Was bisher geschah...
Folge 1: Das Abgeordnetenhaus von Berlin befaßt sich auf seiner Sitzung am 7. Mai 1998 mit dem Problem Obdachlosigkeit.
Folge 2: Das Abgeordnetenhaus fordert den Senat auf, einen Obdachlosenrahmenplan zu erstellen und dem Abgeordnetenhaus zur Kenntnis zu bringen.
Folge 3: Der Senat wiederum beauftragt dazu die dafür zuständige Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales.
Folge 4: Die Senatsverwaltung wiederum richtet zur Umsetzung der Beschlußlage eine "Beratergruppe Wohnungslosenpolitik" unter der Leitung von Senatorin Hübner ein.
Folge 5: Gleichzeitig erarbeiten die Fachabteilungen der Senatsverwaltung als Beratungsunterlage ein Papier "Leitlinien und Maßnahmen- bzw. Handlungsplan der Wohnungslosenhilfe und -politik".
Folge 6: Das Papier wiederum wird mit den anderen beteiligten Senatsverwaltungen in den wesentlichen Grundzügen abgestimmt ...
Folge 7: ... und der Beratergruppe vorgelegt.
Folge 8: "Zu einem späteren Zeitpunkt" soll die Schlußzeichnung durch die politische Leitung in Verbindung mit der Erstellung der Senatsvorlage erfolgen. Möglicherweise dann im Mai 1999 oder später befaßt sich das Abgeordnetenhaus von Berlin wieder auf einer Sitzung mit dem Problem Obdachlosigkeit. Es fordert den Senat auf ....
Schaut man sich einmal an, was denn nun in diesem Papier "Leitlinien und Maßnahmen- bzw. Handlungsplan der Wohnungslosenhilfe und -politik" so erarbeitet worden ist, so sind die Ergebnisse wahrhaft spektakulär. Generelles Ziel der Wohnungslosenpolitik soll sein "Prävention (Vermeidung von Wohnungsverlust) und (Re-)Integration (Rückführung in eigenen Wohnraum und in gesellschaftliche Bezüge) im Zusammenhang mit einer sozialen Wohnungspolitik." Wer würde dem nicht zustimmen können? Ziel ist weiterhin: "Unterbringungen in Einrichtungen ohne qualifizierte Betreuung nach §72 BSHG (...) zu vermeiden". Man will die sogenannten "Läusepensionen" nicht mehr haben, was ja verständlich ist, weil es sich mittlerweile herumgesprochen hat, daß die Zustände einer solchen zwangsgemeinschaftlichen Unterbringung nun nicht immer zum Besten bestellt sind. Aber was ist mit den Wohnungslosen, die diese Betreuung gar nicht wollen? Ach so, daß sind die "auf der Straße lebende(n) Menschen, die perspektivisch nicht in eigenständige Lebensverhältnisse und eigenen Wohnraum integriert werden können oder wollen". Für diese gilt dann Ziel 3, nämlich "niedrigschwellige Einrichtungen mit Motivationshilfen (Beratungsstellen, Treffpunkte, Notübernachtungen und medizinische Behandlungen etc.) anzubieten, um ein Leben auf der Straße weitestgehend zu verhindern bzw. dieses menschenwürdig zu ermöglichen."
Die größte Herausforderung einer Wohnungslosenpolitik ist die Frage nach den Menschen, die auf der Straße leben und was dazu an Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen und entwickelt wird. Nun gibt es in Berlin eine Reihe von Einrichtungen und Projekten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, gezielt mit Wohnungslosen zusammen Selbsthilfe oder Hilfe zur Selbsthilfe zu organisieren. Diese arbeiten vorrangig mit obdachlosen Menschen, die auf der Straße leben, zusammen oder wollen gerade diese Menschen erreichen. Auffällig ist, daß Selbsthilfeprojekte wie die Straßenzeitungen, die genau in diesem Bereich erfolgreich arbeiten, in dem Papier weder Erwähnung finden noch in der Beratergruppe Wohnungslosenpolitik in irgendeiner Form vertreten sind.
Schaut man sich weiterhin an, welche Positionen die "Leitlinien und Maßnahmen- bzw. Handlungsplan der Wohnungslosenhilfe und -politik" zu den auf der Straße lebenden Menschen enthalten, ergibt sich ein widersprüchliches Bild.
Da ist zum einen von einer "Dunkelziffer von ca. 2.000 - 4.000 auf der Straße lebender Menschen in Berlin" die Rede. Menschen, die man nicht kennt, die man folglich auch nicht erreichen kann. Also bleibt alles so, wie es ist. Auf der anderen Seite wird gleich danach festgestellt, daß "ein größerer Teil dieser Menschen (...) in Einrichtungen ohne qualifizierte Betreuung nach § 72 BSHG (kommunale Obdachlosenheime, Pensionen und Wohnheimen gewerblicher und freier Träger, Kältehilfeeinrichtungen kirchlicher Träger in der Winterzeit) untergebracht" ist. Also doch keine Dunkelziffer? Man entledigt sich des Problems, in dem man Absätze später einfach feststellt: "daß es bisher und künftig Personenkreise gibt und geben wird, die aus den verschiedensten Gründen das vorhandene Hilfesystem nicht annehmen werden. Insbesondere die auf der Straße lebenden Menschen mit unterschiedlichsten Problemlagen (...) sind Phänomen und Grundproblem von Großstädten im In- und Ausland."
Daß vielleicht - wie es in Betroffenengruppen häufig diskutiert wird - die Struktur der Hilfeangebote selbst dafür verantwortlich zu machen ist, daß es so ist, daß die Leute die Schnauze voll haben von Angeboten, in dem sie Suppe und Söckchen kriegen und zum Ladenschluß wieder gehen dürfen und so wie Flipperkugeln durch die Stadt geschossen werden, das wird gar nicht in Betracht gezogen. Aber soviel Selbstkritik ist einer Senatsverwaltung und den Trägern der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe auch gar nicht zuzumuten. Denn Obdachlosigkeit ist ein Wirtschaftsfaktor...
Gerade den Leuten, denen es auf der Straße richtig dreckig geht, bedürfen am meisten der Hilfe. Aber genau diesen Menschen zu Helfen, ist eine der schwierigsten Aufgaben. Man wird feststellen müssen, daß Hilfe in diesem Bereich oftmals nur Sterbebegleitung sein kann. Also wäre über Sterbebegleitung zu sprechen - aber kein Wort davon in diesem Papier. Man müßte sich Fragen, warum Hilfeangebote nicht angenommen werden, warum Integrationsangebote nicht greifen und ob es zwischen dem Leben auf der Straße und einer Integration noch soetwas wie einen dritten Weg gibt. Statt dessen wird festgestellt, daß die Situation von Menschen auf der Straße in besonderer Weise durch "erhebliche soziale Schwierigkeiten in Verbindung mit komplexen Problemlagen" gekennzeichnet ist. Viel zu schwierig, um das anzupacken!
"stark verwahrloste Langzeitpolitiker und Verwaltungsfachleute, die bereits über längere Zeit politische Probleme vor sich herschieben".
Immer wieder wird in den Leitlinien festgestellt, daß "ein Teil dieses Personenkreises zwar die Grundversorgung in Anspruch nimmt, jedoch die weiterführenden Angebote im Versorgungssystem ablehnt". Einmal wieder sind die Obdachlosen selbst schuld, wenn sie sich nicht reintegrieren lassen wollen. Wem das noch nicht als Abschreckung reicht, dem wird gesagt, hier handele es sich um "stark verwahrloste Langzeitwohnungslose, die bereits über längere Zeit auf der Straße leben". Menschen mit komplexen Problemlagen, "die geprägt sind von Arbeitslosigkeit, Defiziten in der schulischen und beruflichen Ausbildung, Überschuldung, Straffälligkeit, zerstörten/fehlenden familiären und sozialen Beziehungen, Straßenprostitution, Suchtabhängigkeit, akuten und psychischen Erkrankungen."
Kein Unternehmer auf der Welt würde es auch nur wagen, seinen Kunden die Schuld zu geben, wenn sein Produkt sich nicht verkauft. Er würde vielmehr prüfen: Ist mein Produkt schlecht, kann es verbessert werden, ist es vielleicht nicht bekannt genug, ist es zu teuer, bedient es überhaupt den Bedarf, trifft es überhaupt die Interessen meiner Kunden, was will eigentlich der Kunde? Nur in der Obdachlosenpolitik ist es offenbar anders. Wenn hier die Kunden nicht erreicht werden, sind die Kunden schuld. Das Angebot ist optimal, nur die Obdachlosen wollen nicht. Sie greifen nur die Grundversorgung ab und haben gar kein Interesse an meinen Angeboten der Integration.
Spätestens hier ist es an der Zeit, den Begriff der (Re-)Integration (= Eingliederung bzw. Wiedereingliederung in eine bereits bestehende Gruppe) grundsätzlich in Frage zu stellen. Jeder weiß, daß eine Gruppe in der Lage ist, nicht nur einzugliedern, sondern auch auszugrenzen. Vielen Obdachlosen, insbesondere jenen, die auf der Straße leben, ist der Glaube abhanden gekommen, jemals wieder in der Gesellschaft eine tragende Rolle übernehmen und wahrnehmen zu können. Ihre komplexen Problemlagen sind der deutlichste Hinweis darauf, daß in dieser Gesellschaft einiges nicht in Ordnung ist. Viele Obdachlose wollen auch deshalb nicht mehr integriert werden, weil sie nicht mehr können, weil sie unter den bestehenden Bedingungen der Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft einfach nicht mehr können.
Eine vernünftige, kundenorientierte Obdachlosenpolitik hätte hier zu fragen, was die auf der Straße lebenden Menschen denn statt dessen noch wollen und können und hätte dem Rechnung zu tragen. Gerade Selbsthilfeprojekte - die aber in diesem Papier der "Leitlinien und Maßnahmen- bzw. Handlungsplan der Wohnungslosenhilfe und -politik" gar nicht vorkommen - haben sich hier völlig andere Ziele gesetzt.
An erster Stelle steht die unmittelbare Veränderung und Verbesserung der eigenen, oftmals beschissenen Lebenssituation. Aus eigener Kraft und mit Hilfe anderer wieder ein paar Mark verdienen, offen über seine Situation zu reden und zu überlegen, wo will ich denn hin, das sind wichtige Ziele. Ein obdachloser, auf der Straße lebender Mensch muß wissen, wofür und warum er denn aufhören sollte mit der Sauferei, warum er denn wieder arbeiten sollte, warum er sich um eine Wohnung kümmern sollte usw.
All diese Fragen können aber nur beantwortet werden, wenn man sich die Mühe macht, dies mit den "Betroffenen" zusammen herauszufinden und wenn man sich die Mühe macht, den Betroffenen die Möglichkeit dazu zu geben. Dann muß man sich aber auch vor Augen führen, daß die sogenannten Betroffenen möglicherweise etwas ganz anderes wollen als das, was ein Handlungsplan der Wohnungslosenhilfe und -politik aufzeigt. Erst wenn das, was die Wohnungslosen wollen oder wollen könnten, aufgeschrieben ist und die Politik sich die Mühe macht, zu überlegen, wie dem konzeptionell entsprochen werden kann, kann von einer vernünftigen Wohnungslosenpolitik die Rede sein.
In den nächsten Folgen erwarten Sie Antworten auf folgende Fragen:
Wie wird es weitergehen? Wird "zu einem späteren Zeitpunkt" die Schlußzeichnung durch die politische Leitung in Verbindung mit der Erstellung der Senatsvorlage erfolgen? Wird die Senatsvorlage dann dem Abgeordnetenhaus vorgelegt? Was wird das Abgeordnetenhaus tun? Wird es sich wieder mit dem Problem Obdachlosigkeit befassen? Wozu wird der Senat dann aufgefordert? Werden weitere Papiere erstellt? Werden die Politiker und die Verwaltungsbeamten weiter verwahrlosen?
Stefan Schneider
Editorische Notiz: Wann und wo und ob dieser Beitrag veröffentlicht worden ist, ist mir zur Zeit noch nicht klar. Die Datei enthält die Datumsangabe 03_1999, und zum damaligen Zeitpunkt wurde das auch so diskutiert.