Das vorliegende Buch zu besprechen ist nicht ganz einfach, vor allem eingedenk der Tatsache, daß doch der eine oder andere Leser angemerkt hat, nicht unbedingt gerne schwierige Texte mit umständlichen Fremdwörtern lesen zu wollen. In dem Buch von Florian Oberhuber, das bereits 1999 im Wiener Turia + Kant Verlag erschienen ist mit der Überschrift "Die Erfindung des Obdachlosen" geht es auf 171 Seiten zum stolzen Preis von DM 42,-- um eine "Geschichte der Macht zwischen Fürsorge und Verführung", so die Unterüberschrift. Im Verzeichnis der für die Erstellung dieses Buches benutzen Unterlagen listet der Verfasser 189 Schriftwerke und Bücher auf, dazu 6 amtliche Dokumente, Gesetze und Verordnungen, 5 Forschungsberichte, 2 Interviews, 10 Jahresberichte, 2 Zeitschriften. Hinzu kommen 9 schwarzweiße Abbildungen nebst Bildnachweis sowie ergänzend 136 Anmerkungen. Die eigentliche Abfassung enthält neben der Einleitung drei Abschnitte: "Über die Art und Weise, Subjekte zu produzieren", "Über einige Arme in den Armen der Re-Inkusion" sowie "Über die Wiedergeburt des Wohnungslosen und die Netze des Gleichen". Soviel dazu.
Im Kern geht es in dem Buch um den Versuch, zu zeigen, daß das Gedankengebäude von Michel Foucault, einem wohl großen französischen Querdenker des 20. Jahrhunderts dazu taugt, etwas neues über Obdachlose oder vielleicht vielmehr über unser Denken von Obdachlosigkeit zu begreifen. Dabei spielt der Begriff Subjektivität eine große Rolle und wie diese zustande kommt. Das Wort Subjekt kommt dabei aus dem Lateinischen (subicio) und meint eigentlich: unterwerfen, unterordnen, aber gemeinhin bezeichnen Geisteswissenschaftler heute mit dem Begriff den unteilbaren, unverwechselbaren, mit eigenem Willen und eigener Lebensgeschichte ausgestatten einzelne Menschen anschaulich an und für sich, der eben nicht Opfer ist, sondern Handelnder, Täter, Gestalter. Nun ist die Frage, wie kommt diese Eigenheit zustande und darauf hat die Menschheit in ihrer Geschichte ganz unterschiedliche Antworten gefunden. Grob skizziert gibt es mehrere Denkrichtungen, etwa zu sagen, das ist einfach da, oder das ist von Gott gegeben oder das ist nur Einbildung. Foucault greift, vereinfacht gesagt, im Wesentlichen zwei Denkrichtungen auf aus dem späten 19. Jahrhundert beziehungsweise aus dem frühen 20. Jahrhundert auf, nämlich die von Karl Marx, der sagt, daß dieses Besondere in seiner Wirklichkeit nichts anderes ist als das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse und auf der anderen Seite die Denkrichtung des Seelenforschers Siegmund Freud, der versucht, das Unverwechselbare des Einzelnen genauer als Ergebnis eines inneren Geburtsvorgangs zwischen biologischen Triebkräften und gesellschaftlicher Verstandeskraft zu beschreiben. (An beiden Enden haben viele Leute weitergedacht, ich will hier nur die Stichworte nennen.) Foulcault, von beiden und vielen anderen offenbar beeinflußt, sagt offenbar nein zu diesem jeweils einseitigen Denken und meint, so habe ich es verstanden, etwas anderes: Wir müssen uns Subjektivität, eben dieses einzigartige des Einzelnen und deren Entstehung in einem Dreieck denken, dessen andere Eckpunkte Wissen und Macht sind. Wo Wissen und Macht walten, und das tun sie eigentlich immer, wo es Menschen gibt, da wird das geformt, was Subjektivität ausmacht. Wobei diese Subjektivität eben nicht nur den vereinzelten Einzelnen formt, sondern dieses Wechselspiel ist auch derart ausgestaltet, daß beliebig viele Sammelzuschreibungen hergestellt werden können, die eben viele Einzelne als die einzelnen anderen beschreiben in dem Sinne, daß daraus die Anderen werden. Damit hat er eine Art gedankliche Klammer hergestellt, mit der er sowohl das Nachdenken über gesellschaftliche wie auch über seelische Verhältnisse zusammenführen und zeigen kann, wie beides ineinander übergehend arbeitet.
Man merkt, da steckt sehr viel Gedankenkraft dahinter, und das kann machmal sehr einfältig werden - Von nichts kommt Nichts" - und ist bisweilen sehr gefährlich - "Aber der Kaiser ist ja nackt!" Oberhuber wendet dieses Denken von Foucault nun auf Obdachlosigkeit an und zeigt, daß erst dort, wo sich Menschen damit befassen, was andere Menschen tun oder nicht oder wohnen oder nicht, ein Wissen hergestellt wird, das Unterscheidungen herstellt und sortieren hilft, was machtgemäß ist und was nicht. Er zeigt daß sich mit der Macht und dem Wissen auch die Werkzeuge verändern und verbessern, wie schwierige Leute einbezogen und ausgegrenzt werden und worin der Fortschritt besteht. Der neuzeitliche Obdachlose entsteht erst dort, wo es eine Notwendigkeit gibt zu einer durchgehenden Seßhaftigkeit, wo Macht- und Wissendurst Melderegister entstehen lassen und erst dadurch das herausgearbeitet wird, was den anderen ausmacht, der nicht dazugehört. Der Autor beschreibt, daß früher Arbeitslager und körperliche Strafen wichtige Herrschaftswerkzeuge waren, und es heute Drohung genug ist, Herrschaft durch Straßensozialarbeit oder gar die Organisation von Selbsthilfeprojekten ausüben zu wollen.
Ich habe einige Mühe gehabt, zu verstehen, worauf Florian Oberhuber mit seinem Buch eigentlich hinaus will: Zunächst hatte ich den Eindruck, dieses ewige Meckern und Kritteln an allem und jedem ist im Grund ja eigentlich zerstörerisch und bringt nichts. Weg mit dem Buch! Inzwischen bin ich aber der Meinung, Oberhuber will sagen, laßt doch mal das ewige Beforschen und Reden über Probleme, Betroffene, Zielgruppen und Konzepte links liegen und tut Euch mal in Euren Kopf rein, daß jeder und jede das Recht hat, zu tun und zu lassen, was er oder sie will - solange das, siehe Macht und Wissen - keinen anderen ausbeutet oder schadet. Schluß jetzt mit dem Terror durch Fürsorge und Verständnis für die armen Obdachlosen! Fangt endlich an, nach oben gucken, um das wahre Elend auf dieser Welt zu entdecken. Keine leichte Aufgabe also, selbst für einen geneigten Leser.
Robert Thiel
Oberhuber, Florian: Die Erfindung des Obdachlosen. Eine Geschichte der Macht zwischen Fürsorge und Verführung. Wien: Verlag Turia und Kant 1999. 171 Seiten, 42,-- DM
Editorische Notiz: Eine Rezension, die ich im Strassenfeger veröffentlicht habe. Die genaue Ausgabe und Seitenangabe muss ich noch heraussuchen. Ich hatte damals mit dem Pseudonym Robert Thiel gearbeitet, um jetzt nicht in Gedränge mit meiner anderen Rolle als Vorsitzender des Herausgebervereins zu kommen, sondern um die Möglichkeit zu haben, etwas freier argumentieren zu können. Brüssel, 12.11.2010, Stefan Schneider.