Skandal: Märchenautor raucht Joint mit Hausbesetzer
Hamburger Hafenstraße: Neues Buch feiert Krawallmacher.
"Ich lebe in einem Eigenheim in gutbürgerlicher Gegend, und bis ich in die Hafenstraße gegangen bin, habe ich weder demonstriert noch Haschisch geraucht und schon gar nicht Häuser besetzt. (...) Was also trieb mich in die Hafenstraße? Mich trieb die Neugier." (S. 10).
Die Hamburger Hafenstraße ist in allererster Linie ein - Mythos. Ein Mythos des Kampfes um besetzte Häuser. Hausbesetzer, damit verbunden ist die Vorstellung von steinewerfenden, vermummten Chaoten, randalierenden Punks mit streunenden Hunden und lauter Musik, haschischrauchende Hippies und zwielichtiges Gesindel, mit Schlagstöcken und Molotowcocktails bewaffnete Autonome, brennende Autoreifen, Randale, jede Menge Dreck, Drogen, und Gestank, Ratten, lauwarmes Dosenbier, Krawall und Haß. Nun ist es etwas ruhiger geworden in der Hafenstraße, und man fragt sich, was ist eigentlich daraus geworden? Genau zu diesem Zeitpunkt erscheint dazu ein Buch im Hamburger Nautilus Verlag.
Ich staune nicht schlecht: Der Autor ist Rentner, ein pensionierter Schulleiter. Seine bisherigen Veröffentlichungen waren - Märchen. Und dieser Märchenonkel läuft da rum auf dem Gelände der Hafenstraße und setzt sich eines Tages in den Kopf, er will ein Buch darüber schreiben. Jetzt nicht eine Dokumentation der Geschichte der Hafenstraße - dazu findet sich am Ende des Buches auf 12 Seiten eine Chronik der Ereignisse seit 1981 und weiterführende Hinweise - nein, über die Menschen will er schreiben, die in der Hafenstraße leben.
Kein einfaches Unterfangen. Die Hafenstraße ist längst zu einem Touristenziel geworden, Reisebusse karren neugierige Besucher aus aller Welt hierher, um alternative Kultur vorzuführen. Das nervt, und die Bewohner sind - mißtrauisch. Doch Mallet ist beharrlich: "Mehr als zwei Jahre bin ich in der Hafenstraße ein und aus gegangen, habe in der Volksküche gegessen, im Café am Teich Kaffee getrunken, im Onkel Otto am Tresen gesessen und an etlichen Veranstaltungen teilgenommen." (S. 7). Mehr noch: Über diesen Zeitraum hat Mallet in zahlreichen Gesprächen mit den Bewohnern ihr Vertrauen erworben. Herausgekommen ist ein sehr persönlicher Bericht über eine Begegnung, eine sympathische Innenansicht der Hafenstraße und ihrer Bewohner, ihre Geschichte, ihre Beweggründe, über ihre Art zu Leben, zu Arbeiten, zu Wohnen, über ihre Sicht der Dinge und den Versuch, den Alltag zu bewältigen, teils gemeinsam, teils jeder für sich. Die Zeit des Kampfes um die Häuser ist vorbei, ein Stück Normalität eingekehrt. Und trotzdem ist nichts normal:
In 22 Kapiteln erzählt Mallet über "Schauplätze und Menschen", über seine "Vorgeschichte", und den "Ersten Kontakt", er fragt nach, wie die "Nachbarn der Hafenstraße" darüber denken, berichtet über das "Leben und Treiben in der VoKü" (Volksküche), nimmt teil am "Plenum" und den Gesprächen "Post Plenum", spricht über "Josefs 'wildem Entzug'", ist "Gast bei Siggis Geburtstag", berichtet über "Margret", "Hatto", "Die Hundertsechzehner" und die "Operation Hafenkrankenhaus". - "Richtiggehend besetzt wurden die Häuser der Hafenstraße nicht. Es sei denn durch Berber, Stadtstreicher. Die haben als erste in den leerstehenden Häusern gehaust - buchstäblich." (S. 176) - schreibt der Autor in seiner kurzen Chronik der Hafenstraße.
"Mir stellt sich hier die Frage, was der Mensch eigentlich braucht zum Wohnen. Ich fand dazu eine Definition in einer der Unterlagen (...): 'Er braucht ein Dach über dem Kopf, um geborgen zu sein. Darunter eine Wohnung, um die Tür hinter sich zumachen zu können. Er braucht ferner einen Stuhl zum Sitzen und einen für den Besuch. Einen Tisch zum Essen, Schreiben, Spielen und Arbeiten, und er braucht ein Bett zum Schlafen und einen Schrank für die »Siebensachen«. Schließlich muß er noch einen Platz finden für die Dinge, die ihm wichtig sind und ihm etwas erzählen: Zeugnisse seines Sammeleifers, Beutestücke seiner Träume, Gegenstände seines Erfolgs und seiner Hoffnungen.' Josef verfügt über all das, es reicht ihm, mehr noch: Er ist glücklich damit. Zum Geburtstag schenke ich ihm eine Kaffeemaschine." (S. 61).
Das Buch ist ein Bericht darüber, wie unterschiedliche Menschen ist einer Straße und in einer Stadt miteinander leben. Die Hafenstraße nicht als Utopie, sondern als Modell. Ein Buch für alle die, die neugierig sind, darüber nachzudenken und herauszufinden, wie das gehen könnte.
Stefan Schneider
Mallet, Carl-Heinz: Die Leute von der Hafenstraße. Über eine andere Art zu leben. Hamburg: Edition Nautilus 2000. 189 Seiten, DM 28,--- (zu beziehen bei: Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, Alte Holstenstr. 22, D 21031 Hamburg, www.edition-nautilus.de)