Stefan Schneider

THEATER-AUFFÜHRUNG der Berliner Obdachlosen GmbH & CoKG "Untergang"

"Untergang" ist ein Theaterstück, das unter der Regie von Bernard Wind von der Berliner Obdachlosen GmbH & CoKG - fünfzehn Obdachlose in Zusammenarbeit mit professionellen Schauspielern - erarbeitet und vom 4. - 16. Juni 1991 (außer Montags) in der Parochial-Kirche am U-Bhf. Klosterstr. aufgeführt wurde.

"Die Stärke des Stücks ist die Verknüpfung von Lebenserfahrung mit der Kunst" (Bernard Wind in der taz vom 23.5.91) : Wer ein authentisches Millieustück, politisierendes Aufklärungstheater oder den "reinen" Kunstgenuß erwartet, wird enttäuscht werden: Hier wird etwas Neues geboten. Das Stück zeigt miteinander verwobene, ineinander übergehende und gegeneinander gestellte Szenen, Bilder und Fragmente. Reale, detailgenau ausgearbeitete Szenen des Alltags (Sozialamt), zuspitzende Vereinfachungen (der Ordnungspolizist zahlt der Sozialarbeiterin ihren Stundenlohn aus), symbolhaft-ästhetische Übersetzungen (der angedeutete Kreuzweg) und existenzialistische Reflexionen (Camus, der Sinn des Lebens oder: die Frösche in der Milchschüssel) sind einige der Elemente. Sie sind in der Begegnung von obdachloser Lebenswirklichkeit und professioneller Schauspielkunst zu verorten. In diesem Sinne ist das Stück weniger ein fertiges Produkt als vielmehr die Wiedergabe der Schichten, Dimensionen und Prozesse dieser Auseinandersetzung während der Erarbeitung des Stücks. Permanent brechen im Stück die verschiedensten Gegensätze von Individualität und Gruppe, Authentizität und Rolle, Lebensrealität und Kunst, Distanz und Nähe, spielerischem Diskurs und intentionaler Vergegenständlichung auf und fallen erneut zusammen. Diese Spannung ist zunächst verwirrend und gewöhnungsbedürftig und verweist darauf, daß auch die Alltagswirklichkeit der Obdachlosen sich vereinfachenden Deutungen entzieht. Sie zwingt dazu, Widersprüche auszuhalten und gleichzeitig Positionen entwickeln zu müssen. Die Darsteller erspielen Figuren, die - Obdachlose und Nicht-Obdachlose - irritierend vertraut wirken, weil sie Flächen zur Identifikation bieten, aber auch bisweilen abstoßend sind. Sie zeigen so Bezugspunkte und Hindernisse von produktiven Beziehungen auf.

Eine besondere Wirkung dieses vielschichtigen Stücks könnte in der Möglichkeit bestehen, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die bislang nichts miteinander zu tun haben oder zu tun haben wollen. Die Schlußszene spitzt - in Camus'schem Sinne - die andere Alternative zu: Die Unerträglichkeit abgeschlossener Räume. Selbst in der spielerischen Darbietung war das nicht lange auszuhalten.

Der Theatergruppe ist zu wünschen, daß sie im Anschluß an die Vorstellungen in Berlin an dem Stück weiterarbeiten es auch in anderen Städten zeigen kann.

Entgegen der Kritik, es gäbe wichtigeres zu tun, als Theater zu finanzieren (oder zu spielen), liegt der Stellenwert des Projekts eben darin, für die obdachlosen Schauspieler Tätigkeitsfelder mit der Möglichkeit persönlicher Entwicklungen zu eröffnet zu haben. Die Wirkung dieser Seite des Projekts ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht abzusehen. Die besondere Bedeutung von Kunst entfaltet sich immer da, wo es ihr gelingt, etwas zu sagen, wofür es noch keine Worte gibt und damit vorgreifend Räume des Handelns zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zu erschließen. Das gilt auch für den Arbeitsprozeß der Künstler selbst, insbesondere dann, wenn es sich um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensrealität handelt. Daß der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und lohnender Arbeit damit nicht aufgehoben ist, werden die Betroffenen sehr genau wissen.

Stefan Schneider


In: "Binfo" - Informationsdienst der Berliner Initiative für Nichtseßhaftenhilfe - Nr. XI vom Juni 1991, S. 10. Berlin 1991

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