Stefan Schneider, Sonja Kemnitz & Thomas Knuf
"Es gibt kein richtiges Leben im falschen" - Ein Briefwechsel
-
Stefan Schneider
Heimat - los?!? - Stefan an Sonja
-
Sonja Kemnitz
Wärest Du nur konsequent - Sonja an Stefan
-
Thomas Knuf
Heimatloser Normalzustand?! - Thomas an Stefan und Sonja
Stefan Schneider
Heimat - los?!? - Stefan an Sonja
Sonja,
Nächte sind dunkel und schwarz, und wer draußen ist, den umgeben Tonnen von Nacht, wie Bukowski es einst sagte, vor allem ist es kalt, und die Kälte ist nicht offen, sie kriecht, sie ist eine unterschwellige, fiese und gemeine Sache.
Nachts, die Nacht genießend, hinter Mauern so dick wie Panzer, durch Fenster blickend und am Ofen sitzend, in der Wärme, ungestört durch Anrufe und Besucher, alles im Schlaf versinkend, drinnen und draußen, vereinzelte Autos und Leute, ich ausschwärmend, in Gedanken nur, ausschweifend, das Licht der Schreibtischlampe, Musik für nachts um halb drei, Bier trinkend, am Bier ertrinkend. Und schon wieder unterwegs, und schon wieder gebannt, gefangen. Hier bin ich und hier bleibe ich, und wo - um alles in der Welt - wo sollte ich hingehen? Und zu wem?
Es ist alles im Lot. Mietverträge stimmen, Arbeitsverträge bestehen, Wege sind offen. Sicherheiten. Kies im Keller, Zement wird geliefert, Wasser in der Leitung. Beste Voraussetzungen, alles zu betonieren. Ein für alle mal. Festungen für die Ewigkeit. Zum Verrotten. Allein das Stahlgerüst meiner Psyche, Eisengitter verflochten, zu dicht an der Oberfläche. Korrisionsanfällig. Zahlreiche Botonbauten aus den 70ern, für die Ewigkeit gebaut, schon nach 20 Jahren Ruinen, reif für den Abriß. Keine zufällige Analogie. Große, grobe Täuschung. Selbst Beton ist porös. Kein Ort nirgends. Kein Zuhause, ewig getrieben. Rost schläft nicht, dies spürend. Wenn Beton nicht hilft, Theoreme. Stahlkorsette gegen den Zerfall der Klarheit. An Ort und Stelle stehend, wohin sind wir unterwegs?
Manchmal wünschte ich mir, nie herausgetreten zu sein aus der Welt, die für mich bestimmt war. Aber schon mein Vater ist herausgetreten, ging hinein in die Stadt, um nur fern zu sein von dem, was die ihm vorbestimmte Welt war. Was habe ich an Zeit und Energie verschwendet, zurückkehren zu können nach Wopy, in das Land wie Feuer und Eis, mit dem Spaten umzugraben das Feld, das einst Nik Copernik aus Thorn zuwies den Siedlern aus dem Osten, um ein Schild zu haben gegen die Macht des Deutschen Ordens, und wie zerrissen selbst war dieses Begehren.
Im Grand Canyon von Wopy wanderte ich so manches Frühjahr und etliche Sommer, berauschte mich an dem mäandernden Bach, der so manchen Erdrutsch verursachte im Laufe der Zeiten, sammelte in den Wäldern Pilze, die ich am Abend aß, wanderte durch die taunassen Wiesen, sah die verschilfenden Teiche und die Störche, die den kurzen Sommer hier verbrachten und träumte von einem Feld der Skulpturen auf den Eiszeitmoränenhügeln dieser mir seit ewig vertrauten Landschaft. Sie wurde mir vertraut gemacht, seitdem ich laufen kann, und ich habe ihr vertraut, von Kindesbeinen an. Eine eigene Kennung, unverwechselbar. Farben, Prägung der Landschaft, Häuser, Höfe, Dörfer, Wege, Alleen, Seen, Schilf und Sträucher, Gestalt, Gerüche, Wege und Menschen, Stimmungen und Gefühle, bis in das letzte Detail, in- und auswendig, ein für alle mal. Gerne nehme ich dich an der Hand und zeige Dir alles. Und doch werde ich dort keine Heimat finden, ewig nur Gast sein, und niemals sagen können: Hier war ich und bin und werde ich bleiben. Eine offene Wunde. Und trotzdem werde ich mich so bewegen, als wäre ich hier immer zu Hause gewesen. Ja, ich will zurückkehren, wieder aneignen, und doch kann ich nicht.
Ich selbst bin Heimatloser, bin Geworfener in einer Welt, die ich nicht verstehe, die nicht mein Zuhause ist und in der ich mich behaupten muß. Nichts ist im Lot, alles Ausnahmezustand.
Aber Du hast recht, wenn Du sagst, ich bin nicht konsequent, Du hast noch mehr recht, wenn Du sagst, ich bin Bürger, Du triffst mich, wenn Du sagst, ich kann nicht zulassen, wie sie - wie die Obdachlosen - zu sein.
Also trinke ich nun mein letztes Bier in Erwartung einer heftigen Antwort,
bis demnächst, Dein
stefan
Sonja Kemnitz
Wärest Du nur konsequent - Sonja an Stefan
Stefan,
sei lieb gegrüßt, Du Heimatloser, der allein deshalb so verbissen verteidigt seinen Besitz, Du Wanderer, der sich die Oase leisten kann; Du Rufer, der doch fürchtet, gehört zu werden. Wovor willst Du dich schützen? Mir scheint vor Menschen, und jede Fremdheit scheint grenzenlos. Man könnte in den Fluß gezogen werden. Unter Wasser sein und dann gilt eine andere Sprache, dann bin ich ein Fisch, anderen Gewalten ausgeliefert, und gestalten wird mich das Wasser.
Wärest Du nur konsequent. Gab es immer die Armen, bleibt nur, mit ihnen zu leben. Dann lebt man nicht die Armut oder mit der Armut, nur mit Menschen, die arm sind. Kommt einer, in dein Haus, nimmt er gern das Bier und das Brot und das Wort und die Ruhe, doch was sucht er wirklich? Und dann entscheidest du, ob du an diese Stelle trittst für diesen Moment und dieses Geschenk machst, weil du gern schenkst, nicht weil du ein Almosen gibst oder ein Geschäft betreibst. Es gibt diese Momente, sie sind so selten wie schön. Warum willst Du sie von vornherein ausklammern? Warum läßt Du mich auf Deinem Sofa schlafen, nachdem der Dialog sich erschöpfte, einen Obdachlosen nicht. Führst Du solche Dialoge nicht mit ihnen, bist Du Ihr Herr?
Die Heimatlosen und Unbehausten brauchen Dich nicht. Sie leben mit den Menschen, die mit ihnen leben; sie suchen Dein Herz und nicht (nur) Deinen Kopf. Sie wollen doch ihr Dasein oft gar nicht verändern. Und die, die es wollen, wollen es für sich und tun es auch irgendwann. Aber sie wollen nicht die Obdachlosigkeit abschaffen. Sie wissen viel besser als Du, das hat auch was mit menschlicher Natur zu tun, die Nichtseßhaftigkeit. Das hat was mit dem archaischen Charakter allen Lebens zu schaffen, den Du abschaffen willst, weil Du ihn für Dich selber nicht akzeptieren kannst. Denn Du empfindest ihn als Schwäche und stehst damit voll auf der Seite jener gesellschaftlichen Kräfte, die Du eigentlich bekämpfen willst, weil sie Obdachlosigkeit hervorbringen.
Wollen die Penner ihre Obdachlosigkeit abschaffen und vermögen es nicht allein, werden sie Dich schon fragen. (Falls sie Dich als Bruder oder als Mächtigen sehn. Und beides bist Du nicht). Brauchen sie ein Bett nach einer langen Nacht werden sie Dich genau so fragen. Dann kannst Du nein sagen. Aber warum rechtfertigst Du dich dafür? Warum machst Du daraus ein Theorem?
Weil Du den Gedanken nicht zulassen kannst, wie sie zu sein. Heimatlos, getrieben, von anderen Kräften wie Ehrgeiz und Wahrheitsdrang vielleicht, aber doch eben getrieben, ruhelos, ohnmächtig und wehrlos nicht minder. Sei froh, daß Du ein Pferd besteigen kannst, das Bildung und Sprache heißt, Verstand und Vernunft. Aber sei glücklich, daß Du absteigen kannst, zu Fuß laufen, wie jene, die Dir Dein Pferd nicht neiden. Reite, so schnell Du kannst, aber reite niemanden um.
Und geh auch und sieh! Jede Einrichtung, jede Person, jede Institution, jede Beratungstelle, jede Wärmestube, jedes Zeitungsprojekt, jedes Theaterprojekt, jeder Gönner löst auch Probleme der Wohnungslosen. Doch löst es nicht das Problem der Wohnungslosigkeit. Jede Wohnung verhindert auch Probleme für einen Menschen. Doch löst sie seine inneren Probleme nicht. Sie verbirgt sie. Wohnungslose gab es immer, Wohnungen nicht.
Es ist der zerstörerische Zeitgeist, den freien Umgang der Menschen miteinander nicht zu achten, der Dich die Wohnung heiligen läßt. Nicht mal gemeinsame Sache machst Du mit den Unbehausten, sondern Deine Sache treibst Du voran. Geschäftig und öffentlich.
Du kannst frei entscheiden, wann Du Ihr Bruder sein willst, oder der Besucher, der Gönner oder der Lauscher. Doch ihr Geschäftspartner kannst Du genausowenig sein, wie ihr Prophet. Du kannst nur Stefan sein, wie ihre Sehnsucht "nur" darin besteht, sein zu dürfen, wie sie sind. Allein darin bist Du ihnen gleich.
Bis bald,
Sonja
Thomas Knuf
Heimatloser Normalzustand?! - Thomas an Stefan und Sonja
Wieviel hat innere Zerrissenheit, Entfremdung und Nicht - Verbunden-heit, in gewissem Sinn also Heimatlosigkeit, mit Obdachlosigkeit zu tun? Und: Was ist erreicht, wenn Obdachlose "sein dürfen, wie sie sind", wenn sie also gesellschaftlich in ihrem Lebensstil akzeptiert werden?
Wenn es kein Zufall ist, wer sich mit dem Thema Obdachlosigkeit oder direkt mit Obdachlosen beschäftigt, kann man davon ausgehen, daß eine bestimmte Affinität zwischen dieser Person und dem Thema bzw. Betroffenen existiert. Gesetzt den Fall, ein illusorisches politisches Programm wird realisiert, so daß im Jahre 2001 der Begriff Obdachlosigkeit der Vergangenheit angehört, welche Klientel wird dann als Projektionsfläche der individuellen Lebensprobleme auserkoren? Das ist nicht gehässig, sondern provokativ gemeint.
Wenn Stefan für sich feststellt: "Ich bin selber Heimatloser, bin Geworfener in einer Welt, die ich nicht verstehe, die nicht mein Zuhause ist und in der ich mich behaupten muß", will ich ihm entgegnen: "es gibt kein richtiges Leben im falschen".
Man kann solche Fragen politisch, philosophisch, sozialpsychologisch oder sonstwie diskutieren, notwendig ist dabei aber immer die Beachtung der Wechselwirkung zwischen innen und außen, zwischen Gesellschaft und Individium. Daß man sich in dieser Welt nicht unbedingt heimisch fühlt und auch noch behaupten muß, läßt sich schon erklären und ableiten aus den existierenden Bedingungen unseres "Systems". Ansonsten wäre das oben erwähnte politische Programm nicht illusorisch. In dem Maße wie Stefan das allgemeine Problem der Heimatlosigkeit, um bei dem schwierigen Problem zu bleiben, individualisiert, reduziert und vereinfacht Sonja das Problem der Obdachlosigkeit. Vielleicht ist auch ein Stück Idealisierung mit drin. Den "archaischen Charakter allen Lebens" und die Natur des Menschen, wenn man diese überhaupt unabhängig und eindeutig bestimmen könnte, mit als Grund aufzuführen, daß "sie (die Obdachlosen) ihr Dasein oft gar nicht verändern wollen", erscheint mir nur dann schlüssig, wenn sie eine reale Wahlmöglichkeit hätten. Ich meine, außer der zwischen Läusepension, Platte und irgendeiner Art von Heim. Daß die Projekte und Beratungsstellen das Problem der Wohnungslosigkeit nicht lösen können, ist offensichtlich. Dazu bedarf es in der tat einer grundlegend anderen Politik. Daß "jede Wohnung auch Probleme für einen Menschen (verhindert)", nämlich unter anderem solche, die den Alltag der Obdachlosen so unerquicklich machen, läßt mich zum Befürworter einer umfassenden Wohnungsbaupolitik werden. "Doch löst sie seine inneren Probleme nicht", was vielleicht zuviel des Anspruchs an die Funktion einer Wohnung wäre. "Sie verbirgt sie." Allenfalls vor der Außenwelt, was der Funktion dieser Wohnung und dem Recht des Menschen, der darin lebt, entspräche.
Mein Eindruck ist, daß hier zwei Themenkomplexe auf verwirrende Art und Weise miteinander in Beziehung gebracht werden. Der eine ist die Motivation (oder das Getrieben- Sein), sich mit und für Obdachlose zu engagieren und der damit einhergehenden schwierigen Balance zwischen Empathie und Abgrenzung. Der andere betrifft die Fragen und Ursachen von Wohnungsverlust und besonders auch der Tatsache, daß obdach- und wohnungslose Menschen oft jahrelang keine zweite oder dritte Chance erhalten. Und das hat sehr viel mit Politik und (Armuts-) Verwaltung zu tun, wie sie auch viele andere Menschen in Form von Willkür, Vorurteilen und Unflexibilität, dem sog. Amtsschimmel eben, tagtäglich z.B. durch Sach- und SozialarbeiterInnen erfahren müssen. Ich will gar nicht bestreiten, daß ein notwendiger Schritt raus aus der "Scheiße" seitens der Betroffenen, Verantwortung für ihre Situation zu übernehmen und nicht in Desinteresse, Selbstmitleid und Schuldzuweisungen zu verfallen, oft nicht geleistet wird. In dem Punkt unterscheiden sich die obdachlosen Menschen von denen, mit einem selbstgewählten Dach überm Kopf, wahrscheinlich am wenigsten. Nur verwundert es bei ersteren weniger bis kaum. Aber "sein zu dürfen, wie sie sind", mag als erstes Ziel ja noch angehen, aber der Weisheit und Politik letzter Schluß Schluß kann es denn doch nicht sein.
Mit solidarischen Grüßen
Thomas
"Es gibt kein richtiges Leben im falschen" - Ein Briefwechsel zwischen Stefan Schneider, Sonja Kemnitz & Thomas Knuf. In: motz & Co. randständig - abwegig - unbedacht. Ausgabe 0/95 vom 19.05.1995, Berlin 1995, S. 20-21 und Ausgabe 3/95 vom 15.06. 1995, Berlin 1995, S. 21.