Wer ein Besetzerprojekt besuchen möchte, erwartet eigentlich ein großes, etwas heruntergekommenes Haus. So auch ich. Stattdessen sieht die Gegend links von der ulica Kazimierza Pułaskiego 21a in 60-607 Poznan, Polen eher aus wie eine Kleingartenkolonie. Es ist auch eine Kleingartenkolonie. Und wäre nicht gerade einer, der eher nicht wie ein typischer Kleingärtner aussah, in jenen unscheinbaren unbefestigten Weg eingebogen, wir hätten das Rozbrat Projekt im ersten Anlauf glatt überlaufen.
Nach vielleicht 60 Metern erreichen wir ein bunt bemaltes Tor, das verschlossen ist. Unser Begleiter hat uns inzwischen aufgeklärt, dass wir hier richtig sind. Er hat auch einen Schlüssel. Vor uns öffnet sich ein unübersichtliches Gelände, bestehend aus flachen, kleinen oder größeren Baracken und ausladenden Bäumen, die die Übersichtlichkeit noch weiter verstärken. Gleich um die Ecke sehen wir durch ein vergittertes Fenster einen Menschen vor einem Computer, der angeregt zu jemandem spricht, der nicht zu sehen ist. Ich melde mich.
Offenbar werde ich erwartet, knapp begrüßt und durch eine große, offen- und leerstehende Baracke hindurch in einen anderen Winkel des Geländes geführt. In einer kleinen Baracke stehe ich plötzlich in einer Küche, in der mehrere junge Menschen ein vegetarisches Essen vorbereiten. Wir sollen uns setzen. Nach einiger Zeit kommen P und L. P setzt uns einen Tee auf, und L. schlägt vor, dass wir uns draußen in Ruhe unterhalten könnten. Wir müssen nur die Stühle mitnehmen.
Rozbrat ist eigentlich der Name einer Straße in Warszawa, etwa 275 km östlich von Poznan. Der Name ist entstanden, weil zum Zeitpunkt der Besetzung des Geländes plötzlich dieses Schild aufgetaucht ist. Das war 1994. Seitdem besteht dieses Projekt. Direkte Kontakte zu wohnungslosen Menschen gibt es eigentlich kaum. Das von mir erwähnte Projekt Barka wird als etabliert empfunden, was ich zunächst erstmal nicht verstehen kann, weil ich von der herzlichen und familiären Atmosphäre bei meinem Besuch im Jahr 2005 durchaus sehr beeindruckt war. Hierarchische Strukturen gäbe es aber sehr wohl, diese würden aber nicht offen gelegt. Der Vater einer Rozbrat-Bewohnerin hätte dort ein paar Jahre lang gearbeitet und inzwischen das Projekt aber deillusioniert verlassen.
In Rozbrat leben fest 19 Menschen. Der eigentliche Personenkreis von Rozbrat ist aber viel größer, es gäbe genug Leute, die ausserhalb lebten und zum Arbeiten, für Projekte oder kulturelle Veranstaltungen oder Treffen ins Rozbrat kommen. Zu manchen Geburtstagen oder wenn bekanntere Bands spielten, würden mehrere hundert Leuten kommen. Für das Bandprogramm am heutigen Juni-Samstag-Abend im Jahr 2010 würde insgesamt mit 100 Leuten gerechnet. Die 19 ständigen Bewohner_innen leben kollektiv. Sie teilen sich eine Gemeinschaftsküche, aber sonst hätte jede_r bzw. die Paare ihre einzelnen Zimmer, ihren Privatbereich.
Kontakte der Gruppe zu Wohnungslosen gibt es eher auf strategisch – systematischer Ebene. Seit Jahren wird einmal im Monat immer an einem Sonntag von der Gruppe Food Not Bombs ausserhalb eine Volksküche organisiert, zu der auch immer um die 50 Menschen kommen. Das sind Leute, die wirklich auf der Straße lebten. Vergangenen Winter haben sich zwei Leute in der unmittelbaren Nachbarschaft auf dem Gelände eine Unterkunft bebaut – mit primitivsten Mitteln. P. hat dem offenbar psychisch kranken, obdachlosen Pärchen in der schlimmsten Zeit ermöglicht, warmes Wasser vom Gelände zu holen und auch die Toilette mit zu benutzen. Aber grundsätzlich sind die Kulturen dieses anarchistischen, selbstorganisierten Kollektivs einerseits und der Menschen auf der Straße sehr unterschiedlich.
Die von Rozbrat besetzten Baracken waren ursprünglich mal als Lagerort für ein Kaufhaus angelegt worden. Das wird später während der schnellen Führung durch das Gelände deutlich. Der Boden auf dem Gelände ist zu sehr kontaminiert, als dass ein Anbau von Obst und Gemüse ernsthaft in Betracht gezogen werden würde. Die Verpflegung erfolgt zu einem großen Teil nach dem Prinzip der Tafelbewegung. Das, was Supermärkte und Lebensmittelläden nicht mehr gebrauchen und aussondern, wird auf Verwertbarkeit hin überprüft und dann mitgenommen und für alle frei verfügbar ausgestellt.
Das Gelände selbst gehört zu Teilen der Stadt, aber auch einem privaten Investor, der es als Spekulationsobjekt nutzen und gewinnbringend verkaufen wollte. Aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten des Investors liegt die Verwertungsmöglichkeit nun bei der Bank, die tatsächlich vor kurzem den Versuch unternommen hatte, dieses Objekt am Immobilienmarkt zu verkaufen. Der Vermeidungsstrategie des Rozbrat-Kollektivs bestand im Kern darin, durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit potentielle Investoren vom Kauf des Geländes abzuschrecken. Das klingt geübt, keineswegs aufgeregt. Für wenigstens ein Jahr ist erstmal Ruhe.
Doch wird der Gentrifizierungsdruck keineswegs bestritten. Das Gelände ist innerstädtisch, zentrumsnah. Vom Poznaner Hauptbahnhof sind wir keine halbe Stunde lang gelaufen, von Stary Rynek, dem Zentrum der Stadt sind es ebenfalls keine zwanzig Minuten zu Fuß. Rozbrat sei inzwischen durch die ständige Benutzung dieses Namens als neue Straße in einigen Karten eingetragen. P. und L. lästern: Wenn hier eines Tages eine Wohnsiedlung mit Shopping-Mall entstanden sein wird, wird der Name Rozbrat bleiben. Vielleicht. Aber auch ein anderer sozialer Druck besteht in diesem Viertel. Viele in der Kleingartensiedlung hätten nichts anderes mehr als ihre (ausgebauten) Lauben. Weitere 1.700 Personen in Poznan haben einen Anspruch auf eine Sozialwohnung. Es gibt nur ein Problem. Es gibt diesen Rechtsanspruch, aber die Wohnungen gibt es nicht. Es gibt auch kein Geld dafür. Irgendwo in der Stadt sollen demnächst 5 Container aufgestellt werden. Wohnraum für 50 Personen. Offiziell für Wohnungslose, die auf der Straße leben. Für Menschen ohne Hoffnung, ohne Träume. Die buchstäblich auf der Straße am Sterben sind und ihren Schmerz mit Alkohol betäuben. Aber vielleicht sollen demnächst auch Familien mit Kindern dort untergebracht werden, die sogenannten Wohnungsnotfälle, die einen Anspruch auf eine Wohnung haben. Wer weiss das schon.
Inzwischen hat es zu regnen angefangen. Der Baum, unter dem wir sitzen, fängt die Tropfen weitgehend ab. Ein Hund kommt und reibt zur Begrüßung seine Schnauze an meinem Knie. In zweiter Hund taucht auf, schwanzwedelnd aber ruhig. Beide Hunde trollen sich ins Grüne. Der Tee ist ausgetrunken, es wird langsam kalt und ungemütlich. Meiner Begleiterin A. fällt ein, dass in einer Stunde ihr Zug geht. Wir habe noch eine halbe Stunde (hätten wir gewusst, das der Zug dann tatsächlich beinahe drei Stunden Verspätung haben wird, hätten wir manche Diskussion noch weiter geführt und sogar noch etwas vom Konzert mit erlebt.)
L. muss wieder an die Arbeit. P. gibt uns eine kurze Führung durch das Gelände. Überhaupt machen alle hier einen sehr sachlichen Eindruck und wirken unangestrengt beschäftigt. Ein Projekt für Gammler und Abhänger ist Rozbrat sicher nicht, und wenn, dann haben wir die gerade nicht gesehen. Direkt neben der Wohnbaracke ist eine kleinere, die als Siebdruck- und Plakatwerkstatt dient. P. selbst wohnt nicht in der Wohnbaracke, sondern etwas versteckt in den Bäumen in einem Bauwagen.
Zwischen dem Grün sind auf dem zweiten Blick intakte Zäune zu entdecken, die das Gelände eingrenzen. Etwas versteckt gestapeltes Brennholz. Hier und da entdecken wir auch in den Baracken einfache Öfen. Zu Wohnzwecken wurden die Baracken nicht gebaut, und Programme zum ökologischen Aus- und Umbau von Baracken für alternative Projekte gibt es in Polen schlichtweg nicht. Vielleicht ist das auch gut so, mutmaßt L., denn der mit dem Geld verbundene Druck zu Kompromissen, Zugeständnissen wäre enorm. Nicht zuletzt, so resümieren wir, hat durch die Instandsetzungsförderung die Hausbesetzerszene in Deutschland zwar etliche Vorhaben umsetzen können. Insgesamt hätte die Bewegung damit aber ihren politischen Schwung verloren. Eine Formulierung, die wir in aller Vorläufigkeit so stehen lassen, wissend, dass sie unvollkommen, holzschnittartig ist. Eine reine Lehre gibt es nicht, kann es nirgendwo geben. Die anarchistische Bibliothek ist beeindruckend und für autonome Verhältnisse akkurat sortiert. Sie ist grob gegliedert in ein Archiv mit Präsenzbibliothek, die dem Studium der Bücher und Unterlagen dient, und einem Raum, der eher an einen Buchladen erinnert und auch diese Funktion hat. Einen Versammlungsraum für die Treffen der Anarchistischen Gruppen gibt es noch, und einen kleinen Veranstaltungsraum, in dem die Band, die heute abend auftreten wird, ihren soundcheck macht.
Etwas weiter hinten eine Art Hof, mit Sitzgelegenheiten zum Chillen und einer weißen Leinwand für public screens. Offensichtlich das Wohnzimmer für gemeinsame Sommersonnenabende. Zwei Autos sehen wir noch, das üblich Gerümpel, Baumaterial, eine Galerieecke, viele, eigentlich sehr viele Grafittis. Eine Wand mit Veranstaltungshinweisen. Das Tor ist nicht ausgrenzend gemeint, und auch nicht kontrollierend. Es gäbe aber einige Leute, die wären nicht erwünscht, Nazis zum Beispiel. Polnische Nazis. Zwei von deren Aufklebern hatte ich heute Vormittag in der Poznaner Innenstadt entfernt. Trotzdem sei aber jeder, der kommen will, auch willkommen, die einen Pennplatz gäbe es im Zweifelsfall auch.
Rozbrat sei ja schließlich auch nicht irgendein Ort, sondern als anarchistisches Zentrum in Polen in den einschlägigen Kreisen wohl bekannt, aber auch in über die Grenzen Polens hinaus in Europa. Kontakte zu wichtigen anderen squats in Europa und anderen anarchistischen Gruppen bestehen und werden gepflegt.
Viele Fragen bleiben offen. Aber ein Eindruck bleibt, ein Gefühl von großer Gelassenheit, großer Selbstverständlichkeit, aber auch von dem ernsthaften Bemühen und der ehrlichen Arbeit an einer Welt, die anders sein kann als dass, was wir gemeinhin kennen.
Stefan 14.06.2010