Guten Abend,

ich möchte vielen Dank sagen für die Gelegenheiten, heute hier in der Kirche St. Paul bei der Feier anlässlich des 25 Jubiläums des Tagestreffes St. Vinzenz sprechen zu können.

Ich bin Stefan Schneider aus Berlin und arbeite seit mehr als 25 Jahre mit wohnungslosen, arbeitslosen und armen Menschen zusammen. Gegenwärtig arbeite ich als Koordinator der Selbstvertretung wohnungloser Menschen.

Das ist ein Initiative, in der sich wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen aus dem deutschsprachigen Raum zu einem Netzwerk zusammen geschlossen haben, um sich selbst für ihre Rechte einzusetzen.

In ihrem Leitbild schreiben die Menschen:

Wir engagieren uns für eine bessere Welt, die Überwindung von Armut, Ausgrenzung, Missbrauch, Entrechtung und Wohnungslosigkeit sowie für die Verbesserung konkreter Lebenssituationen: Alles verändert sich, wenn wir es verändern!

Ich habe mir erlaubt, einen Hinweis auf die Selbstvertretung hier in diese Ausstellung einzufügen und würde mich freuen, wenn in Zukunft auch wohnungslose Menschen aus Esslingen sich an diesem Netzwerk beteiligen würden.

Der Tagestreffpunkt St. Vinzenz hat sich überlegt, anlässlich dieses Jubiläums eine Ausstellung zu zeigen. Ich möchte Sie einladen, nach dieser Andacht mit gemeinsam durch die Ausstellung zu gehen, weil ich Ihnen das eine oder andere noch erläutern kann.

Doch vorab möchte ich Ihnen einiges allgemeines dazu sagen.

Diese Ausstellung ist aus mehreren Gründen eine ganz besondere Ausstellung. Die Fotografin – Karin Powser aus Hannover – war selbst jahrelang obdachlos. Es ist sogar ein Buch über sie veröffentlicht worden: Ihre damalige Sozialarbeiterin Christine Swientek hat im Jahr 1986 ein Buch über sie geschrieben mit dem Titel „Das trostlose Leben der Karin P.“

Ich glaube, es ist gar nicht entscheidend, was in diesem Buch steht. Ich erinnere mich an Alkoholmißbrauch, Tablettensucht, Selbstmordversuche und immer wieder Probleme mit Behörden. Entscheidend aber ist, dass Karin Powser irgendwann mal eine Kamera geschenkt bekommt und beginnt, zu fotografieren. Mit Ihren Fotos hat sie Erfolg.

Die Fotos zeigen die Welt, in der sie sich jahrelang selbst bewegte. Die Welt der Menschen, die auf der Straße leben und versuchen, zu recht zu kommen, zu überleben. Ein anderer Sozialarbeiter – Hannes Kiebel – veröffentlicht Broschüren mit ihren Fotos und kurzen Texten. Er will damit aufmerksam machen auf die Lebenssituation wohnungsloser Menschen.

Meiner Meinung nach ist das ein sehr wichtiger Ansatz: Menschen nicht zu beurteilen oder zu verurteilen aufgrund ihrer Vergangenheit, sondern die Menschen wahrzunehmen so wie sie sind und in der Situation, in der sie sind.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Wohnungsnot und Ausgrenzung selbstverständlich sind. Es gab und gibt in Deutschland kein Recht auf Wohnung, und selbst da, wo es irgendwo in einer Landesverfassung verankert wird, wird es als unverbindliche Richtlinie verstanden aber nicht als ein Menschenrecht, das von jedem einzelnen eingeklagt werden kann.

Wenn wir dann noch verstehen, dass Wohnungen als Ware gehandelt werden, um damit Profite zu erzielen und Tag für Tag Menschen auf die Straße zwangsgeräumt werden, dann können wir nicht mehr von Wohnungslosigkeit als persönliches Schicksal sprechen. Wohnungslosigkeit ist ein gesellschaftliches Problem.

Ich lerne Karin Powser 1991 in Uelzen auf dem Kongress der Kunden, Berber, Obdach- und Besitzlosen kennen. In dieser Zeit arbeite ich selbst in Berlin an einem Forschungsvorhaben über die Lebenssituation wohnungsloser Menschen. Nach der friedlichen Revolution 1989 und der Deutschen Vereinigung explodiert auch die Zahl der wohnungslosen Menschen, und auch die Struktur und Zusammensetzung dieser Gruppe ändert sich. Mir wird klar, dass das sichtbar werden muss und ich lade Karin Powser im Jahr 1993 für eine Woche nach Berlin ein.

Zusammen durchstreifen wir Straßen und Plätze, besuchen Einrichtungen und Projekte und kommen mit vielen wohnungslosen Menschen und Einrichtungen in Kontakt. Die Menschen freuen sich über die Aufmerksamkeit und denken, dass unsere Arbeit einiges erreichen kann, um die Situation wohnungsloser Menschen zu verbessern. Am Abend bringen wir – Internet und Personal Computer gibt es noch nicht – die Filme zum entwickeln, am nächsten Morgen ziehen wir mit den entwickelten Fotos los und suchen die Menschen erneut auf.

Die Fotos aus dieser Zeit sind schwarzweiss hier in dieser Ausstellung.

In der Zwischenzeit geht das Leben weiter. Zahlreiche Einrichtungen entstehen und werden gegründet, die es damals noch nicht gab. Beispielhaft zu nennen wäre natürlich der St. Vinzenztreff in Esslingen, vor allem aber meine ich die Tafelbewegung, die Straßenzeitungen, Arztmobile, Theaterprojekte.

Die Fotografin dieser Ausstellung, Karin Power, arbeitet zunächst im Kontaktladen Mecki am Hauptbahnhof in Hannover ehrenamtlich mit, und als 1995 in Hannover die Straßenzeitung Asphalt gegründet wird, ist sie als freiberufliche Fotografin dabei. Später bekommt sie unter dem Titel: „Das musste mal gesagt werden“ eine eigene Kolumne. In der Zwischenzeit ist es ihr auch gelungen, eine eigene kleine Wohnung in Hannover-Anderten zu beziehen, in der sie bis heute wohnt.

Die Jahre gehen ins Land, Karin Powser und ich stehen sporadisch in Kontakt, und es sieht bis zum Jahr 2000 so aus, als würde es gelingen, das Probleme der Wohnungslosigkeit schrittweise in den Griff zu bekommen. Aber das ändert sich spätestens in den Jahren um 2006 – ab hier steigen die Zahlen wieder. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Eines Tages fällt mir auf, dass mehr als 20 Jahre vergangen sind, seit dem ich mit Karin Powser in Berlin unterwegs war. Die Idee entsteht, dass es Zeit ist für eine neue Bestandsaufnahme. Per email frage ich Karin Powser an, ob sie Lust hätte, wieder nach Berlin zu kommen. Sofort sagt sie zu, hat aber bedenken wegen ihres gesundheitlichen Zustands.

Seit Ihrer Krebserkrankung am Gaumen und am Kehlkopf ist sie auf Flüssignahrung angewiesen, ist lange nicht mehr die alte, ermüdet schnell und kann auch keine weiten Wege mehr gehen. Wir fahren oft Taxi, machen früh Feierabend. Trotzdem suchen wir die alten Orte erneut auf, versuchen Kontakt herzustellen, mit den Menschen zu sprechen.

Nahezu alle Einrichtungen gibt es noch, einige sind umgezogen, einige Szenetreffpunkte haben sich verlagert. Neue Einrichtungen – ich deutete es vorhin an – sind dazu gekommen, wie etwa die Tafel, die Straßenzeitungen, das Arztmobil, die wir auch besucht haben.

Die Fotografien aus dem Jahr 2015 sind – im Unterschied zu den Fotografien von 1993 – in Farbe, sodaß die Ausstellung den unmittelbaren Vergleich ermöglicht. Einige Fotos sind aus exakt der gleichen Perspektive aufgenommen worden.

Es lohnt sich also, diese Ausstellung genauer zu betrachten. In einem einzigen Fall haben wir auch einen Menschen wiedergetroffen, den wir bereits 1993 kennen gelernt haben. Es ist Heinz Kreitzen, der damals in der Theatergruppe Unter-Druck, Kultur von der Straße aktiv war und heute fester Bestandteil der Obdachlosentheatergruppe Ratten 07 ist. Das Wiedersehen war natürlich eine große Freude, und auch die Lebenssituation von Heinz hat sich über die Jahre stabilisiert.

Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen damals und heute. Ich möchte drei nennen:

Erstens. Große Vorbehalte gegenüber Kameras. Das Internet und Social Media haben dazu beigetragen, dass es sehr viel schwieriger ist, als armer und wohnungsloser Mensch anonym zu bleiben. Viele möchten sich nicht outen, fühlen sich bereits beim Anstehnen bei den Tafelausgaben extrem beschämt und wollen nicht, daß ihre Situation an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Auch gibt es Bedenken, von Medienleuten für eine Story medial ausgeschlachtet zu werden.

Zweitens. Die Zahl der wohnungslosen Menschen hat erheblich zugenommen. Der Tagestreffpunkt Warmer Otto bietet nun Platz für ca. 70 Menschen, alle Plätze waren belegt. Damals war Platz für ca. 25-30 Menschen. Im Kleinen Tiergarten sind überall Grüppchen von Menschen zu sehen, die offenbar in Armut leben. Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße, verarmte Nachbarn und Obdachlose. In den 90 Jahren gab es hier und da mal sporadisch einen Treffpunkt.

Drittens, und das macht mir am meisten Sorge: Die Stimmung ist bedrückt und deutlich gewalttätiger als früher. Die Situation wird als ausweglos wahrgenommen. Es gibt kaum noch bezahlbare Wohnungen, und ohne Einkommen und mit Schufa-Eintrag ist es nahezug aussichtslos, wieder in eine Wohnung zu kommen. Die Obdachlosigkeit ist zum Dauerzustand geworden. Zugespitzt: Drogen und Alkohol sind oft die einzigen Abwechslungen aus einem trostlosen Alltag.

Die Wissenschaft kann das beschreiben: Die Kluft zwischen arm und reich ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen, die Gesellschaft ist deutlich weniger durchlässig als früher. Wer einmal arm ist, bleibt in der Regel arm, wer einmal obdachlos ist, bleibt es in der Regel auch. Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß.

So erklärt sich der Titel der Ausstellung: Keine Gnade auf der Straße. Das Leben auf der Straße ist hart, aussichtslos und nicht schön. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen, wir dürfen uns damit aber nicht abfinden.

Karin Powser, die Fotografin, ist heute nicht hier, weil ihr die Anreise nach Esslingen zu weit ist und sie auch den Trubel von Ausstellungseröffnungen nicht mag. - Ich soll freundliche Grüße ausichten.

Karin Poswer ist inzwischen 71 Jahre alt und lebt halbwegs von ihrer Grundsicherungsrente. Wenn Sie einen Katalog von dieser Ausstellung erwerben, kommt das Geld der Fotografin zu Gute.

Und damit komme ich zurück zum St. Vinzenztreff.

Es geht darum, eine Brücke zu bauen zwischen Menschen in schwierigen sozialen Verhältnissen und einer Mehrheitsgesellschaft, die in der Pflicht stehen sollte, eine Daseinsvorsorge und ein menschenwürdiges Leben für alle zu gewährleisten.

Im Vinzenztreff finden arme Menschen einen geschützten Raum, einen Kaffee und eine warme Mahlzeit und ein offenes Ort, und viele ehrenamtliche Menschen engagieren sich, um das zu ermöglichen.

Das ist gut und wichtig, und gleichzeitig ist es wichtig, dass wir uns auf der gesellschaftlichen Ebene dafür stark machen, dass wohnungslose Menschen mit eigenen und bezahlbaren Wohnungen zu versorgen sind.

Das Menschenrecht auf Wohung ist unteilbar.

Das Menschenrecht auf Wohnung gilt für jeden einzelnen Menschen, unabhängig von seiner Herkunft und seiner Lebensgeschichte und erst recht auch für jeden einzelnen Wohnungslosen.

Ich lade sie ein, mit mir nach der Andacht kurz durch die Ausstellung zu gehen.

 

Dr. Stefan Schneider, Berlin

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