialhilferechtliche Definition von "Nichtseßhaftigkeit" im Sinne des Gesetzgebers aus, indem sie als entscheidendes Merkmal "die fehlende feste Bindung zu einem Ort und das fehlende feste dauerhafte Verweilen an einen bestimmten Aufenthaltsort" (SCHELLHORN/ JIRASEK/ SEIPP 1985, 572) nennen und die Ursache der vermeintlichen Bindungslosigkeit anhand individueller Merkmale der "Nichtseßhaften" bestimmen: "Im Gegensatz zu den Landfahrern (...) beruht die unstete Lebensweise bei Nichtseßhaften in der Regel nicht auf Abstammung oder der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. Sie hat ihre Ursache viel mehr in der Struktur ihrer Persönlichkeit oder in den besonderen Lebensumständen oder auch in beidem zusammen." (SCHELLHORN/ JIRASEK/ SEIPP 1985, 572f).
"Nichtseßhafte" werden nicht als "Personen ohne ausreichende Unterkunft" angesehen, sondern als Menschen, die bindungslos "umherziehen", statt an einem festen Ort zu leben; Ursachen werden dabei fast ausschließlich in der Persönlichkeitsstruktur der "Nichtseßhaften" gesucht.
Die o.g. sozialhilferechtliche Definition beinhaltet zudem noch eine in ihren Folgen verhängnisvolle Tautologie: Sie erspart den Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe im Einzelfall aufgrund des Kriteriums "Umherziehen" den Nachweis zu führen, daß der einzelne Wohnungslose, der sich mangels einer anderen Möglichkeit an die Nichtseßhaftenhilfe wendet, tatsächlich "nichtseßhaft" ist:
Er wird es, sobald er aufgenommen ist.
Hier offenbart sich die Widersprüchlichkeit der sozialhilferechtlichen Definition: Wer in einer Einrichtung der Nichtseßhaftenhilfe lebt, macht genau das Gegenteil von "umherziehen". Andererseits weist die Struktur der angebotenen Hilfen zahlreiche Merkmale auf, die die Hilfeempfänger gerade zum Weiterwandern veranlassen. (Vgl. ROHRMANN 1987, 24; HOLTMANNSPÖTTER 1982, 1)
Die Versuche, Merkmale zu finden, die für alle als "Nichtseßhafte" Bezeichneten zutreffen, sind als gescheitert anzusehen. Sie haben in der Regel zu unkontrollierten Zuschreibungen solcher Merkmale geführt.
2.4.2. ERKENNTNISFALLE "NICHTSESSHAFTIGKEIT" HOLTMANNSPÖTTER
In seinem "Plädoyer zur Trennung von dem Begriff 'Nichtseßhaftenhilfe"' von 1982 argumentiert Holtmannspötter, der Begriff sei eine "Erkenntnisfalle":
"Auch wenn das Hilfesystem selbst als frühere Wanderhilfe Gründe genug zum Weggehen aufweist (Übernachtungssystem, immer noch weitgehend undifferenzierte Aufnahme und Hilfeangebote auf dem Niveau der Versorgung und Unterbringung gegen Arbeit) und zusätzliche weitere Anlässe zum Weglaufen enthält (Industriearbeit für Almosen/ Prämie, Stigmatisierungsgefahr usw.) können die Betroffenen, wenn sie weggehen, immer nur ihre "Nichtseßhaftigkeit" bezeugen. Sie bestätigen damit unvermeidlich jede beliebige Theorie, die das Merkmal "Weggehen" mit einem anderen Merkmal aus der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen in ursächlicher Erklärungsabsicht kombiniert." (HOLTMANNSPÖTTER 1982, 1).
Aus diesem Grund fordert HOLTMANNSPÖTTER, den Begriff nicht weiter zu benutzen. Er sei eine Erkenntnisfalle, die ein Begreifen des Handelns und der Lage der Betroffenen nachhaltig verhindert.
Zudem ist er "inzwischen eine unbrauchbare Verwaltungskategorie geworden. Wenn der Begriff überhaupt eine nützliche Funktion hatte, so hatte er eine solche einzig als Verwaltungskategorie zur Abrechnung und Zuordnung von Zuständigkeiten, als Geld- und Buchungskonto für die eigenen existenzerhaltenden und notwendigen Verwaltungsvorgänge." (HOLTMANNSPÖTTER 1982,1).
Die Definition nach § 4 der DVO zu § 72 BSHG lege die Betroffenen tautologisch auf eine nichtseßhafte Lebensform und eine daran ausgerichtete Hilfe fest. Insofern sei der Begriff für die Betroffenen "existenzgefährdend".
Die Diskussion um die Problematik des Begriffs wird nach diesem Artikel weiter geführt. ALBRECHT (1985) stellt fest: "Die weitere Theoriebildung wird daher gut daran tun, sich entschiedener als bisher von dieser Instanzenkategorie zu befreien, da sie offensichtlich immer noch unseren Blickwinkel verengt." (ALBRECHT 1985, 1). EHLERS/ STENGLER/ WOLF (1985, 10) schlagen den Begriff des "alleinstehenden Wohnungslosen" vor, der fortan auch gelegentlich Verwendung findet.
Für GIESBRECHT besteht die Schwierigkeit im Umgang mit dem Begriff darin, "eine möglichst breite Verständigung mit der Fachwelt und einer darüber hinausgehenden Öffentlichkeit zu erreichen." Das scheint "zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne den Rückgriff auf die Kategorie 'Nichtseßhafter' schwierig zu sein." GIESBRECHT 1987, 11 ) .
Einen wesentlichen Fortschritt in der Diskussion bringt m.E. erst der Beitrag von ROHRMANN (1987):
2.4.3. "NICHTSESSHAFTIGKEIT" ALS PRAXISFALLE - ROHRMANN
ROHRMANN argumentiert folgendermaßen: Läge es nur am Begriff, ließe sich der ohne weiteres durch einen an deren, angemesseneren ersetzen. Offenbar geht es aber um das Vorgehen, mit dem das Phänomen, das mit "Nichtseßhaftigkeit" bezeichnet wird, begrifflich zu fassen ist. Ohne Zweifel gibt es ein solches gesellschaftliches Problem, welches mit dem Nichtseßhaftenbegriff gemeint ist. Nur entspricht dieses Phänomen nicht dem Verständnis, das üblicherweise mit dem Begriff verbunden wird. Von diesem falschen Verständnis gehen zu weiten Teilen sozialarbeiterische und administrative Reaktionen aus.
Nicht also der Begriff, sondern das Verständnis, das sich mit ihm verbindet, ist die Erkenntnisfalle. Das Verständnis ist aber nicht nur Voraussetzung der gesellschaftlichen Reaktionsformen, sondern auch gleichzeitig deren Folge.
Die Überwindung dieses Verständnisses kann somit "nur im Zusammenhang mit einer Aufhebung der gesellschaftlichen Praxis im Umgang mit eben dem Phänomen, das mit dem Nichtseßhaftenbegriff gemeint ist, erfolgen." (ROHRMANN 1987, 26). Was ein politisches, aber kein definitorisches Problem ist.
Die Folgerung, die sich daraus ergibt, ist, daß "nicht der Nichtseßhaftenbegriff als solcher eine Erkenntnisfalle ist, sondern das gesellschaftliche Verständnis und die gesellschaftliche Praxis, die sich mit diesem Begriff verbinden. Allein eine Änderung der Praxis und nicht bloß des Begriffes kann auch das Verständnis von "Nichtseßhaftigkeit" ändern." (ROHRMANN 1987, 27)
ROHRMANN ist hier zuzustimmen. Diese Position ist unbedingt von allen zu berücksichtigen, die sich mit der Lebenslage Wohnungsloser befassen oder befassen wollen.
2.5. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
Mittels verschiedener theoretischer Modelle soll Wohnungslosigkeit ursächlich erklärt werden. Die psychiatrisch-neurologisch und die psychologisch orientierten Konzepte schreiben der Persönlichkeit der Wohnungslosen Merkmale oder Eigenschaften zu. Diese Unterstellungen konnten keiner Überprüfung standhalten. Die soziologisch orientierten Konzepte reduzieren die Gründe von Wohnungslosigkeit auf Ursachen wie Kommunikationsprobleme, Stigmatisierungsprozesse, Sozialisationsdefizite u.ä. Damit ist das Problem Wohnungslosigkeit nicht vollständig erfaßt, die Erklärungsansätze sind nicht zwingend, oder sie blenden strukturelle Bereiche gesellschaftlicher Realität als mögliche Ursachen aus.
Der Begriff "Nichtseßhafte", 1938 für die Personengruppe der Wohnungslosen eingeführt, findet bis heute Anwendung. In der sozialhilferechtlichen Definition erfolgt die Zuweisung des Status "Nichtseßhaftigkeit" im Unterschied zu den Obdachlosen aufgrund eines individuellen Kriteriums oder aufgrund des Aufenthalts in einer Einrichtung der Nichtseßhaftenhilfe. Mit dem Begriff ist ein gesellschaftliches Verständnis und ein System praktischer Hilfeangebote verbunden, mit denen ein "Prinzip Nichtseßhaftigkeit" erst begründet wird:
Zum einen durch die tautologische Zuschreibung von "Nichtseßhaftigkeit", zum anderen durch die Struktur der angebotenen Hilfen, die Wohnungslose oftmals zum Weitergehen veranlassen. Sie können damit immer nur das bestätigen, was ihnen unterstellt wird.
Wer dem Problem der Lebenslage Wohnungsloser, ihren Ursachen und der Frage nach Hilfsangeboten für diese Gruppe gerecht werden will, muß zu den bestehenden theoretischen Modellen in kritische Distanz gehen und sich von dem Begriff, dem gesellschaftlichen Verständnis und der gesellschaftlichen Praxis "Nichtseßhaftigkeit" verabschieden.
Von diesem Ziel sind der augenblickliche Stand der Forschung und die gesellschaftliche Praxis noch weit entfernt. Für mich in meiner Forschungsarbeit kommt es darauf an, ausgehend von der o.g. Position eine Herangehensweise zu entwickeln, die bewußt auf den Begriff und das Verständnis "nichtseßhaft" verzichtet.
In dieser Arbeit werden die ohne Wohnung lebenden Menschen durchgängig als WOHNUNGSLOSE bezeichnet.
Dieser Begriff beschreibt genau den Personenkreis, für den bisher weitgehend der Begriff "Nichtseßhafte" gebraucht wurde. Der Begriff Wohnungslose bezeichnet als einziger relativ exakt und konkret, in welcher Situation sich der betroffene Personenkreis befindet. Außerdem ist er als einziger frei von falschen Eigenschaftszuschreibungen.
Der Ausdruck Wohnungslose soll dabei "keineswegs den vorschnellen Schluß nahelegen, das wesentliche Problem bestände (allein!, der Verf.) im Fehlen einer Wohnung. (...) Der Begriff "wohnungslos" hat vor allem die Funktion, das wesentliche gemeinsame Merkmal der Betroffenen eher äußerlich und neutral zu benennen und Vorurteilsbildungen abzuwehren." (JOHN 1988, 36).
Da die Situation Wohnungsloser eine grundlegend andere ist als die der in Einrichtungen der Obdachlosenhilfe untergebrachten obdachlosen Familien oder Teilfamilien, ist der gelegentlich verwendete Zusatz "alleinstehend" nicht notwendig.
Wohnungslose handeln nicht aufgrund eines Wandertriebes, sie weisen auch sonst keine Persönlichkeitsmerkmale auf, mit denen ihre Lebenssituation ursprünglich zu erklären ist. Wohnungslose sind zunächst und zu allererst arme Menschen. Diese Armut ist ihnen gemeinsam, diese Armut teilen sie auch mit anderen Menschen.
Eine solche Position, Wohnungslose zunächst als arme Menschen zu verstehen, erfordert eine grundsätzlich andere Herangehensweise an das Problem Wohnungslosigkeit. Eine Herangehensweise, die das gesellschaftliche Ausmaß der Armut einerseits und die individuellen Lebensbedingungen in der Armut andererseits als zwei Seiten einer Wirklichkeit in ihrer konkret-historischen Entwicklung und ihrer Veränderbarkeit als Ergebnis gesamt-menschlichen Handelns verständlich macht.
Weiter zum nächsten Kapitel
Zurück zum Inhaltsverzeichnis