Wolfgang Thierse preist den Strassenfeger an. Foto: Volker SonderhoffDas Elend mit den Straßenzeitungen

"Sagt mal, für welche Zeitung arbeiten wir gerade?" pflegte der Redakteur und spätere Bachmann-Preisträger Karsten Krampitz gerne in öffentlicher Runde provozierend zu fragen, wenn es um Straßenzeitungen ging. Und in der Tat waren die Aus- und Neugründungen, die Fusionen und Pleiten der Berliner Straßenzeitungen Mitte der 90er Jahre selbst für Insider kaum noch verstehbar. Platte, Stütze, Haz und Mob-Magazin waren die Namen jener Zeit. Wer kennt sie noch, die Blätter? Auch heute ist es für Aussenstehende kaum möglich, genau zu sagen, worin sich Motz, Querkopf und Strassenfeger, so die gegenwärtigen Zeitungen im Jahr 2009, voneinander unterscheiden.

 

Wäre es nicht besser für die Obdachlosen, wenn es nur eine Zeitung gäbe – das war zu Beginn eine oft gestellte Frage. Als im Frühjahr 1994 durch einen Zufall die Berliner Gruppen, die eine Straßenzeitung herausbringen wollten, über einen Kontakt zum Hamburger Magazin Hinz & Kunzt voneinander erfuhren, war es dafür schon zu spät. Die damaligen Macher konnten und wollten wohl auch nicht mehr ihr Konzept in Frage stellen, es ging ja auch um eigene Gewinnerwartungen und unterschiedliches Selbstverständnis. Und so gab es von Anfang an mehrere Straßenzeitungen in Berlin. Ein Glück für die Verkäufer, denn in keiner anderen Stadt ist der Erscheinungszyklus so kurz (in der Regel vierzehntägig) sowie das Verhältnis von Einkaufs- und Weiterverkaufspreis so günstig, und nirgendwo sonst wurde von Anfang an so konsequent daran gearbeitet, soziale Angebote wie Notübernachtungen, Wohngemeinschaften, Treffpunkte mit Essensversorgung oder Kleiderkammern bereitzustellen. Nirgendwo sonst war und ist der Verkauf von Zeitungen so wenig reglementiert wie in Berlin. Stammplatzverordnungen, Ausweispflicht, Alkohol- und Drogenkontrollen – alle diese Erfindungen aus anderen Städten mit Straßenzeitungen gibt es nicht, und sie wären auch kaum durchsetzbar. Dazu ist die Stadt zu groß und eben die Konkurrenz davor. Wer mit einer Zeitung oder ihren Machern nicht zufrieden ist oder in Konflikt gerät, geht eben zur anderen. Andere VerkäuferInnen wiederum bieten alle Zeitungen an und können so flexibel auf die Kundenwünsche reagieren. Auch konnten sich – bisher – sozialarbeiterische Konzepte der Maßregelung und Gängelung von unangepaßten Verhaltensformen so gut wie gar nicht durchsetzen. In keiner anderen Stadt werden so viele Straßenzeitungen umgeschlagen wie in Berlin. Zählt man die Verkaufszahlen aller in Berlin erscheinenden Blätter zusammen, dürfte Berlin mit insgesamt mehr als 70.000 abgesetzten Exemplaren pro Monat deutlich vor Hamburgs Hinz & Kunzt mit 57.000 verkauften Zeitungen liegen.

 

Die „anarchischen“, offenen Verhältnisse haben in Berlin durchaus Tradition. Gustav Brügel, Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der Vagabunden heraus: Der Kunde. Doch gleich die erste Nummer wird wegen einer homoerotischen Geschichte beschlagnahmt. Brügel, vors Amtsgericht geladen, setzt sich nach Jugoslawien ab. Gregor Gog übernimmt die Herausgeberschaft und Schriftleitung, gründet die Bruderschaft der Vagabunden und kreiert angesichts der Weltwirtschaftskrise das Kampfmotto vom Generalstreik – ein Leben lang. Der Kunde erscheint "in zwangloser Folge" etwa viermal im Jahr mit einer Auflage von 1.000 Exemplaren; der Preis beträgt 30 Pfennige, aber "Kunden, die unterwegs sind, bezahlen nichts". Von der Auflage wird ein Drittel in den Stempelstellen und Arbeitsämtern, in den Herbergen und Obdachlosen-Asylen verteilt. Der Rest wird von Hand zu Hand weitergereicht und dürfte damit eine größere Verbreitung erreicht haben, als die Auflage verspricht. Mit der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 findet diese Episode ein jähes Ende, die Protagonisten müssen fliehen.

1987 – also noch weit vor dem Erscheinen der Street-News in New York im Jahr 1989, die als erste "moderne" Straßenzeitung gilt – gibt ein gewisser Hans Klunkelfuß die ersten Berberbriefe heraus. Die Berberbriefe erscheinen unregelmäßig etwa vier Mal im Jahr in einem Umfang von 8 - 12 Seiten auf fotokopiertem Papier mit einer Auflage von 100 bis 500 Stück. Klunkelfuß hat freimütig erzählt, wie er diese Briefe produziert hat. Wenn genug Geld zusammengeschnorrt war, was am besten in den Innenstädten gelang, ging er mit seinen Kumpels in die Kneipe zur Redaktionssitzung, wo passende Zeitungsausschnitte zusammengeklebt und handschriftlich kommentiert wurden. Wenn von der Zeche noch Geld übrig war, wurde im Copyshop das fertige Exemplar so oft für den Verkauf vervielfältigt, wie das Geld eben reichte. So war Klunkelfuß unterwegs, von Stadt zu Stadt, von Kneipe zu Kneipe, immer wieder neue Ausgaben der Berberbriefe produzierend.

Selbst die erste "moderne" Straßenzeitung in Deutschland war weder die Münchener BISS im Oktober 1993 noch die Hamburger Hinz & Kunzt 14 Tage später, sondern eine Wohnungslosen-Initiative aus Köln. Im März 1992 gründeten einige Wohnungslose und Mitarbeiter der Benedikt - Labre - Hilfe e.V. den "Kölner Bankexpress" - der sich später in Kölner Bank Extra umbenennen musste -, eine Zeitung von Berbern für Berber, die hauptsächlich von betroffenen Wohnungslosen selbst gestaltet wird. Über die Philosophie dieser Zeitung gibt am besten eine Stellenanzeige aus einer der ersten Ausgaben Auskunft: "Stellenmarkt. Wir sind ein junges, expandierendes Unternehmen der Obdachlosenbranche. Zur Verstärkung unserer Außendienstmannschaft suchen wir zum sofortigen Eintritt keine Journalisten, keine Reporter, sondern einfach nur Berber/innen, die etwas über ihre Erlebnisse und Probleme schreiben wollen. Wir erwarten keinen einwandfreien Leumund. Gehaltsvorstellung: 0,00. Das Ergebnis Eurer Tätigkeit könnt Ihr in der Oase oder bei Rolf und Christian am Bahnhof (Köln) abgeben. Wir freuen uns auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit." Noch heute arbeiten der Kölner Bank Extra und einige andere, durchweg weniger bekannte und eher kleinere Straßenzeitungen in Deutschland auf dieser basisorientierten Grundlage, mit Betroffenen als Akteuren und Sprechern in eigener Sache.

Die Blüte der Straßenzeitungen wurde in den Jahren 1996 – 1999 erreicht. Die motz investierte in ein von Betroffenen selbst gestaltetes Wohnprojekt und in ein Trödelkaufhaus mit Umzugsunternehmen. Es war der Strassenfeger, der die Idee einer Zeitung mit innovativen öffentlichen/politischen Projekten über eine selbstverwaltete Notübernachtung hinaus  verband. Aktionen wie die (symbolische) Besetzung von Berliner Edel-Hotels wie dem Adlon oder dem Kempinski unter dem Motto "Es sind noch Betten frei" wurden abgelöst von pressewirksamen Angeboten an Politiker und Medienvertreter, 24 Stunden als Wohnungslose auf der Straße zu verbringen (Crashkurs Obdachlosigkeit) oder Überlebensstrategien der Straße zu erlernen (Betteldiplom). Demonstrationen und Sit-Ins auf Bahnhöfen gegen die Privatisierung öffentlicher Plätze und restriktive Hausordnungen (Freiheit stirbt mit Sicherheit) erreichten ebenfalls eine breite Aufmerksamkeit. Es waren Hans Klunkelfuß, Karsten Krampitz, Werner Picker, Jutta Welle und Stefan Schneider, die für die kurze Zeit von eineinhalb Jahren die beiden Straßenzeitungen Strassenfeger und Looser zu einer bundesweiten Zeitung mit dem „Kampfnamen“ Die Strassenzeitung fusionierten. Das Projekt erreichte eine Auflage von bis zu 75.000 Exemplaren und fand Verbreitung in Berlin, Brandenburg, Odenwald, Freiburg, Essen, Oberursel, Heidelberg, Bremen und weiteren Orten Deutschlands, scheiterte aber an seinen eigenen hohen Ansprüchen, inhaltlichen Differenzen über das Maß möglicher Radikalität und der letztlich doch fehlenden Kraft der wenigen Aktivisten. Aber immerhin, wenigstens für eine kurze Zeit war Obdachlosigkeit ein Thema in der gesellschaftlichen Debatte, ging es um mehr als Mitleid und Almosen.

Die später in Berlin verfolgten ambitionierten lokalen Projekte der wieder in Strassenfeger zurückbenannten Zeitung, wie etwa der Aufbau eines Gebrauchtwarenhauses und die umfassende Sanierung von Altbauten zu einem Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße beförderte letztlich den Aufbau einer starken Vereinsadministration und führte zu einem Absterben der letzten Reste von basisbestimmter Selbsthilfe. Halbherzige Versuche, hier nochmals gegenzusteuern und eine Politisierung der Berliner Straßenzeitungen sowie einen Anschlusss an die gegenwärtige Protestkultur (Globalisierungskritik, Anti-Hartz-Kampagne, Sozialforumsbewegung) zu erreichen, blieben erfolglos. Straßenzeitungen in Berlin sind heute in der politischen Bedeutungslosigkeit, weil sie über eine randständige, marktkritische Orthodoxie nicht hinauskommen (Querkopf), weil sie als auf Propagandainstrumente für eigene Sozialprojekte wie Verkäuferwohngemeinschaft und Umzugsfirma reduziert werden und sich selbst genügen (motz) oder weil sie, auf kommerziellen Erfolg schielend, nur noch werbewirksam professionelle Elendsberichterstattung betreiben, am Spendengeschäft partizipieren und primär Arbeitsplätze für Redakteure schaffen (Strassenfeger). Die Möglichkeiten, aktive Teile wohnungsloser, armer und ausgegrenzter Menschen in Projekte und Aktionen einzubinden, verstreichen ungenutzt, weil die Verkaufenden in jedem dieser Konzepte nahezu ausschließlich auf ihre fixierte Rolle reduziert bleiben. Zugleich fehlt eine öffentliche Darstellung und Diskussion originärer politischer Vorstellungen Wohnungsloser.

Die Bearbeitung realer sozialer Probleme sowohl der Verkaufenden als auch der Wohnungslosen, die zunehmend Migranten sind, wird den professionellen Anbietern der Wohlfahrtskonzerne überlassen und die Chance zum Aufbau alternativer Wohn-, Arbeits- und Lebensformen verkommt zu bloßer Rhetorik. Innovationen finden in anderen sozialpolitischen Handlungsfeldern statt. Die etwa 400 Berliner Straßenzeitungsverkäufer bleiben weitgehend sich selbst überlassen, sind keineswegs repräsentativ für die mehr als 10.000 Wohnungslosen in der deutschen Hauptstadt und verfestigen das bürgerliche Bild des ewig hilfebedürftigen, abhängigen Obdachlosen. Strassenzeitungen sind zu einer besseren Bettelhilfe verkommen – den Mehrwert streichen andere ein. Ändern wird sich das wohl erst, wenn – in der Tradition von Gog und Klunkelfuß – Anarchisten, Unangepaßte und Aktivisten von der Straße das Instrument einer Zeitung noch einmal neu entdecken. Und es riskieren, eine Zeitung als ad-hoc-Organ für die Herstellung kollektiver Öffentlichkeit und neuer Allianzen randständiger, abwegiger und unbedachter Menschen einzusetzen.

Stefan Schneider

www.drstefanschneider.de/ www.eisop.org

Literatur:

  • Bono, Marie L.: Straßenzeitungen. Ein Ratgeber. Freiburg im Breisgau 1999

  • Herbst, Kerstin / Schneider, Stefan: Selbsthilfe: Chaotische Professionalität. In: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. 45. Jahrgang, 3/2003

  • Hoerig, Ralf G./Schmück, Hajo: Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus – DadA (http://www.graswurzel.net/295/vagabunden.shtml )

  • Kemnitz, Sonja/ Schneider, Stefan: randständig - abwegig - unbedacht. Ein Programm. In: motz & Co. randständig - abwegig - unbedacht. Ausgabe 0/95 vom 19.05.1995. Berlin 1995, S. 3.

  • Klunkelfuß, Hans/ Schneider, Stefan: Quo vadis strassenzeitungen? Berlin/Michelstadt 1998 (unveröffentlichtes Manuskript, siehe www.drstefanschneider.de)

  • Künstlerhaus Bethanien (Hrsg.), Wohnsitz: nirgendwo. Vom Leben und Überleben auf der Straße, Berlin 1982.

  • Mollenhauer, Katja: Persons was a rolling stone oder wie alles anfing mit den heutigen Straßenzeitungen. In: Strassenfeger 13/2007, Seite 8

  • Schneider, Stefan: Der Kölner Bankexpress - eine etwas andere Zeitung. In: "Binfo" - Informationsdienst der Berliner Initiative gegen Wohnungsnot e.V./ BIN. Nr. 22 vom Oktober 1993. Berlin 1993, S. 18.

  • Schneider, Stefan: Hans Klunkelfuß und das Selbsthilfehaus Oderberger Straße. In: Strassenfeger 2/2006, Seite 11.

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