https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/ae/Bundesarchiv_Bild_146-1971-109-42%2C_Inflation%2C_Schlange_vor_Lebensmittelgesch%C3%A4ft%2C_Berlin.jpg[Rezension] Kathrin Hartmann: Wir müssen leider draussen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft. Karl Blessing Verlag, München 2012. 416 Seiten, 18,95 €. ISBN 978-3–89667-457-9

[Hindergrund] Ende März 2012 war ich in Esslingen Teilnehmer des 2. Tafel-Symposions und referierte dort unter dem Titel Wir arbeiten nach dem Prinzip der Tafel über Probleme, Grenzen und Chancen von sozialen (Selbsthilfe-)Treffpunkten mit Essensversorgung am Beispiel vom Kaffee Bankrott, Prenzlauer Berg, Berlin. Dieser Vortrag hatte drei Teile: Zum einen rekonstruierte ich anhand der Geschichte des Kaffee Bankrott und seiner Wirkung die Bedeutung der Organisation einer Essensversorgung in sozialen Armutskontexten. Im zweiten Teil skizzierte ich anhand zahlreicher aktueller und historischer Beispiele eine erste vorläufige Landkarte der sozialpolitischen Bedeutung der Verfügung über eine Lebensmittelversorgung, und schließlich drittens dechiffrierte ich anhand des Gedichtes Pidder Lüng von Detlev von Liliencron (1844–1909/ Vertonung Achim Reichel) eine komplett andere Option des politischen Umgangs mit Essen. Die Verfügung über größere Lebensmittelmengen (und deren Verarbeitung) bietet die Chance zu einer relativen Autonomie und dem Zwang, sich Herrschaftsstrukturen unterwerfen zu müssen. Mein Vortrag blieb weitgehend unverstanden, aber auch die Tagung hinterließ bei mir eine große Skepsis gegenüber der Tafelkritik.

Um was genau geht es den Tafelkritikern eigentlich? Gut, arme Menschen sollen derart mit finanziellen Mitteln ausgestattet werden, dass sie nicht mehr auf die Tafeln angewiesen sind. Die Tafel sind weitgehend unpolitisch, sie fügen der gegebenen Armut beispielsweise durch entwürdigendes Schlangestehen noch eine weitere Beschämung hinzu, dazu tritt die Rechtlosigkeit der Nutzer und die Abhängigkeit gegenüber den Wohltaten und den Wohltätern anstelle von rechtlich durchsetzbaren Ansprüchen. Aber würden die Tafeln sich in Nichts auflösen, wenn die Sozialleistungen um den Betrag x oder y erhöht werden würden? Wie die französische Filmemacherin Agnès Varda in ihrem 2000 veröffentlichtem Dokumentarfilm Die Sammler und die Sammlerin (Les glaneurs et la glaneuse) anschaulich belegt[1], ist das Sammeln von Resten, von Hinterlassenschaften anderer eine alte Tradition, eine Begleiterscheinung der landwirtschaftlichen Produktion. Bei den Kartoffelernten, beim Fischfang, bei der Weinlese, auf Märkten, im Wald – immer gab es eine Armutsbevölkerung, die sich an die Resten dessen bedienten, die andere zurückgelassen haben – aus unterschiedlichen Gründen, wie der Film von Agnès Varda überzeugend darlegt. Wie ist es also mit den Resten, der Nutzung dieser Reste und der Herstellung von Überfluß? Ist es überhaupt Überfluß, was da verwertet wird oder gehören ausgesonderte Lebensmittel genauso zum Essen wie Späne zum Hobeln?

Etwa zeitgleich zu dieser Tagung erschien nun im Blessing-Verlag dieses Buch von Kathrin Hartmann und es war klar, dass die Tafeln und das Drumherum eine zentrale Rolle in dieser Publikation spielen würde. Trotzdem erwartete ich nicht sehr viel von diesem Buch, ein paar Einblicke in die soziale Wirklichkeit der Tafelnutzer, einige Recherchen zu den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und abschließend noch etwas wohldosierte Kritik. Am Ende der Lektüre war ich dann aber doch postiv überrascht:

[Autor_in] Die Autorin Kathrin Hartmannaus Ulm, Jahrgang 1972, studiert in Frankfurt am Main Kunstgeschichte, Philosophie und Skandinavistik. Nach einem Volontariat bei der Frankfurter Rundschau ist sie dort Redakteurin im Ressort Nachrichten und Politik. Von 2006 bis 2009 arbeitet sie als Redakteurin bei Neon. Kathrin Hartmann lebt in München und arbeitet als freie Autorin für Frankfurter Rundschau, taz, Titanic, Neon, Nido und Enorm. 2009 veröffentlicht sie ihr erstes Buch Ende der Märchenstunde – Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt. Ausserdem betreibt den Blog ende-der-maerchenstunde.de und ist Vorstandsmitglied im Berufsverband Freischreiber.

[Thema] Dieses Buch erscheint kurz vor einem Jubiläum. Im Frühjahr des Jahres 2013 feiern die Tafeln in Deutschland ihr 20jähriges Bestehen. Für die einen ist das ein Grund zur Freude, eine Erfolgsgeschichte konkreter guter Taten für Arme und Bedürftige, für andere wie dem Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln Grund zu Kritik und Protesten. Gerade die Tafeln repräsentieren expemplarisch das Thema des Buches. Sie sind nicht überflüssig geworden, sondern haben sich im Gegenteil flächendeckend etabliert. Und die Menschen, die zur Tafel gehen, um dort kostenlos oder gegen einen kleinen Geldbetrag Lebensmittel abzuholen, sind gleich mehrfach schikaniert: Nicht nur, dass ihnen offensichtlich das Geld fehlt, um in Geschäften genau das zu kaufen, was sie gerne verzehren müssen, sie müssen zweitens ihre Notlage in der Regel auch öffentlich zur Schau stellen, in dem sie sich vor den Ausgabestellen öffentlich für sichtbar anzustellen haben, was gerade in kleineren Ortschaften, in denen jede_r jede_n kennt, ausgesprochen beschämend ist. Drittens haben die Tafelbenutzer kaum eine Wahl, sie müssen mit dem eingeschränkten Angebot, das gerade (zufällig) vorhanden ist, vorlieb nehmen. Und es gibt, im Unterschied zu Behörden und Geschäften, kein Anspruch auf Reklamation oder Mitbestimmung: Ganz im Gegenteil, in der Regel wird devote und kritiklose Dankbarkeit erwartet. Die Tafeln sind also nichts schönes, sondern etwas schlimmes, ein echter Skandal innerhalb Deutschland, einer Region, die zu den reichsten und wohlhabendsten der Welt zählt. Und doch ist das Buch kein (kritisches) Tafel- oder Hartz IV-Buch, sondern eine komplexe Sozialreportage mit dem Anspruch, die verschiedenen Ebenen und Zusammenhänge der Herstellung, Sicherung und Durchsetzung dieser Armut herauszuarbeiten. Und das ist ein anspruchsvolles Unterfangen.

[Aufbau] Das Buch hat einen Umfang von 416 Seiten. Es ist gegliedert in 9 Kapitel. Hinzu kommen eine Danksagung zweiseitige Danksagung, daran anschließend insgesamt 531 Anmerkungen auf 30 Seiten und zum Schluß ein vier Seiten langes Personenregister. Es gibt keine Abbildungen und kein bedauerlicherweise auch kein Literaturverzeichnis. Die Literaturangaben bzw. die URLs zu den einzelnden Webseiten bzw. digitalen Dokumenten müssen den Anmerkungen entnommen werden.

[Inhalt] Das Buch ist eine umfangreiche Sozialreportage, die – ausgehend vom Gegenstand Armut in der Konsumgesellschaft - unterschiedliche Aspekt, Dimensionen und vor allem Kontexte der Fragestellung bearbeitet: Im Kapitel 1 Kultivierter Hass wird einführend dargestellt, warum die Konsumgesellschaft ihren Bestand durch Ausgrenzung sichert und die Mittelschicht sich nach oben orientiert, während die nach unten tritt. Das Kapitel 2 "... Dann sollen sie doch Kuchen essen!" beschreibt den Überschluss der Überflüssigen: Wie die Tafeln arbeiten und was sie bewirken. Wie in den Städten Arme durch Wohlhabende verdrängt werden und warum die Politik dies befördert wird in Kapitel 3 Von der Gentrifizierung zur Gated Community dargestellt. Dabei ist die jüngere und jüngste Entwicklung im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg der hauptsächliche Bezugspunkt der Argumentation. Warum sich die Reichen aus der Gellschaft verabschiedet haben und wie sie um ihren Vorteil kämpfen wird in Kapitel 4 Die Macht der Eliten erörtert. Im Kapitel 5 Endlich sagt's mal einer! wird erklärt, wie das Feuilleton die Rechte der Etablierten verteidigt. Gegenstand von Kapitel 6 Das Ende der Solidarität ist, wie die Politik zugunsten der Wirtschaft Arbeit zerstört und Menschen in prekäre Verhältnisse zwingt. Social Business oder Profite mit dem Ärmsten sind Gegenstand von Kapitel 7 mit dem Titel Die Privatisierung der Weltrettung. Das Kapitel 8 Mikrokredite: Wahnsinn mit Methode ist eine umfangreiche Sozialreportage aus Bangladesch über die Wirkungsweise und die Effekte des – mitlerweite weltweit etablierten – Mikrokreditsystems. Im abschließenden Kapitel 9. Her mit dem schönen Leben! argumentiert die Autorin, warum nur wir als Gesellschaft für gerechten Wohnstand kämpfen können.

[Diskussion] Ich habe meine Vorurteile gegenüber Büchern, die als Sozialreportagen daherkommen. Zu oft hatte ich es in meiner Zeit als geschäftsführender Vorsitzender eines Selbsthilfevereins obdachlose und armer Menschen mit Journalist_innen, die ein bestimmtes Klischee im Kopf hatten und nur noch auf der Suche nach entsprechendem Menschenmaterial für ihre Story waren. Diese Geschichten von den abgerutschten, aus der Bahn geworfenen Menschen, denen in sozialen Einrichtungen mit Suppchen und Söckchen wenigstens für ein paar Stunden etwas Gutes getan wird. Es gibt ganze Bücher, die nach diesem Muster gestickt sind, viel erzählen und doch keine Erkenntnisse bringen. Anders gesagt: Sozialreportagen geben häufig eine Authentizität vor, die gar nicht existiert. Der Fokus auf die scheinbare konkrete Wirklichkeit verstellt oder verzerrt den Blick für eine tiefgreifende kritische Analyse. Eine Menge Fakten wurden zusammengetragen, die eine böse Realität bezeugen, ohne dass ein Erkenntnisgewinn erzeugt wird. Mit diesen Vorurteilen im Kopf bekann ich die Lektüre der vorliegenden Buches.

Ich kann vorwegnehmen: Das Buch hat mich positiv überrascht. Der Autorin geht es nicht um Klischees und Stereotypen, sondern sie arbeitet sich auf empirischer Ebene durch komplexe gesellschaftliche Aspekte der Armutsproduktion und deckt Zusammenhänge auf, die selbst für mich - und ich glaube wirklich, dass ich einiges über Armut und Armutsproduktion weiss - neu und interessant sind.

Der Gedanke, Lebensmittel nicht wegzuwerfen, sondern zu sammeln und zu verteilen, war und ist aus meiner Sicht immer sehr sinnvoll. Vor allem der soziale Aspekt interessierte mich: Wer Lebensmittel hat und weiter geben kann, hat eine Basis für Aktionen: Menschen kommen zusammen, können zusammen kochen und essen, gemeinsam über Aktionen nachdenken. Es gibt in der Tat einige Treffpunkte, die diese Idee aufgreifen und für die die Verfügung über Lebensmittel ein wichtiger Baustein des Aktionskonzepts ist. Volxküchen wären hier zu nennen oder Umsonstläden, alternative Stadtteilläden und Projekte für Migranten oder Wohnungslose. Bei den meisten Tafeln ist dies aber nicht der Fall. Sie inszenieren eine private Wohltätigkeit, biedern sich den Supermarktkonzernen als vermeitlich unverzichtbare Spender an und wollen von der Politik für ihren selbstlosen Einsatz für das Gemeinwohl auch noch gelobt werden. Hartmann deckt diese Strukturen auf und macht darüber hinaus auch deutlich, dass diese Form der Lebensmittelproduktion 

 

Wie das genau geschehen soll, bleibt offen, empfohlen jedoch wird, gemeinsam Widerstand zu leisten gegen Strukturen und Mechanismen, die weiterhin Armut produzieren und verschärfen.

[Fazit] 

Berlin, 16.12.2013

Stefan Schneider

[Abbildung] Berlin.- Schönhauser Allee, Menschenschlange vor einem Backwarenladen (Brot&Brot) 1984, Quelle und weitere Details: WikiCommons: 
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-2007-0112,_Berlin,_Warteschlange_vor_Backwarenladen.jpg

[Anmerkungen] 

[1] Zwei Jahre später im Jahr 2002 sucht Agnès Varda erneut die Orte und Personen ihres Films auf und erkundigt sich, was in der Zwischenzeit passiert ist: Die Sammler und die Sammlerin… zwei Jahre später (Les glaneurs et la glaneuse… deux ans après). Beide Filme sind für wissenschaftliche Zwecke beim Autor dieses Artikels in digitaler Form erhältlich. Anfragen bitte per Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein..

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