In einer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft ist es absurd, mit den Gescheiterten zusam­menzuarbeiten. Ruhm, Ehre, Anerkennung, Erfolg, Karriere und Geld ist damit schlecht zu machen.

Es sind die Verlierer, die mit den Verlierern zusammenarbeiten. Leute, die woanders nichts werden können und sich dann notgedrungen und mangels anderer Alternativen denen zu­wenden, denen es noch schlechter geht. Man muß nicht viel können, um im Vergleich zu denen, bei denen alles schief gelaufen ist, gut dazustehen. Die soziale Arbeit und überhaupt die Zusammenarbeit mit Wohnungslosen ist deshalb ein Pakt der Erfolglosen ohne Aussicht auf Erfolg.

Es ist ein mieses Spiel, eine Identität und Anerkennung auf Kosten derer herzustellen, denen es noch schlechter geht.

Es ist nicht zufällig, wer sich für Wohnungslose engagiert. Ein Engagement in diesem Be­reich läßt Rückschlüsse zu auf die Person, die solches tut. Menschen, die sich für Woh­nungslose engagieren, sind selbst innerlich wohnungslos, ruhelos, unbeständig, labil, süchtig, schwach. Sie bearbeiten in ihrem Engagement bei anderen das, was sie für sich selbst bewältigen müßten - und lenken damit von ihren eigenen Problemen ab.

Während hinsichtlich des Bezugs von Sozialhilfe ein einklagbarer Rechtsanspruch besteht, ist der Einbezug von Wohnungslosen bei diesen sogenannten Obdachlosenzeitung ein Will­kürakt sondergleichen. Obdachlose dürfen dankbar sein, wenn von Ihnen auch einmal etwas gedruckt wird.

Die Wohnungslosenzeitungsprojekte sind durchgängig keine, die aus der Wohnungslosenszene heraus entstanden sind und von ihnen getragen werden. Die Macher sind nicht die Woh­nungslosen, sondern andere. Die Wohnungslosen sind bestenfalls - akzeptierte - Mitmacher. Die Macht und die Entscheidungsgewalt über die Zeitung haben letztlich die anderen (an sich gerissen oder bereits von vorneherein besessen) - aber nicht die Wohnungslosen. Ihnen wird Mitsprache gewährt - und das von Projekt zu Projekt im unterschiedlichem Maße - mehr nicht. Etwas anderes zu behaupten hieße, eine Realität umzulügen.

Wohnungslosenzeitungsprojekte sind deshalb nichts weiter als eine weitere Spielart der Entmündigung Wohnungsloser - das ist zwar nicht auf den ersten Blick offensichtlich, aber es ist so.

In diesem Zusammenhang von einer Selbstorganisationsform Wohnungsloser zu sprechen, ist ein blanker Hohn.

Aufgrund dieser strukturellen Bedingungen sind Wohnungslosenzeitungen von Ihrer Tendenz her keine revolutionäre, sondern in erster Linie reaktionäre Fortentwicklung im Bereich gesellschaftlicher Armut. Auch wenn sie sich inhaltlich fortschrittlich und links geben, sind sie ihrem Wesen nach reaktionär. Die bestehende Wohnungslosigkeit wird dadurch nicht angetastet und reduziert, sondern zementiert, auf Dauer gestellt.  Obdachlosenzeitungen leben deswegen, weil niemand ernsthaft vorhat, eine gesellschaftlich durchgängige Wohn­raumversorgung für alle zu gewährleisten. Wer Wohnungslosenzeitungen haben und machen will, der will auch Obdachlosigkeit haben - die große Lüge besteht nur darin, daß niemand es öffentlich zugibt.

Die Wohnungslosen haben die Freiheit, diese Zeitungen verkaufen zu dürfen, so wie sie auch die Freiheit haben, unter der Brücke zu schlafen.

Wohnungslosenzeitungen sind in erster Linie ein Geschäft, wenn auch immer wieder ver­sucht wird, dem ein Etikett "sozial" anzuheften. Der Kern des Ganzen kann dadurch nicht kaschiert werden: Es ist und bleibt ein Geschäft. Auf die Wirkungen kommt es letztlich gar nicht an. Es kommt darauf an, ob das Geschäft funktioniert, d.h. sich rechnet. Es ist ein Ge­schäft mit den Obdachlosen - einmal mehr werden die Wohnungslosen den Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Warenbeziehungen unterworfen - ja mehr noch, sie dürfen es freiwillig tun - wir leben ja schließlich in einer Demokratie und nicht in einer Diktatur.

Mit dem Entstehen von Obdachlosenzeitungen ist vor allem eines passiert: Eine Marktlücke wurde entdeckt und wird derzeit erschlossen. Das Leben und der Lebensgewinnungsprozeß - es könnte ja alles so schön sein - wird einmal mehr kapitalistisch verfremdet und perver­tiert.

Aussichtslose Beschäftigungstherapie - mit den paar Mark für den Verkauf der Zeitungen - mal essen gehen, mal saufen gehen, sich Klamotten kaufen zu können - ist letztlich nichts gewonnen, nichts verändert. Wohnungslosenzeitungen sind nichts anderes als eine Spielart der Armenfürsorge und damit von der Struktur identisch mit den ganzen Suppenstuben und Kleiderkammern. Wohnungslose dürfen darum betteln, daß ihnen etwas gewährt wird. Der Unterschied ist lediglich - sie halten ein Produkt in der Hand, mit dem sie es tun, und sie können es in der gesamten Öffentlichkeit tun und sind nicht mehr darauf angewiesen, in ir­gendwelche Einrichtungen gehen zu müssen.

Wohnungslosenzeitungen sind eine marktwirtschaftliche Variante des Bettelns. So, wie Ar­beitslose bei den Firmen um einen Job betteln gehen und dafür den Einsatz ihrer Kompe­tenzen und Arbeitskraft anbieten. So wie Wohnungssuchende um eine Wohnung betteln gehen und dafür Geld anbieten, sofern sie welches haben. Fast die ganze Gesellschaft ist eine Ge­sellschaft von Bettlern - mit den Obdachlosenzeitungen wurde eine neue Kaste geschaffen. Zeitungsverkäufer betteln mit ihrer Zeitung ums Überleben, mehr nicht.

Nahezu alle Wohnungslosenzeitungen sind inhaltlich vollkommener Nonsens. Schmusewatte, die letztlich irrelevant ist. Irgendwelche mehr oder weniger bekannten Heinis dürfen in Interviews öffentlich ablabern, was ihnen so im besonderen und allgemeinen einfällt. Texte und Portraits von irgendwelchen Gescheiterten, für die sich ja sonst auch niemand Interes­siert, werden einem Publikum gleichsam aufgedrängt. In Leitartikeln und Editorials wird irgendwelcher moralischer Kram über die Wohnungsmisere herauf- und heruntergeleiert - als ob das irgendetwas ändern würde. Die Zeitungen sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Sie bewirken nichts - außer eine zusätzliche und überflüssige Zirkulation von Geld und Material und vor allem: Zeit und Energie, die die Beteiligten daran ver­schwenden.

Obdachlosenzeitungen als politische Waffe hat bisher noch niemand entdeckt oder besser, niemand hat sich da rangetraut. Im Gegenteil, die Zeitungen werden als Sozialwatte benutzt.

Die neuen Stars der Obdachlosenszene sonnen sich im Rampenlicht der Öffentlichkeit - was für eine große Schau!

Stefan Schneider 12.10.94
(anläßlich eines Gesprächs mit einer Kollegin), zur internen Diskussion innerhalb des mob-projekts - nicht zur Verbreitung

Editorische Notiz: Ich glaube das nennt man lästern, schlecht über andere zu Reden und dabei sich selbst nicht auszuschließen - mit einer guten Prise Humor und Selbstironie. Damals hatte ich wohl deshalb den Vermerk hinzugefügt "nicht zur Verbreitung", weil ich diesen Text nicht unbedingt gedruckt sehen wollte. Ausserdem war meine eigene Position mir nicht vollkommen klar. Wenn mir heute jemand sagen würde, ich hätte mich über und vielleicht auch auf Kosten von Wohnungslosen profiliert, ich würde es deutlich nicht verneinen. Anyway, es wäre damals kontraproduktiv gewesen, einen solchen Text zu drucken, aber dass wir auch so darüber dachten, war eigentlich gar kein Geheimnis. Aus diesem Grund denke ich, ist es jetzt an der Zeit, dieses Dokument aus dem Jahr 1994 zu veröffentlichen. Rotterdam, 11.12.2010 Stefan Schneider

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