Stefan Schneider

Rezension zu "Hannes Kiebel/ Ekkehard Felis/ Harald Huber: Und führet sie in die Gesellschaft. Antworten der Erlacher Höhe. Eigenverlag der Erlacher Höhe, 7151 Großerlach-Erlach; 1991."

Es war eine dieser schlaflosen Nächte, träumend lag ich auf einer durchgelegenen Matratze, eingehüllt in muffende Decken auf dem Dachboden des alten Hauses in Erlach, zwischen verstaubten Aktenbündeln und altem Mobiliar, mich hin und her wälzend, das alte Gebälk ächzte und knarrte, als wollte es mir etwas mittteilen, ich lauschte auf und ich hörte, wie das Haus mir eine Geschichte erzählen - seine Geschichte ...

"Und führet sie in die Gesellschaft" beinhaltet nichts weniger als den Versuch einer Biographie der Erlacher Höhe in Württemberg, einer Einrichtung, die seit 100 Jahren mit der Geschichte der Sozialen Arbeit mit und für Wohnungslose verbunden ist, aufgezeichnet von Autoren, deren eigene Lebensgeschichte ebenfalls eng mit Erlach verknüpft ist.

Im 18. Jahrhundert als Glashütte im Schwäbischen Wald erbaut, wurde in Erlach 1891, neben dem bereits bestehenden Dornahof, die zweite würtembergische Arbeiterkolonie, "Für den Fleißigen entsprechende Hilfe, für den Faulen strenge Zucht" (Bodelschwingh), gegründet. Was seit jener Zeit in zahlreichen Aus-, Neu- und Umbauten, aber auch in Texten, Bildern und Dokumenten zur vergegenständlichten Vergangenheit geworden ist, versteinert, verstaubt, vergilbt oder vergessen, wird von den Autoren freigelegt und zusammengestellt zu einem kritisch-fragmentarischen Mosaik der Sozialgeschichte der Erlacher Höhe und Württembergs, wird als Geschichte von den Tätigkeiten, Arbeiten und Beziehungen der Menschen in und um Erlach vergegenwärtigt. Im Kontrast und ergänzend zu den wichtigen Darstellungen der Geschichte Sozialer Arbeit mit Wohnungslosen (zuletzt: EBERHARD VON TREUBERG; Mythos Nichtseßhaftigkeit. Zur Geschichte des wissenschaftlichen, staatlichen und privatwohltätigen Umgangs mit einem diskriminierten Phänomen. Bielefeld: Verlag Soziale Hilfe; 1990.) ist es, als wäre ein Zeitzeuge hier befragt. Nicht in ahistorisch-geglätteter Selbstbespiegelung, sondern beispielhaft Zeugnis gebend von der Entwicklung gesellschaftlicher Tätigkeit als Ringen um den Dienst am Menschen und Gestaltung sozialer Wirklichkeit in Erlach, Generationen und Zeitgeschichte übergreifend von den Anfängen bis zur Gegenwart, wiedergebend die oft schmerzhaften Spannungen und Brechungen von großer Geschichte und kleinen Geschichten, Politik und Alltag, Besonderem und Allgemeinem.

HANNES KIEBEL präsentiert eine Kollage "Geschichten vom Hutzelbrot, von der Barmherzigkeit und der Arbeit auf dem Mainhardter Wald" von den Anfängen bis 1962, EKKEHARD FELIS beschreibt anschließend die "Zeiten des Umbruchs und der Neugestaltung" bis heute. "Den Schwachen helfen, stark zu werden", dieser Beitrag von HARALD HUBER, der eine interessante, weil vielschichtige Bestandsaufnahme enthält, beschließt dieses Buch, nicht ohne eine kritische Sichtung der noch unentschiedenen gesellschaftlichen Parameter für die weitere Entwicklung der Erlacher Höhe, aber - "Für ihre Zukunft gäbe es eine Vision".

Im Überblick eines Jahrhunderts wird deutlich: Es gibt - in der Kontinuität Sozialer Arbeit - keine ein für alle mal feststehenden Problemlagen, Erklärungen, Ansätze und Lösungen. Es gibt nur sich immer neu entwickelnde, zum Handeln zwingende und einladende Widersprüche, Gegensätze, Herausforderungen, Perspektiven und Visionen. Gerade der Mut der Autoren zu offenen Fragen macht dieses Buch zu einer lehrreichen und sympathischen, eben gelungenen Lektüre für alle diejenigen, die nicht die Auffassung teilen, daß Wohnungslosigkeit ein Zustand ist, mit dem wir uns auf Dauer abfinden müssen, weil es so ist, wie es ist. Kenner der Geschichte der Sozialen Arbeit mit Wohnungslosen werden überrascht sein, was sie in diesem Buch alles entdecken werden; für diejenigen, die sich mit der Geschichte ihrer Arbeit erst noch befassen wollen, eröffnet es einen beispielhaften und spannenden Zugang dazu.

Ein Mangel dieses Buches sei nicht verschwiegen. HANNES KIEBEL benennt das Problem: "Ich wollte auch die Heimatlosen sprechen lassen, jedoch diese hatten wenig für mich hinterlassen. ... Der 'Alltag der Heimatlosen' war nicht festgehalten, wenn doch - dann hatten sich die Kolonisten beschwert, ja, dann erfuhr ich etwas vom Leben der Kolonisten, der Insassen, der Hausväter (Inspektoren oder Verwalter), der Hausmütter, der Helferinnen, der Aufseher." (S.11). Das mag für die Quellenlage zutreffend sein, unverständlich bleibt jedoch, warum die jetzigen Bewohner der Erlacher Höhe nicht mit eigenen Beiträgen vertreten sind. Zum Beispiel Herr Hahn, den wir anhand der Protokolle verhaltenstherapeutischer Behandlung kennenlernen: Seit 2 Jahren ist der Kontakt zu ihm abgebrochen, zuletzt hatte er eine Wohnung und eine Arbeitsstelle in einer nahegelegenen Stadt. Von seinen Erwartungen, seinen ganz persönlichen Erfahrungen, darüber, wie er heute über Erlach denkt und dazu steht, erfahren wir nichts. Es wäre so wichtig: Ohne ihn, und den vielen anderen in und um Erlach wird die Vision vom "Sozialen Dorf" kaum zu machen sein. Deshalb gehört dieses Buch zusammen gelesen mit einem weiteren Buch von und über Erlach: TITUS SIMON (Hrsg.): Treibgut. Ein Erlacher Lesebuch aus der Lebenswelt von Wohnungslosen. Bielefeld: Verlag Soziale Hilfe, 1991.

Der Morgen graute schon, als das Haus endlich endete mit seinen Erzählungen von damals, von heute, und seinen Wünschen, Hoffnungen und Träumen. Lange nicht war alles erzählt worden. Erholt vom tiefen Schlaf packte ich meine Sachen zusammen und mußte weiter. Ich hatte verstanden, daß Erlach überall zu finden sei, und Menschen, die an einem solchen Dorf arbeiten, und daß ich eines Tages wiederkommen würde.

Stefan Schneider


In: Die Berufliche Sozialarbeit. Zeitschrift des Deutschen Berufsverbandes der Sozialarbeiter und Sozialpädagogen e.V., Nr. 2/92, S. 37. Essen 1992

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