Plakat zur Ausstellung Verzaubert in Nordost - Quelle siehe Artikel[Rezension] Verzaubert in Nord – Ost. Die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weissensee. Hg: Sonntagsclub. Bruno Gmünder Verlag 2009 - ISBN 978-3-86787-135-135-8 - Preis 19,80 €

[Vorbemerkung] Dieses Buch liegt schon seit dem Jahr 2010 auf meinem Schreibtisch. Dass ich es immer noch nicht geschafft habe, es zu rezensieren, hat sicher auch damit zu tun, dass das Thema Sexualität, sexuelle Orientierung, Identität und Geschlecht mich seitdem auch weiter beschäftigt hat. Vor allem die Publikation von Judith Butler aus dem Jahr 1991 mit dem Titel Das Unbehagen der Geschlechter habe ich erst in den Jahren darauf kennen gelernt.
Zu den Fakten: Im Zeitraum von 2006 bis 2011 war ich parteiloser Bezirksverordneter in der Fraktion von Bündnis90/ Die Grünen im Bezirk Pankow und da zuständig für den Bereich Gesundheit und Soziales sowie Gleichstellung und Integration. Zu dem Thema Gleichstellung und Integration kam ich wohl deshalb, weil die Fraktion meinte, dass es zu Soziales passt und es wollte sich wohl auch niemand anderes darum kümmern. Jedenfalls: Ein wichtiger Aspekt im Rahmen von Gleichstellungspolitik ist die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans*gender. Das kam leider im Fachausschuss und auch in der Bezirksverordentenversammlung recht selten vor und wenn, dann interessierte das kaum eine_n. Das änderte sich, als der Bezirksbürgermeister von Pankow, Matthias Köhne, für den Sommer 2010 im Pankow-Museum eine Ausstellung Verzaubert in Nordost ankündigte .... Das hier besprochene Buch bezieht sich auf diese Ausstellung.

[Thema] Gegenstand ist die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weissensee im Zeitraum von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart mit den Stationen Weimarer Republik, Faschismus, DDR und friedliche Revolution 1989.

[Autor_innen und Sponsor_innen] Der Anstoß für dieses Ausstellungs- und Buchprojekt kommt von Michael Unger, dem Geschäftsführer vom Sonntags-Club. Bei einem Besuch einer Ausstellung im Berliner Schwulen Museum* im Jahr 2006 stellt er fest, dass der Osten Berlins deutlich unterrepräsentiert ist. Bis auf wenige Exponate ist nicht viel vorhanden. Grund genug ein Projekt ins Leben zu rufen, das unter anderem auch das JobCenter gefördert hat. Weitere Förderer sind die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung sowie der Paritätische Wohlfahrtsverband. Im Buch werden darüber hinaus noch als Sponsoren genannt der Bruno Gmünder Verlag, die Homosexuelle Selbsthilfe e.V., die Rosa Luxemburg Stiftung, die Gethsemane Apotheke sowie der Sonntags-Club. ‎Unter der Leitung des Historikers Jens Dobler arbeiteten an Buch und Ausstellung über vier Jahre hinweg insgesamt 19 Autor_innen, die auch in den Abschnitten des Buches namentlich erwähnt sind.
[Hintergrund] Bei der Buch handelt es sich um die Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung, die am 10.06.2010 um 20:00 Uhr im Pankow-Museum von Matthias Köhne, Michael Unger und Jens Dobler eröffnet wurde. Neben den Reden sang der schwule Männer-Chor Männer - Minne zur Eröffnung Lieder von Bruno Balz (1902-1988) wie: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n, Roter Mohn usw. Auch Balz hat Bezug zum Thema: Er wohnte zeitweilig in der Oderbergerstraße 43 im Prenzlauer Berg. Die Eröffnung war gut besucht, der Stadtrat für Kultur, Michail Nelken war ebenso anweisend wie der Vorsteher der BVV-Pankow, Burkhard Kleinert sowie Kommunalpolitiker einiger in der BVV-Pankow vertretener Parteien und viele Gäste aus der Schwul-Lesbisch-Transgender-Transidenten-Community. Bis zum 12. Dezember 2010 war die Ausstellung im Pankow-Museum bei freiem Entritt zu sehen.
Dabei ist das Buch nicht lediglich der Katalog zur Ausstellung, sondern will diese ergänzen, aber auch umgekehrt sind in der Ausstellung Exponate zu sehen, die im Buch nicht erwähnt sind.

[Aufbau und Inhalt] Das Buch hat einen Umfang von 318 Seiten. Es wird eröffnet von einem Grußwort des Bezirksbürgermeisters (1 Seite) und einem Vorwort von Jens Dobler (4 Seiten). Es besteht aus fünf Kapiteln: Der Kaiserzeit und Weimarer Republik (75 Seiten), Nationalsozialismus (43 Seiten), 50er und 60er Jahre (27Seiten), 70er und 80er Jahre (109 Seiten) sowie Gegenwart (17 Seiten). Zum Schluss gibt es ein Nachwort von Holger Siemann sowie Verzeichnisse. Die Verzeichnisse bestehen aus den Anmerkungen (13 Seiten), dem Namensverzeichnis (3Seiten), dem Straßenverzeichnis (2 Seiten) sowie dem Abbildungsnachweis (1 Seite). Eine weitere Seite ist unterschiedlichen Danksagungen gewidmet.

Nicht zuletzt aufgrund der Vielzahl der beteiligten Autoren gliedern sich die einzelnen Kapitel des Buches in kurze und mittellange Texte: 13 im Kapitel Kaiserzeit und Weimarer Republik, 3 zu Nationalsozialismus, 5 zu den 50er und 60er Jahren, 20 zu den 70er und 80er Jahren sowie 7 zur Gegenwart.

[Inhalt und Diskussion] Natürlich sind wir über die groben Züge der Geschichte der Schwulen, Lebens, Transgender* informiert oder glauben, es zu sein. Repression in der wilhelminischen Zeit, eine erste Blüte in der Weimarer Zeit, dann die Verfolgung im Faschismus, die ambivalente, tendenziell repressive Haltung der DDR und die neuere Emanzipationsbewegung seit den 70er Jahren und deren Resultate in der Gegenwart, in der es scheinbar und vordergründig problemlos möglich zu sein scheint, offen LSBT* zu leben. Was dann aber doch erstaunt, sind die vielen in den Texten und Dokumenten zu Tage geförderten Prenzlauer Berg-, Weissensee- und Pankow-Geschichten. Ein Beispiel dazu: Der Homosexuellen-Pionierfilm Anders als die anderen aus dem Jahr 1919 ist eine Produktion der Filmstadt Weissensee.
Das Buch ist sinnenfroh: Es macht Freude, es zu entdecken, nicht zuletzt deshalb, weil es auf bald jeder Seite eine Abbildung gibt, manchmal mehrere. Bisweilen finden sich ganzseitige Fotos, auf anderen Seiten interessante Ausschnitte, dann wieder Zusammenstellungen von mehreren Abbildungen. Ein Lob gehört daher der Buchgestalterin Dörte Nielandt, die sich getraut hat, Abwechslung in ein Buch zu bringen und interessante Dinge auch möglichst groß abzubilden. Ein weiterer Pluspunkt sind die vielen Abschnitte durch die Beiträge der 19 köpfigen Autor_innengruppe. Damit kann das Buch an jeder beliebigen Stelle aufgeschlagen und gelesen werden. Es hat einen Patchwork-Charakter, der offenbar gewollt ist mit dem Ziel, und vielschichtiges, facettenreichen Bild zu zeichnen von den einzelnen Epochen.

[Fazit] Ich habe immer wieder mal Gäste bei mir zu Besuch, sei es Freund_innen, sei es Menschen, die über Couchsurfing anfragen, ob sie bei mir ein paar Tage wohnen können. Nicht wenige von ihnen sind  Lesben, Schwule, Bisexuelle oder Trans*gender und interessieren sich für die Szene und alles, was damit zu tun hat. In meiner Wohnung gibt es im Flur ein kleines Regal mit Literatur über Berlin, Prenzlauer Berg und Pankow. Da sind die unterschiedlichsten Themen dabei, Bücher über markante Orte von sozialen Unruhen genauso wie Beschreibungen von Parklandschaften, Dokumente zum Widerstand gegen die faschistische Diktatur wie Bücher zu Skulpturen im öffentlichen Raum. Manchmal benutze ich das Literaturregal auch selber, um zu einzelnen Fragestellungen etwas zu lesen oder einfach nur, um etwas über mögliche Ausflugsziele zu finden. Genau in dieses Bücherregal werde ich Verzaubert in Nord – Ost stellen, denn dort gehört es hin. Als ein Buch, das über einen wichtigen Teil der Geschichte von Pankow, Prenzlauer Berg und Weissensee Auskunft gibt und einlädt zum Nachschlagen, Schmöckern und Blättern.

[Links]

Berlin, 15.08.2014

Stefan Schneider

[Abbildung] http://www.stationsparty.de/wp-content/uploads/verzaubert.jpg

[PS: Persönlicher Bezug] Dazu habe ich mal folgendes aufgeschrieben: Meine erste Wohnung nach dem Auszug von meinen Eltern war 1984 eine Wohngemeinschaft in der Hauptstraße in Schöneberg. Auf dem Weg runter zum U-Bahnhof Kleistpark war das Andere Ufer gelegen, eine bekannte Schwulenbar. Da war immer was los, bis in die frühen Morgenstunden hingen da Leute rum. Ich ging da nicht hin, weil das war mir nicht interessant. Eines Tages schleppte mich meine damalige Freudin Bettina in einen Film von Rosa vom Praunheim mit dem Titel: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Vorher hatte ich mir zum Thema schwul-lesbisch-sein nicht viele Gedanken gemacht, durch den Film aber begriff ich, dass die Situation von Schwulen wesentlich schwieriger ist, als ich mir das so vorgestellt hatte und dass es eben nicht einfach ist, das offen zu leben, sondern dass zahlreiche Diskriminierungen zu befürchten sind.

Als ich später im Jahr 1999 nach Prenzlauer Berg umzog, hörte ich auch von der Schwulen-Szene in Prenzlauer Berg. Im Volkspark am Friedrichshain gab es Szenekneipen, und auch in der DDR wurde für "sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts" lange Zeit von der Staatsgewalt mit Strafen gedroht und es gab auch Polizeikontrollen. In den Jahren bis heute passierte viel: Freundinnen von mir outeten sich als Lesben, in meinem Projekt strassenfeger nahm ich auffällig viele schwule Männer wahr, und eines Tages wurde ein Mann in Berlin zum  Bürgermeister gewählt, der vorher in einer Bewerbungsrede öffentlich bekannt gab, dass er schwul ist.
Meine Perspektive änderte sich noch ein weiteres mal, als ich im Jahr 2006 im Bezirk Pankow zum Bezirksverordneten gewählt worden bin. Als Experte für soziale Angelegenheiten – in der Politik gibt es ja so etwas wie eine Aufgabenverteilung und Zuständkeiten – wurde ich von der Bündnisgrünen Fraktion, der ich als parteiloser Parlamentarier freiwillig angehörte – gebeten, auch den Geschäftsbereich Gleichstellung zu übernehmen. Und dahinter verbarg sich die Aufgabe, sich um das Politikfeld Frauen sowie LSBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) zu kümmern. Ich versuchte, mich gewissenhaft in die Fragestellungen einzuarbeiten und die jeweiligen Positionen auch halbwegs offensiv zu vertreten. Konkret ging es häufig darum, die Finanzierung für entsprechende Projekte zu sichern, Kampagnen und Aktionen zu unterstützen, an den Netzwerken und Debatten mitzuwirken und zu den Akteuren Kontakt zu halten und deren Anliegen so gut wie möglich aufzugreifen und ggf. zu unterstützen. Auffällig war dabei, dass die Frauenprojekte wesentlich besser in der Pankower Bezirkspolitik organisiert und vernetzt waren, während die LSBT-Projekte  eher am Rand wahrgenommen und nur wenig in der Bezirkspolitik präsent waren. Zeitnah zum Christopher-Street-Day wurden auch im Pankow die Regenbogenfahnen hochgezogen, und bei den respect-gaymes in Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadium liess sich regelmässig auch der Bürgermeister blicken, und es war ihm offenbar auch wichtig. Aber sehr viel mehr passierte auch nicht. Das änderte sich etwas, als für den Sommer 2010 eine Ausstellung und dazu ein Begleitbuch angekündigt war, aber davon schrieb ich bereits in der Einleitung. Auf jeden Fall war die Zeit als Bezirksverordneter mit der Zuständigkeit für das Themenfeld LSBT eine sehr spannende Erfahrung. Ich bin nun wohl eher heterosexuell orientiert, und ich glaube, die meisten in der Bezirksverordnetenversammlung wussten das auch. Aber mich zu LSBT-Themen zu Wort zu melden und für die Anliegen von Schwulen, Lesen, Bisexuellen und Transgender zu sprechen – jedenfalls so gut ich konnte und soweit ich die Anliegen verstehen und nachvollziehen konnte – das war doch eine spannende Erfahrung, vor allem deshalb, weil sie meinen Wahrnehmungshorizont deutlich erweiterte. Wenn etwa Studien belegen, das "schwul" an den Schulen noch immer als diskriminierendes Schimpfwort benutzt wird und dass zugleich Jugendliche, die entdecken, dass sie LSB oder T* sein könnten, ein überdurchschnittliches Risiko der Selbsttötung haben, zeigt das, wie weit wir selbst im 21. Jahrhundert noch entfernt sind, zu akzeptieren, dass Menschen Anders als die anderen sind, waren und immer sein werden.

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