Es wird geschätzt, "daß in früheren Jahrhunderten etwa ein Zehntel der Bevölkerung ständig auf den Straßen unterwegs war - Pilgerzüge, die Massen der Vaganten und Bettler, ledige Frauen und ihre Kinder, Soldateska, Krämer und Wanderhändler, Saisonarbeiterinnen und -arbeiter, Mägde und Knechte, vor allem aber Handwerksgesellen. Welche Ziele hatten sie, und wer von ihnen hatte überhaupt ein Ziel? Wie fanden sie alle ihre Ziele? Welche Vorstellungen von Räumen und von der Zeit, von Richtungen und Wegen und Umwegen hatten sie (...)?"

Mit Beginn der Industrialisierung änderte sich das gründlich, die Zahl der Reisenden und die Mobilität nahmen zu, und damit entstanden neue Aufgaben und Sichtweisen - davon handelt dieses Buch. Es waren zuerst Wanderer, Reisende und Schriftsteller, die Mitte des 18. Jahrhunderts begannen, die schreckliche Erfahrung des Verirrens zu thematisieren, und gleichzeitig wurden in dieser Zeit die ersten Maßnahmen ergriffen, mit Hilfe von Verordnungen und neuer Hilfsmittel, dieses Problems habhaft zu werden. Es konnte sich niemand mehr leisten, an Weggabelungen anzuhalten und zu warten, bis vielleicht ein Ortskundiger vorbeikam, der einem sagen konnte, welche Richtung man einschlagen sollte. Zeit wurde ein wichtiger Faktor. Wegzeichen mußten her, die beschriftet waren und den Weg wiesen in den nächsten größeren Ort. Wie auf dem Titel des Buches symbolisiert, waren die ersten Wegzeichen dieser Art naturalistisch, dem weisenden Arm nachempfunden. Und nicht immer hat die Ortsbehörde eingesehen, wieso solche teuren Monstren aufgestellt gehörten, schließlich wußte ja jeder im Ort, welcher Weg zu den Nachbardörfern führt. Die Geschichte dieser Erfindung, die schließlich über verschiedene Stationen zu den großen Autobahnvorwegweisern führte (Kreuz Unna, 5 km) zeichnet der Autor ebenso liebevoll nach wie die literarischen Dokumente zum Problem, den richtigen Weg nicht zu finden und in die Irre zu gehen. Und ganz unvermutet finden wir aus einer Ecke, die wir vorher nicht vermuteten, einen wichtigen historoschen Beitrag zum Thema Globalisierung. Von Wegzeigern an der Weggabelung zu den digitalen Suchmaschinen im Internet (die eigentlich Findemaschinen heißen müßten) ist die Aufgabe die gleiche geblieben: Hilfe zu geben beim Finden des richtigen Weges (zum gewünschten Ort). Und wer ist nicht schon mal beim surfen in die Irre gegangen? "Verirren ist also alltäglich; es ist nach wie vor alltäglich, obwohl es uns stört, und obwohl es sich eigentlich nicht mehr ereignen sollte; deshalb verdichtet es sich zu Geschichten. Aber das Weg-Finden, die gelungene Zielbewegung, das Hin- und Ankommen (...): dies alles ist noch viel alltäglicher, ist so selbstverständlich, so banal, daß es uns gewiß nicht zum Geschichtenerzählen reizt. (...) - wer soch vermag aus dem Gedächtnis exakt die Wegweiser zu benennen, die er doch täglich benützt?" (S. 88)

Wer also Lust hat an Wegen und Irrwegen, wer gerne einen freien Tag mit der Lektüre eines guten Buches verbringen möchte, ist hier gut beraten: Das handliche Buch ist kaum teuerer als ein Kinobesuch mit Cola und einer großen Tüte Popkorn, hält aber länger. Nach dem Frühstück Bilder gucken, es sind insgesamt 65 Stück und den ersten Teil lesen, die "Kleine Geschichte des Verirrens", nach dem Mittagessen und dem Mittagschlaf den zweiten Teil, die "Kleine Geschichte des Wegzeigers" sowie das Nachwort: "Symbolgeschichte als Symptomgeschichte" und "Irren im Leben und in der Wissenschaft". Ist aber einfacher, als es sich anhört. Und Abends denn seinem Freund davon erzählen. Das Buch ist aber auch ein gutes Geschenk für Bekannte, die gerne Wandern gehen oder am Wochenende mit dem Motorrad unterwegs sind oder aber die alle jene Spezialisten, die wenigstens zweimal am Tag sagen: "Der Weg ist das Ziel".

Stefan Schneider

Scharfe, Martin: Wegzeiger. Zur Kulturgeschichte des Verirrens und Wegfindens. Marburg: Jonas Verlag 1998, 112 Seiten, 65 Abbildungen, DM 28,--

Veröffentlicht im Strassenfeger 08//2001

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