Stefan Schneider

Tabula rasa am Bodensee oder "Sauberer isch's konstanzerischer"

Über den Umgang einer Stadt mit Wohnungslosen

Imperia in (Detail) - Quelle: WikiCommonsVorbemerkung. Konstanzia im Hafen von Konstanz. Die Arme ausgebreitet, auf ihren Händen sitzend zur Linken der Papst, zur Rechten der Kaiser. Im Jahr 1153, Eugen III und Friedrich I Barbarossa, besiegelt in einem Vertrag: Die Kaiserkrone soll Lohn sein für einen Krieg im Auftrag der Kirche. Konstanzia, du alte Schlampe, mit deinen drallen Brüsten, du wohlgenährte. So läßt es sich gut leben. Die Armen wissen schon: Wenn die Mächtigen paktieren, heißt das Krieg, gibt es wenig zu lachen.

Am Sonntag, dem 2.5.1993, wird abends in den Kneipen und Lokalen der Konstanzer Innenstadt ein Flugblatt verteilt mit dem Titel "Sauberer isch's konstanzerischer. Am 29. April '93 hat das Ordnungsamt Zelte samt persönlicher Habe einiger 'Wohnsitzloser' in Klein Venedig räumen lassen." Nachfrage bei den Verteilern des Flugblatts: Klein Venedig, Platz am Bodenseeufer, äußerer Rand von Konstanz an der Grenze zur Schweiz, gelegentlich von der Stadt für Festivitäten genutzt. Den Winter über Zelte und Menschen geduldet, vielleicht 15 - 20 Zelte, vielleicht 50 Menschen.

Passagen aus dem Flugblatt:

Erst am 28.4. hatten die "Wohnsitzlosen" von den Plänen der Stadt erfahren, obwohl es für die Stadt seit 14.4. feststand. Schutzpolizisten hatten ihnen im Auftrag des Ordnungsamtes am 28.4. eine Räumungsfrist bis zum 10. Mai gesetzt, daher kam das Überfallkommando am 29.4. für die dort lebenden Menschen aus heiterem Himmel. Damit hat die Stadt ihr sowieso schon unverschämt kurzes Ultimatum schon am darauffolgenden Tag gebrochen.

Die faktische Außerkraftsetzung der Menschenrechte der Wohnsitzlosen folgte gleich auf den Hetzartikel im Südkurier des Vortags. Nach der dort vorgetragenen Argumentation ist es eine Zumutung für TouristInnen und TheaterbesucherInnen, den Anblick von Wohnsitzlosen ertragen zu müssen. Während Lokalredakteur Thum hier den Räumungsabsichten des Ordnungsamtes im REP-Stil den Weg bereitete, indem er die Stimmung für die Säuberungsaktion anheizte, war der Überfall auf die "Wohnsitzlosen" tags darauf dem Blatt keine Zeile wert. Zitat SK am 28.4.: "Mit der Anzahl der Bewohner wachsen Müllberge wie Probleme." Die Zelte, Eigentum der "Wohnsitzlosen", werden als Kloake und Müllhalden bezeichnet.

Dementsprechend agierten Angestellte der Stadt und warfen persönlichen Besitz (z.B. Ausweise und andere Papiere, Zelte, Kleidung, Schlafsäcke, etc.) in sechs städtische Müllwagen.

Mit welchen Maßstäben wird hier eigentlich gemessen? Der Stadt Konstanz ist es offensichtlich wichtiger, Touris und klagenden Eigentumswohnungsbesitzern den Spaß am Sommer in Konstanz nicht mit dem Anblick der Armut zu verderben, als die Menschenrechte zu beachten. Eigentlich müßte sie den hier lebenden Menschen Wohnraum zur Verfügung stellen.

War das nun, was Hubert Mayer, Leiter der "Abteilung für Ordnungswesen" am 28.4. im Südkurier als 'Flagge zeigen' und 'Tabula Rasa machen' ankündigte, oder war das erst der Anfang einer Reihe von Überfällen für ein sauberes Konstanz?

Eine Überprüfung der im Flugblatt genannten Meldung vom 28.4. aus dem Südkurier Konstanz mit dem Titel "Ungenehmigt und in bester Lage. Berbersiedlungen wachsen weiter. Zeltdörfer auf Klein Venedig und im Büdigen Park - Anwohner fühlen sich belästigt" belegt nicht nur die Richtigkeit der Zitate, sondern plausibilisiert auch die Bewertung dieser Meldung. Tatsächlich gibt es eine weitere Notiz des Südkuriers von Donnerstag, dem 29.4. mit der Überschrift "Ordnungsamt verfügt Räumung. Gelände bald wieder zeltfrei", in der von der Zustellung der Räumungsverfügung an die Bewohner der Zeltplatzsiedlung berichtet wird. Von der "Aufräumaktion" jedoch - das Flugblatt spricht von einem "Überfallkommando" und einer "Säuberungsaktion" - berichtet der Südkurier erst nach Erscheinen des Flugblatts in einer weiteren Meldung von Mittwoch, dem 5.5. mit dem Titel "Berber machen Ersatzansprüche geltend. Städtische Bedienstete sollen bei einer Aufräumaktion auch bewohnte Zelte beseitigt haben", in der auch das o.g. Flugblatt erwähnt wird. Ein von den Wohnungslosen eingeschalteter Anwalt wird nun prüfen, welche juristische Schritte eingeleitet werden können. In Frage kommen eine Strafanzeige wegen Sachbeschädigung, Schadenersatzansprüche, sowie die Klärung der Frage, inwieweit staatsbürgerliche Rechte der Wohnungslosen verletzt wurden.

Dagegen präsentieren die Vertreter des Ordnungsamts ihre Auffassung, sie hätten bisher aus "humanitären Gründen" (Südkurier 29.4.) generös über Winter das Bewohnen einer städtischen Fläche geduldet. Es wäre naiv zu glauben, darin ein Signal zu sehen für eine zumindest tolerante Auseinandersetzung mit der Not wohnungsloser Menschen in Konstanz. Die Handlungen jedoch legen eine anderen Intention offenbar. Unverfroren jongliert die Stadt Konstanz mit der ordnungsrechtlichen Ambivalenz zwischen Obdachlosigkeit als einer zu beseitigenden Ordnungswidrigkeit und ihrer Verpflichtung zur Unterbringung Obdachloser. Kriterium der Abwägung sind in erster Linie ökonomische Interessen, die Lösung geht wie immer auf Kosten der Wohnungslosen. Ist die Duldung der Zelte im Winter für die Stadt eine bequeme Lösung (was billig ist, stört nicht), so sind die Wohnungslosen nun im Sommer ein Dorn im Auge (wer das Tourismusgeschäft beeinträchtigen könnte, stört) und werden vertrieben mit übelsten Methoden und in Begleitung einer Hetzkampagne miesester Machart. Wiederholt Bewahrheitet sich die Erkenntnis: "In keinem anderen Arbeitsfeld ist die Kluft zwischen Rechtsnorm und -praxis so groß wie in der Wohnungslosenhilfe." (HENKE/ HENKE; Gefährdetenhilfe 1/93, S. 17). Insofern ist die juristische Prüfung, inwiefern durch die Vorgehensweisen des Ordnungsamts offener Rechtsbruch betrieben wird, ein durchaus plausibles und berechtigtes Interesse der Betroffenen.

Verständlich ist, wenn in spontanen, gefühlsmäßigen Reaktionen die Anwohner sich gestört, ja belästigt fühlen durch die Dynamik des Lebensvollzugs in Klein Venedig und Umgebung, durch die sichtbaren Ausdrucksformen der Aneignung von öffentlichem Raum unter den Bedingungen extremer materieller Armut. "Schon längst trauen sich die Anwohner nicht einmal mehr, dort ihre Hunde auszuführen", weil u.a. "in Ermangelung von Toiletten" (Südkurier 28.4.) dort schon andere Resultate menschlicher Bedürfnisse vorliegen, zu denen Müll- und Abfallprobleme ebenso gehören wie gelegentliche ausgelassene Festivitäten mit entsprechender Lautstärke und unter Konsum von billigem Aldi-Bier. Zwar sind die Phänomene im wesentlichen keine anderen als bei einer Konstanzer Kirmes (vielleicht geht es etwas feiner zu), deutlich werden aber hier Vorbehalte bis hin zu nachvollziehbaren Ängsten vor näheren Einblicken in die Abgründe einer unbekannten Welt des Lebens ohne eine geschützte Wohnung. Was bei all dem Ärger zu vermissen ist, ist das Bemühen um ein nachvollziehendes Verstehen, der Versuch einer Auseinandersetzung mit diesem Problem im öffentlichen Diskurs, für den es übrigens genug Vermittler gäbe, um mit den anderen Menschen in Klein Venedig zu einer Verständigung und klaren Absprachen im Sinne einer rationalen Lösung zu gelangen. Stattdessen wird die zunächst verständliche unmittelbare Betroffenheit umstandslos in journalistischer und ordnungspolitischer Hau-Ruck-Manier hyperbolisiert, alexandergleich wird mit dem Schwert in Wort und Tat sinnlos draufgehauen, wo es wirklich was zu lösen gäbe.

Vor allem aber bedenklich sind die Äußerungen der Vertreter des Ordnungsamtes, verschärft noch durch den Kontext biedermännischer Journalistik mit ihrem populistischen Tenor. Überschriften wie "Gelände bald wieder zeltfrei", Formulierungen wie "Wir werden jetzt Flagge zeigen und tabula rasa machen", Begriffe wie "Hitze des Gefechts" sowie die gesamte, gegenüber den Wohnungslosen durchgehend verständnislose und dem Problem in keinerlei Hinsicht angemessene Diktion der Artikel erinnern mich eklatant an Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft. Daß das einzelne Subjekt, der konkrete Mensch in einem solchen Denk- und Handlungsraum nicht mehr vorkommt, sondern daß vor allem verallgemeinernd abwertend von "Obdachlosenkreisen", "Wohnsitzlosenmilieu" (Südkurier 28.4.) die Rede ist, mag als ein weiteres Indiz dafür gewertet werden, daß humanistische Prinzipien nicht für alle gleich gelten. Südkurier, Ordnungsamt und die ausführenden Organe setzen sich mit dem Problem auf eine Art und Weise auseinander, der einen Vergleich mit dem Handeln rechtsextremer und rechtsradikaler Banden und Gruppen nahelegt: Angesoffen ("Tabula rasa") und in Gruppenstärke werden, wie zahllose Zeitungsmeldungen immer wieder belegen, "Penner geklatscht" oder Behinderte, auf jeden Fall immer Schwächere, die unter Garantie nicht den Hauch einer Chance gegenüber der in Anschlag gebrachten Gewalt haben. Die darin zum Ausdruck kommenden Handlungsprinzipien lassen, trotz offensichtlicher Unterschiede hinsichtlich der Fragen nach Legalität und öffentlicher Billigung, für meine Begriffe ein hohes Maß an struktureller Übereinstimmung erkennen.

Bilanzierend zu den Vorgängen in Konstanz halte ich fest: Eine solche Politik und einen solchen Journalismus im Umgang mit den gesellschaftlich so drängenden Problematiken Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit ist meiner Auffassung nach nicht nur moralisch niederträchtig, sondern überdies auch noch geeignet, der Eskalation feiger Gewalt in der Gesellschaft weiteren Vorschub leisten. Ich sage: Das ist unerträglich!

Ich unterstütze alle im Flugblatt genannten Forderungen der Bewohner in Klein Venedig:

  • öffentliche Stellungnahme des Ordnungsamtes zu Überfallkommando und Diebstahl mit
    der Zusage einer angemessenen Entschädigung
  • sofortige Wiederausstellung der zerstörten Papiere (Ausweise, etc.)
  • sofortige Anschaffung von Iso-Matten, Schlafsäcken und Zelten
  • Erhaltung der bestehenden sanitären Anlagen
  • Bleiberecht auf Klein Venedig zumindest bis zur juristischen Klärung des Übergriffs

Nachbemerkung: Parallel zu diesen Vorgängen am Freitag, dem 30.4.1993 in der Caritas Fotogalerie am St. Stephansplatz 39a in Konstanz die Eröffnung einer Ausstellung von Karin Powser, Hannover: "Obdachlose Frauen, Photographien" in Verbindung mit der Premiere ihres neuen Fotoheftes "obdachlos - keine Gnade auf der Straße". Die Ausstellung ist noch bis zum 26. Juni Mo-Do 8-12 & 14-17 Uhr, sowie Fr 8 - 12 Uhr zu sehen. Karin Powser: "Mit meinen Fotos will ich die Gesellschaft auf die Armut aufmerksam machen."

Kontakt und weitere Informationen zu Klein Venedig über

Neues Nebelhorn
Schottenstr. 3
7750 Konstanz 

Stefan Schneider


In: Gefährdetenhilfe 2/93. Bielefeld 1993, S. 71 - 72; sowie in: "Binfo" - Informationsdienst der Berliner Initiative gegen Wohnungsnot e.V./ BIN***

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