Ein Bericht von den Anfängen 1927.
70.000 Menschen sind auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später werden es 450.000 sein. Gustav Brügel, Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gibt die erste Zeitschrift der Vagabunden heraus: "Der Kunde". Gleich die erste Nummer wird beschlagnahmt wegen einer homoerotischen Geschichte, Brügel vors Amtsgericht geladen, setzt sich aber nach Jugoslawien ab Gregor Gog übernimmt die Herausgeberschaft und Schriftleitung und gründet die "Bruderschaft der Vagabunden".
„Der Kunde“ erscheint „in zwangloser Folge“ etwa viermal im Jahr mit einer Auflage von 1000 Exemplaren, der Preis beträgt 30 Pfg.; aber "Kunden, die unterwegs sind, bezahlen nichts". Von der Auflage wird ein Drittel in den Stempelstellen und Arbeitsämtern, in den Herbergen und Obdachlosen-Asylen verteilt. Der Rest wird von Hand zu Hand weitergereicht und dürfte so einen weitaus größeren Verbreitungsgrad gefunden haben, als die Auflage verspricht. Der „Kunde“, das ist ein Sammelsurium aus autobiographischen Berichten, Zeichnungen und Gedichten, Liedern und Spottversen, Sozialreportagen und Geschichten sowie Beschwerden und praktischen Tips für das Überleben auf der Landstrasse. Hinzu kommen Überlegungen zu einer "Philosophie der Landstraße" aus anarchistisch-religiöser Perspektive.
Die Idee von einem internationalen Vagabundenkongress kommt auf und wird Pfingsten 1929 verwirklicht. In Stuttgart treffen sich 600 Vagabunden aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten. Knut Hamsun und Lewis Sinclair senden Grußbotschaften, Alfons Paquet und Willi Hammelrath sind unter den Kongressrednern. Gregor Gog gibt die Parole aus: “Generalstreik das Leben lang” Laut Ankündigung (1929, H.9/19) ist "Der Kunde" 1930 nicht erschienen, da der Herausgeber auf Wanderschaft ist. 1931 wird das Blatt unter Beibehaltung der Jahrgangszählung mit dem Titel "Der Vagabund" weiter für fünf Ausgaben herausgegeben. Eine völlig andere Zeitung. Was war passiert?
1930 reist Gog in die Sowjetunion. Sein besonderes Interesse gilt dem Leben der Besprisornij, der vagabundierenden Kinderbanden, die auf Geheiß des sowjetischen Erziehungsministeriums in Heimen und Kolonien "in den gesellschaftlichen Aufbauprozeß integriert" werden sollen. Gog, der leidenschaftliche Anarchist, der zusammen mit seinem Freund, dem Künstler Hans Tombrock, auf dem Vagabundentreffen noch jegliche Vereinnahmungsversuche kommunistischer Parteifunktionäre entschieden zurückgewiesen hatte, kehrt als überzeugter Kommunist nach Deutschland zurück.
Anfang 1931 gibt Gog wieder eine Zeitschrift heraus: "Der Vagabund". Sich und die "Bruderschaft der Vagabunden" erklärt er plötzlich zu einem Teil der kommunistischen Arbeiterbewegung. Die Spaltung ist bereits mitten im Gange: Gog unterscheidet nunmehr in "Kunden" und "Vagabunden". Als letztere bezeichnet er nur noch die "bewußten Landstreicher", die eine Art "Reservearmee der Arbeiterklasse" bilden sollen. Kommunistische statt anarchistisch-utopische Positionen bestimmen das Blatt. Die Losung "Generalstreik ein Leben lang" fällt zugunsten von "Wandertrieb ist Hungertrieb". Die Bruderschaft soll Wahlagitation für die KPD betreiben; Gog versucht, die LandstreicherInnen an die Urnen zu bringen. Ende 1932 tritt Gog selbst der KPD bei.
Seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 wandelt sich die Situation auf der Landstrasse grundlegend: bis 1933 wächst die Zahl der LandstreicherInnen auf 450.000, darunter viele Notwanderer, die von der Erwerbslosenfürsorge ausgesteuert worden waren. Zu Beginn der dreißiger Jahre gewinnen die Nazis gerade unter den jungen arbeitslosen Notwanderern zunehmend an Einfluß. Etliche füllen die Reihen der SA. Gog warnt vor dieser Entwicklung, steht aber schon weitestgehend isoliert da. Seine Wandlung zum Kommunisten hatte viele vor den Kopf gestoßen. Als erste hatten sich die libertären VagabundInnen abgewandt, die die Parteidisziplin und plötzliche Staatshörigkeit Gogs grundlegend ablehnen. Gog kann zwar noch junge ArbeiterInnen, Erwerbslose um sich sammeln, aber das ist nicht mehr dasselbe wie vorher. 1933 wird GREGOR GOG verhaftet, kommt in ein Konzentrationslager, kann in die Schweiz flüchten, stirbt 1945 in Taschkent. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert.
Stefan Schneider im Strassenfeger 13/2007