Stefan Schneider

Platte machen?

Buchbesprechung zu: NEUMANN, Manfred E. /SCHRAFFENBERGER, Willi: Platte machen. Vom Leben und Sterben auf der Straße. Portraits. Mit einer Reportage von Hans-Volkmar Findeisen. Stuttgart: Quell Verlag 1992 ISBN 3-7918-2702-2.

Gegen die häufig distanzierte Darstellung von außen "durch die Brille eines Journalisten oder Wissenschaftlers" erarbeiten Manfred Neumann (Fotografie) und Willi Schraffenberger (Textdokumentation), Mitarbeiter der Ambulanten Hilfe Stuttgart e.V., ein Buch, 120 Seiten stark, das bestimmt wird von der Idee, näher hinzuschauen: Die Wohnungslosen "sollten selbst zu Wort kommen, sie sollten selbst sagen, was ihnen wichtig ist, und sie sollten so dargestellt werden, wie sie selbst es wünschten und wie es die Achtung ihrer persönlichen Würde gebot" (S.7). Die Autoren kennen ihre Gesprächspartner durch ihre Tätigkeit in der Straßensozialarbeit, mit dem Einverständnis der "Betroffenen" haben sie mit Kamera und Tonband Lebensäußerungen von 49 Wohnungslosen festgehalten, im Kontext des Gesprächs oder im Anschluß daran sind die Fotos von ihnen entstanden.

Nach dem Vorwort der Autoren, in der sie kurz Idee, Intention, Methodologie und Erarbeitungsprozeß sowie die Zielsetzungen dieses Projekts transparent machen und die Inhalte der Arbeit in der Ambulanten Hilfe skizzieren, folgt der Darstellungsteil. "Um zu dokumentieren, daß die (...) eingefangene Situation möglichst unmanipuliert wiedergegeben wurde, (...) wurden die Bilder zusammen mit ihrem Negativrand vergrößert" (S.8). Auf 49 Doppelseiten ist jeweils ein Portraitfoto zu sehen, welches eine Seite füllt, auf der gegenüberliegenden Seite ist das von den Autoren ausgewählte Fragment der Gesprächsaussagen dokumentiert, versehen mit einer aus dem Textfragment entnommenen Überschrift, die quasi die Aussageintention zusammenfassend wiedergibt. Die Elemente Überschrift, Textfragment und Foto bilden im aufgeschlagenen Buch ein Spannungsverhältnis, ergeben in wechselseitiger, einander erklärender Bezugnahme ein persönliches Triptychon der vorgestellten Person.

Die spannend zu lesende Reportage des Autors und freien Rundfunkjournalisten Volkmar Findeisen, die das Buch beschließt, ist exemplarisch in Ergänzung zur bruchstückhaften Wiedergabe der 49 Wohnungslosen eine vielschichtig verstehende Annäherung an Biographie und Entwicklung von Herrn A., eine rekonstruktive Nachzeichnung seines Versuchs, im Kontext erfahrener gesellschaftlicher Realität sowie der Umgangs- und Reaktionsformen auf Wohnungslosigkeit durch, mit und gegen die Einrichtungen und Angebote des Hilfe für Wohnungslose seinem Leben einen Sinn zu geben und irgendwo in oder am Rande der Gesellschaft zu einem sinnvollen Leben zu finden. Eine Reportage, die ergänzend zu den Bildern und Texten die Intention der Autoren verdeutlicht: Es geht uneingeschränkt um ein authentisches Bild vom ganzen Menschen in der Gewordenheit seiner Sorgen, Ängsten, Leiden, Probleme, aber auch um die Ganzheitlichkeit in seinen Bedürfnissen, Wünschen, Träumen, Hoffnungen, Zielen und Sehnsüchten.

Mir hat sich das Buch einer eindeutigen Bewertung entzogen. Gegen die Assoziation, die der Titel nahelegt, wird nicht ein engumgrenztes Klischeebild des Berbers oder Stadtstreichers reproduziert, sondern vielmehr Männer wie Frauen, Junge und Alte gezeigt, die wir sehen können oder könnten, wenn wir mit offenen Augen durch die Straßen gehen. Die Fotos wecken Erinnerungen: Sind das nicht Menschen, die ich kenne aus dem Familienalbum, aus meinem Haus, aus der Nachbarschaft, denen ich begegne, wenn ich einkaufen gehe, in der Stadt unterwegs bin oder einen Bummel mache auf dem Ku-Damm?

Der den Wohnungslosen zur Verfügung stehende beschränkte Handlungsraum, die soziale Realität der Ausgrenzung und Isolation, die realen Schranken, Hindernisse, Bedrohungen, Widrigkeiten und Schwierigkeiten des Lebens ohne Wohnung, das Platten-, Straßen- und Bahnhofselend, Behördendiskriminierung, Polizeivertreibung und weitere typische Kennzeichen ihrer extremen Situation kommen in den Bildern nicht oder nur andeutungsweise zum Ausdruck. Die Fotos für sich sind eine subjektivistische Reduktion der Personen auf das Portrait unter weitgehender, nur selten durchbrochener Abstraktion von den Bedingungen und Umstände der Lebenslage. Diese bewußte Engführung fotografischer Freiräume steht im Gegensatz zur analytischen Funktion der kontrastreichen Moment-Aufnahme einer Sozialreportage und bricht mit den Vorstellungen von üblicher Elendsdokumentation. (Eine solche Intention fotografischer Sozialdokumentation ist kürzlich in hervorragender Weise im Fotoband "Randzone" von Michael Peuckert in Kooperation mit der Münchner Teestube "KOMM" verwirklicht worden.) Die Fotos in "Platte machen" erfüllen eindeutig die Funktion von Sympathieträgern, sie wollen "den Menschen" nahebringen.

Im schlimmsten Fall ist "Platte machen"- im Bücherregal aufgeklärter Bürger unter "Fotobände" zur Ablage gekommen - Inbegriff einer veränderten postmodernen gesellschaftlichen Situation von anything goes: Wohnungslose sind auch Menschen, durchaus sympathisch (eine Sichtweise, die den unvermeidlichen Umgang mit ihnen auf der Straße ungemein erleichtert), ein interessanter, exotischer Lebensstil (keineswegs problemlos, aber wer lebt schon problemfrei?) als Teil eines facettenreichen sozialen Big-bangs, in dem und mit dem wir leben. Die emotional aufgeladene Akzeptanz wird auf die persönliche Ebene von Verständnis beschränkt und mit den besten Wünschen für den weiteren Lebensweg sowie dem Verweis auf zuständiges professionell-institutionalisiertes Hilfeengagement entsorgt. Das von den Autoren wiederholt benannte Gebot der Achtung der Würde wohnungsloser Personen verliert innerhalb eines solchen Szenarios jede visionäre Kraft, verkümmert zur realitätslosen Farce und wird so zur Metapher einer Flucht in sozialmoralische Appelle an eine würdelose Gesellschaft, die in ihrem "Wahnsinn der Normalität" (Arno Guen) Menschen mit Füßen tritt, anfackelt und verrecken läßt.

Andererseits: Wenn das Buch von den Texten ausgehend betrachtet wird, ist es stark. Es sind die authentischen Aussagen der Wohnungslosen, die einen Zugang zu ihren Portraits, der über das Ästhetische hinausgeht, ermöglichen und in der Synopse einen Blick auf das "Leben und Sterben auf der Straße" eröffnen. Der Zugriff auf diese Realität erfolgt über subjektive Perspektiven der "Betroffenen" selbst. Deutlich wird: Die wirklichen Lebensverhältnisse der vorgestellten Personen in ihrer jeweils besonderen Ausprägung subjektiver Wahrnehmungen, Deutungsmuster und Handlungsbeiträge sind allein über die gängigen verallgemeinernden Abstraktionen zur Kennzeichnung sozialer Lagen adäquat nicht zu fassen. Die knappen fragmentarischen Aussagen sind von Fallbeschreibungen oder Zusammenfassungen weit entfernt und lassen nicht zu, Wohnungslose auf Schicksale, Probleme, Katastrophen oder defizitäre Persönlichkeitsmuster zu reduzieren, sondern erfordern vielmehr ein Erfassen und Ernstnehmen der darin anklingenden Persönlichkeit in der Komplexität der gebrochenen Ganzheitlichkeit ihrer tätigen Lebensbeziehungen. Gegen ein Verständnis Wohnungsloser als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse und Objekte pädagogisch-therapeutischen Hilfehandelns sind sie - trotz der Würdelosigkeit ihrer Situation - dennoch Subjekte ihrer Tätigkeit und Biographie. Der lesende Betrachter erhält die Chance, sich den Standpunkten und Sichtweisen der 49 Wohnungslosen anzunähern und darüber zu einer Wahrnehmung der individuellen Besonderheiten in den Lebensverhältnissen, der Beteiligung an ihrer Gestaltung, der persönlichen Sinnstrukturen und dem je individuell-biographischen Bezug auf 'Sinn' überhaupt der handelnden Subjekte zu gelangen und so nachzuvollziehen, wie die Welt, in der sie leben, ausgehend von der eigenen Person, tätig angeeignet wird, werden muß. Ich lese in den 49 Aussagen der Wohnungslosen vielfach das Resultat jener bitteren Konsequenz, die Lutz Niethammer so formuliert: "Wenn die Bezugnahme auf die Gesellschaft keinen Sinn verspricht, ist der einzelne zu ihrer Benutzung befreit und auf seine Bestände verwiesen."

Obdachlosigkeit, das bestätigt dieses Buch erneut, ist nicht reduzierbar auf die Problematik fehlenden Wohnraums, sondern ein darüberhinausgehendes Problem der Möglichkeit sinnvoll-tätiger gesellschaftlicher Lebensbeziehungen, eine Frage, die nicht allein von den Wohnungslosen aus beantwortet werden kann. Gleichwohl werden durch den Einbezug der Subjektivität Wohnungsloser vermittels ihrer Aussagen auch Kriterien gegenüber den Hilfeangeboten konkretisiert: Statt externer Problemzuschreibung und normativ-normalitätsorientiertem Hilfeverständnis (Wohnung gegen Therapie, Hilfe gegen Wohlverhalten usw.) und den daraus resultierenden Mechanismen ("Drehtüreffekt", Wohnungslosigkeit trotz Hilfesystem), die im wesentlichen gegen die Interessen der Wohnungslosen stehen, geht es, ausgehend vom subjektiven Verständnis Wohnungsloser, was für sie Hilfe ist und sein kann, um erweiterte Formen kooperativen Handelns, das orientiert an der Eigendefinition ihrer Bedürfnisse und Bedürftigkeiten dem Niveau ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten Rechnung trägt und Möglichkeiten und Räume zu einer Tätigkeit in der Zone der nächsten Entwicklung (Vygotskij) erschließen kann. Die konkret zu verwirklichende Aussicht auf Wohnraum gehört dabei mit Sicherheit zu den sinnvollsten und innovativsten Perspektiven.

Ich stelle mir vor, daß "Platte machen" ein Buch ist, das in den Einrichtungen und Angeboten für Wohnungslose ausliegen kann, in dem Besucher und Sozialarbeiter blättern, schauen, verweilen und lesen, sich selbst und andere wiedererkennen können, das die Chance eröffnet, ins Gespräch zu kommen, gegenseitiges Akzeptieren und Verstehen auf eine praktische Ebene zu bringen und auf dieser Basis Kommunikation und bestenfalls gemeinsame Handlungsfähigkeit herzustellen.

Ich stelle mir vor, daß "Platte machen" auch für "Nichtinsider" ein spannendes Buch sein kann, wenn es darum geht, neue Bündnispartner für Strategien zwischen einer Lobbyarbeit für Wohnungslose und einer notwendigen umfassenden gesellschaftlichen Perestrojka in der Verteilung von Reichtum und Wohnraum zu gewinnen und mit ihnen neue Arbeitsansätze kooperativ auszuhandeln.

Ich stelle mir vor, daß der mit "Platte machen" verbundene Anspruch "Hinschauen statt wegsehen - reden lassen statt den Mund verbieten" in der praktischen Arbeit noch weiter vorangetrieben wird und sich in von Wohnungslosen weitgehend selbstbestimmten Publikationen niederschlägt (Die von Hannes Kiebel herausgegebene Reihe "Texte drinnen und draußen", insbesondere die 3 Hefte mit Fotos und Texten von Karin Powser, aber auch die Texthefte der Berliner Obdachlosenkulturgruppe "Unter Druck" und der "Kölner Bankexpreß" sind Beispiele dafür) und daß damit die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Wohnraum und Wohnungsnot weiter forciert wird.

Stefan Schneider


In: "Binfo" - Informationsdienst der Berliner Initiative für Nichtseßhaftenhilfe - Nr. vom

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