Schneider, Stefan: So lebt die Hoffnung weiter. Laudatio für Christian Scholtis und sein Team vom Nachtcafé der Herz Jesu Gemeinde in Prenzlauer Berg anlässlich der Verleihung des Ehrenpreises 2009 in Pankow. Berlin 04.12.2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Nachdenken über die heutige Verleihung des Ehrenpreises an Christian Scholtis und sein Team vom Nachtcafé der Herz Jesu Gemeinde ging mir ein Text aus dem Jahr 1931 nicht mehr aus dem Kopf.

Er ist von Bertold Brecht und beschreibt ziemlich präzise, in welchem Widerspruch wir uns hier bewegen. Und das betrifft nicht nur die, die ich hier ehren darf, sondern uns alle. Ich darf vortragen:

Ich höre, daß in New York
An der Ecke der 26. Straße und des Broadway
Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht
Und den Obdachlosen, die sich ansammeln
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft.

Die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt
Aber einige Männer haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.

Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch.

Einige Menschen haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.

Soweit Bert Brecht. Ich gebe offen und ehrlich zu, dass ich vor gut zehn Jahren nur die eine Seite des Problems gesehen hatte. Notübernachtungen, und insbesondere Nachtcafés, die ohnehin - dies hier zur Erklärung des Unterschiedes - nur ein Mal in der Woche für eine Nacht geöffnet haben, tragen nichts zur Überwindung der Wohnungslosigkeit bei. So dachte ich damals.

Mehr noch – ich war der festen Überzeugung, mit den an unterschiedlichen Nächten geöffneten Nachtcafés werde ein Verschiebebahnhof geschaffen, der mehr Probleme schafft, als er zu lösen verspricht. Mit anderen Worten: Eine Hilfe, die kaputt macht. Das ist vielleicht in Teilen tatsächlich so, aber inzwischen denke ich grundsätzlich anders darüber nach. Und das kam so:

Ein Wohnungsloser, der meine Vorurteile kannte, sprach mich eines Tages an und sagte:

"Stefan, weisst Du denn nicht, dass überall in der Stadt, in den vielen Stadtteilen in Berlin Menschen leben, die Platte machen, und das zum Teil schon jahrelang? Auf Dachböden, Treppenabsätzen, Kellern, Verschlägen, Baustellen oder in Parks?

Und das diese Menschen im Winter dankbar sind, wenn sie wenigstens in EINER Nacht der Woche einen warmen, trockenen und sicheren Schlafplatz haben? Wo man mal Schlafen kann ohne Angst haben zu müssen, überfallen und vertrieben zu werden? Leute, die zum Teil schon jahrelang Platte machen und für die das Nachtcafé eigentlich die letzte Verbindung zur Gesellschaft ist?"

So hatte ich das noch nie gesehen.

Jan Markowsky – das war den Wohnungslose, der mich ansprach - musste es wissen, denn er hat jahrelang selbst in Nachtcafés und Notübernachtungen, aber auch auf Platte im Freien – in der ganz großen Wohnung, wie er es nannte – gelebt, und dort kannte er sich aus wie kein Zweiter.

Seit dreizehn Jahren organisiert die Katholische Herz Jesu–Gemeinde in der Fehrbelliner Straße am Teutoburger Platz in Prenzlauer Berg diese Not-wendige Hilfe. Immer in den Monaten von November bis März – der so genannten Kältehilfeperiode - öffnet sich in einer Nacht der Woche der Gemeindesaal für bis zu 15 Wohnungslose Männer und Frauen.

Bereits am Nachmittag treffen sich die Freiwilligen, holen die Matratzen heraus und bereiten eine warme Mahlzeit vor, denn die gibt es auch, und zwar kostenlos, ebenso wie die Übernachtung selbst und das Frühstück am nächsten Morgen. Über die Jahre kamen zunehmend Stadtarme hinzu, die nur Essen brauchen und danach verschwinden. Immer zwei aus dem Freiwilligenkreis übernachten mit den Wohnungslosen, bereiten am nächsten Morgen das Frühstück vor und räumen danach alles auf.

Belastend ist diese Hilfe, und dabei habe ich noch nicht von denen gesprochen,

  • die im Schlaf laut aufschreien, weil sie irgendetwas quält,
  • von denen, die Nachts einpullern und morgens neue Kleidung brauchen,
  • von denen mit den offenen Wunden, die versorgt werden müssen,
  • von anderen, die noch spät nachts torkelnd in der Tür stehen und hineinwollen,
  • von denen, die sich vom BND, KGB und anderen verfolgt fühlen sowie
  • von denen, die plötzlich aggressiv werden und unter Drogen stehen.


Nicht von denen, die sich nicht verständlich machen können,

  • nicht von denen, die wegen allem Streit anfangen und
  • auch nicht von jenen mit plötzlichen epileptischen Anfällen.


Die meisten aber sind vom endlos langen Tag auf der Straße so kaputt, dass sie schon früh am Abend tief schlafen.

Das also ist die Arbeit von Christian Scholtis und seinem Team. Sie wird niedrigschwellig genannt und ist doch von höchstem Wert in ihrer Dauer seit 1996, in ihrer Zuverlässigkeit, in ihrer Freiwilligkeit, in ihrer Beharrlichkeit.

Der Bezirk Pankow hat in den letzten Jahren mehrere 100 Millionen Euro ausgegeben, um tausende Wohnungen instand zu setzen, zu modernisieren, neu zu bauen und dafür, eine umfangreiche städtebauliche Infrastruktur darum herum zu sichern. Aber der Bezirk Pankow war und ist nicht in der Lage, das einfache Problem der Wohnraumversorgung für jene Pankower Bürgerinnen und Bürger zu lösen, die in ihrer aktuten Not zu Christian Scholtis in das Nachtcafé kommen, um dort für eine Nacht zu schlafen.

An uns alle also richtet sich die Frage von Bert Brecht: Was haben wir getan, um das Zeitalter der Ausbeutung zu verkürzen? Diese Seite des Widerspruchs, von dem im Text von Brecht die Rede war, ist die, die uns sehr viel mehr befremden sollte.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe versucht Ihnen zu verdeutlichen, warum Christian Scholtis und sein Team vom Nachtcafé der Herz-Jesu Gemeinde heute und hier den Ehrenpreis 2009 des Bezirks Pankow erhalten. Sollte ich es in einem Wort sagen, würde ich formulieren:

Weil sie das getan haben und tun, was notwendig ist. Für wenige Stunden in der Woche verändert sich für einige Menschen die Welt zum Besseren. So lebt die Hoffnung weiter: eine andere Welt ist möglich. Und das verdient unseren höchsten Respekt. Vielen Dank.

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