Stefan Schneider

Wohnungsnot in Polen -
Beispiele aus Gizycko

Gizycko (früher: Lötzen) in der Wojewodschaft Suwalki im Nordosten Polens (dem früheren Ostpreußen) ist mit nahezu 30.000 Einwohnern eine durchschnittliche polnische Kleinstadt inmitten der Masurischen Seenplatte, und damit vor allem in den Sommermonaten Zentrum für Wassersportler aus allen Gegenden Polens und zunehmend auch aus westlichen Ländern, dazu kommt eine nicht unerhebliche Anzahl von Heimwehtouristen. In der dennoch strukturschwachen und dünnbesiedelten Region ist Landwirtschaft nach wie vor der dominierende Produktionszweig, die Arbeitslosigkeit ist im Vergleich zum Landesdurchschnitt überdurchschnittlich hoch, eine Reihe ökologischer Probleme (z.B. die Verschmutzung der Seen durch Papierfabriken, die Umweltbelastung und -zerstörung durch zunehmendem Tourismus) kommen hinzu.

Obwohl der Demokratisierungsprozeß der realsozialistischen Länder zuerst in Polen einsetzte, ist die gesellschaftliche und ökonomische Umgestaltung des Landes bei weitem noch nicht abgeschlossen, auch über Inhalte und Ziele dieses Prozesses wird - im Unterschied zu den 5 neuen Bundesländern - noch weiter verhandelt. Deutlich wird dies am Ausgang der jüngsten polnischen Parlamentswahlen, bei der die Linksparteien eine deutliche Mehrheit erzielen konnten, auch wenn das an der sich abzeichnenden durchgängigen Durchsetzung des Prinzips der Marktwirtschaft kaum etwas ändern dürfte. Die Überführung überholter Strukturen in eine neue Ökonomie betrifft nun auch in zunehmendem Maße die Wohnraumversorgung. Allein schon die dringlich erforderliche Sanierung und Sicherung des oft maroden Wohnungsbestandes vor dem Verfall (vom notwendigen Wohnungsneubau ganz zu schweigen) und die damit verbundene Anhebung der Mieten steht im Widerspruch zum allgemein niedrigen Einkommensniveau und den Tendenzen einer Verarmung und Verelendung weiter Teile der polnischen Bevölkerung - längst nicht mehr nur auf weiterhin entstehende einzelne Problemgruppen wie Arbeitslose, Alleinerziehende, Süchtige, Alte beschränkt. Nimmt man die desolate Situation öffentlicher Kassen hinzu, wird die ganze Brisanz des Themas im Ansatz vorstellbar.

Polen wurde zwar mit der Durchsetzung der Deutschen Einheit zum unmittelbaren Nachbarn der Bundesrepublik, dennoch ist diese anstehende Problematik von Wohnungsnot und Wohnraumversorgung und ihre Vorgeschichte in realsozialistischen Zeiten bis heute nur wenig bekannt und wird zudem - was noch verwunderlicher ist - in den entstehenden deutsch-polnischen Beziehungen bestenfalls nur am Rande thematisiert. Vereinzelt vorliegende Daten und Untersuchungen zur geschichtlichen Entwicklung lassen vorsichtige Parallelen zur DDR erkennen, so existierte auch im kommunistischen Polen offiziell keine Wohnungslosigkeit, obgleich es dieses Phänomen wie auch in der DDR (vgl. ROHRMANN, Gh 3/91; S. 76-81) in unbekanntem Ausmaß immer gegeben hat - in Polen aber vor allem in ländlichen Gebieten und aus anderen Gründen (z.B. die sogenannten "Waldmänner", vermutlich als Rudiment der komplexen Vertreibungsprozesse während des 2. Weltkriegs und danach).

Die Artikel "Unter ein Wölkchen?" von M. Zbrozek, "Daheim" von Jaroslaw Kaczmarek sowie die Fotos von Leszek Siwicki - der deutschsprachigen Sommerausgabe 1993 der Gazeta Gizycka mit freundlicher Genehmigung der Redaktion entnommen - dokumentieren exemplarisch das Problem drohender und aktuell bestehender Wohnungslosigkeit in der gegenwärtigen Umbruchsituation Polens.


In: "Binfo" - Informationsdienst der Berliner Initiative gegen Wohnungsnot e.V./ BIN. Nr. 23 vom Dezember 1993. Berlin 1993, S. 11. 

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