3. Obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene
3.1. Das Problem in der öffentlichen Wahrnehmung
"... Ich bin heute früh durch die Stadt gegangen und habe, ohne mich danach besonders umzusehen, etwa ein Dutzend von diesen Jugendlichen gesehen, und zwar die typischen Formen: solche, die noch mit Spazierstock, Rucksack und einem ordentlichen Anzug versehen, durchaus den Eindruck machten, daß sie aus ordentlichen Verhältnissen stammen und unter ganz normalen Umständen auf der Wanderschaft sind; andere hingegen, die bereits die Uniform eines Großstadtbummlers tragen, jene schmutzige Kleidung ohne Kragen und dergleichen, die schon bei weitem den Eindruck erwecken, daß sie im höchsten Grade hilfs- und schutzbedürftig sind; schließlich der dritte Typ: jene verwegenen Gesellen, die eigentlich schon richtige Landstreicher sind" (POLLIGKEIT 1914, veröffentlicht in KIEBEL 1989, 4).
Abgesehen von der Frage, ob diese stigmatisierende Differenzierung sachlich zutreffend ist, verdeutlicht doch dieses Zitat aus dem Jahr 1914, daß das Phänomen jugendlicher "Vagabondage" keineswegs ein neues ist (vgl. dazu ausführlich SIMON 1995).
Das hiermit angesprochene Phänomen wurde bislang unter verschiedensten Begriffen diskutiert: Bahnhofskinder, TrebegängerInnen, AusreißerInnen, Kinder der Straße, minderjährige Obdachlose, obdachlose junge Menschen usw. und eben auch "Straßenkinder". Bisher waren mit dem Begriff "Straßenkinder" vorwiegend "die armen Kinder" in der sog. "Dritten Welt", insbesondere in den lateinamerikanischen, aber auch asiatischen Ländern gemeint, dann kamen in den letzten Jahren zunehmend Nachrichten aus osteuropäischen Ländern, insbesondere aus St. Petersburg. Seit einigen Jahren wird der Begriff auch im Zusammenhang mit der bundesrepublikanischen Diskussion verwendet, vorwiegend als Medienereignis, wie Kritiker meinen, vorwiegend in Reportagen oder auch populär geschriebenen Sachbüchern (etwa: BRITTEN 1995, EICHHORN 1992, SEIDEL 1994, ZGLINICKI 1995). Dennoch ist unbestritten, daß das mit diesem Begriff beschriebene Phänomen tatsächlich existiert und in seinem Umfang zunimmt:
3.2. Definitionen "Straßenkinder", obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene
"Straßenkinder" sind nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen "Minderjährige..., also Kinder und Jugendliche, für die die Straße im weitesten Wortsinn zum zentralen Aufenthalts- und Überlebensort wurde und die keinen entsprechenden Schutz genießen. Der Begriff 'Straße' schließt hierbei verlassene oder heruntergekommene Gebäude bzw. Wohnungen mit ein." (SPECHT 1989, 405)
"Straßenkinder" sind, das belegen die wenigen vorliegenden Forschungsergebnisse, "fast nie Kinder, sondern Jugendliche und junge Erwachsene. Zwar wurde von manchen ExpertInnen konstatiert, daß diese Jugendlichen im Schnitt jünger werden, Kinder unter 14 sind aber (bisher) nur die Ausnahme. Dagegen werden die - von der Öffentlichkeit und Jugendhilfe wenig beachteten - jungen Erwachsenen als große Problemgruppe benannt." (JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995, 8). Dennoch muß gesehen werden, daß sich potentielle Straßenbiografien schon in einem viel früheren Alter abzeichnen: "Das gilt nicht nur für Kinder mit Jugendhilfekarrieren, sondern auch für Kinder in benachteiligten Stadtteilen in ost- und westdeutschen Städten, für die 'die Straße' oft schon ab sechs/acht Jahren zum Lebensmittelpunkt wird." (JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995, 8).
Entsprechend der Definition bzw. Einschätzung verwenden wir im folgenden den Begriff obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene und meinen damit Jugendliche (sofern sie noch in den rechtlichen Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG - fallen, also bis zu einem Alter von 21 Jahren), für die die Straße vorübergehend oder dauerhaft - im Sinne der Definition von SPECHT - zum Lebensmittelpunkt geworden ist.
3.3. Umfang/Statistische Angaben
Grundsätzlich ist festzuhalten, daß zum Problem obdachloser Jugendlicher/junger Erwachsener bzw. Straßenkinder für die Bundesrepublik Deutschland keine gesichteten Datenerhebungen vorliegen und in absehbarer Zeit auch nicht vorgesehen sind. Verschiedenste Schätzungen sprechen von bis zu 50.000 obdachlosen Jugendlichen bzw. Straßenkindern in der Bundesrepublik, davon bis zu 3.000 allein in Berlin (vgl JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995, DEGEN 1995). Legt man die Statistik des Senats von 1995 zugrunde, muß davon ausgegangen werden, daß der Anteil von Wohnungslosen in Prenzlauer Berg im innerstädtischen Vergleich überhaupt relativ hoch ist. So liegt Prenzlauer Berg mit 401 registrierten Wohnungslosen im 1. Quartal 1995 an der Spitze der Ostbezirke noch vor Mitte oder Friedrichshain. Außerdem ist weiterhin, folgt man den Zahlen des Abgeordnetenhauses, von einem vergleichsweise hohen Anteil junger Wohnungsloser (bis 27 Jahre) unter den registrierten Wohnungslosen auszugehen (vgl. ABGEORDNETENHAUS 1995). Dieser hohe Anteil jugendlicher/junger Wohnungsloser mag auch in der Dunkelziffer der nicht statistisch erfaßten Wohnungslosen seine Fortsetzung finden. Allgemein wird sowohl bundesweit als auch bezogen auf Berlin eine Zunahme des Anteils der Jugendlichen (bis 27 Jahre) konstatiert.
Die von der Jugendberatungsstelle Prenzlauer Berg herausgegebene Statistik belegt ebenfalls eine quantitative Zunahme des Beratungsbedarfs von obdachlosen Jugendlichen/jungen Erwachsenen bzw. von "Straßenkindern". So stieg die Zahl der Hilfesuchenden aus diesem Umfeld von 32 Personen im Dezember 1993 auf 64 im November 1995 (Bestandsaufnahme und konzeptionelle Neuorientierung der Jugendberatung im Prenzlauer Berg, Nov. 95, JUB). In Analogie zu den Aussagen des Abgeordnetenhauses kann auch hier eine nicht unerhebliche Dunkelziffer angenommen werden, so daß der reale Umfang sicherlich weitaus höher, vielleicht doppelt so hoch oder höher, einzuschätzen ist. Hinzu kommt, daß der Bezirk Prenzlauer Berg aus verschiedenen Gründen (historische Entwicklung vor und nach der Wende, zentrale Lage, Infrastruktur, Milieu und Mythos; vgl. dazu auch die folgenden Abschnitte) von vornherein ein hohe Attraktivität für Jugendliche besitzt und auch in Zukunft haben wird. Vor allem dies ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für den weiterhin bestehenden und ggf. auch noch zunehmenden Umfang an obdachlosen Jugendlichen/jungen Erwachsenen.
Eine hinreichend qualifizierte Schätzung des Umfangs obdachloser Jugendlicher/junger Erwachsener in Prenzlauer Berg auf Grundlage aller Vergleichsdaten (Bezirke, Land Berlin, Bundesrepublik), die herangezogen werden können, unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Bezirks, seiner sozialen Infrastruktur sowie auf Basis von Expertenaussagen und exemplarischen Befragungen der obdachlosen Jugendlichen selbst kann jedoch an dieser Stelle nicht geleistet werden.
3.4. Szenebetrachtungen
Peter JORGSCHIES, Hanna PERMIEN und Gabriela ZINK, Mitarbeiter des Forschungsprojekts "Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen", durchgeführt im Zeitraum von April 1994 bis April 1997 vom Deutschen Jugendinstitut in München und Leipzig (DJI) mit Förderung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) bilanzieren nach Ende der ersten Untersuchungsphase, in der ExpertInnen zu ihren Erfahrungen, Einschätzungen und Arbeitsweisen befragt wurden, ihr Zwischenergebnis wie folgt:
"... in Ostberlin sind vor allem die Stadtteil-Szenen in Altbaugebieten von Bedeutung, die sich schon in DDR-Zeiten in Vierteln mit leerstehenden Häusern etablierten, sich nach der Wende vergrößerten und sich nun durch inzwischen geklärte Besitzansprüche und/oder Sanierungspläne bedroht sehen. Handlungsbedarf besteht hier also vor allem deshalb, weil diese gesellschaftlichen Nischen nun wegsaniert werden sollen. Der Jugendhilfe fällt häufig die Aufgabe zu, diese Kinder und Jugendlichen, die sich zum Teil als >>Alternative<< oder >>Autonome<< verstehen, nicht nur möglichst reibungslos umzusiedeln oder zu legalisieren, sondern sie auch zu (re-)integrieren, wobei sie dabei nicht selten auf den Widerstand derer stößt, die sich in diesen Nischen ganz gut eingerichtet haben und dort ihre Perspektiven sahen.
Es gibt aber auch Jugendliche in diesen Szenen, die nach der Flucht aus Heimen oder häufiger aus Familien orientierungs- und perspektivlos sind. Manche halten sich auch deshalb hier auf, weil sie nicht mehr bei ihren (Stief-)Eltern leben wollen, nicht in ein Heim möchten oder fürchten, die Eltern würden ihren Kostenanteil dafür nicht übernehmen. In diesen Szenen, die ganz überwiegend von »Kids« aus dem unmittelbaren Umfeld gebildet werden, sind härtere Drogen und Drogenhandel sowie Prostitution als Einkommensquelle (noch) nicht verbreitet." (JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995, 9)
"Von all diesen Stadtteil-Szenen berichten manche ExpertInnen, daß es dort neben Kämpfen durchaus auch so etwas wie Solidarität, Zugehörigkeit und Geborgenheit gäbe und diese Szenen zum Teil die Funktion von »Ersatzfamilien« hätten. Zum Teil wird dies jedoch als Mythos zurückgewiesen: Die ExpertInnen beobachten auch absolute Gleichgültigkeit und Konkurrenz von Jugendlichen untereinander sowie die Verlassenheit von einzelnen Jugendlichen.
Das Klima in den Hauptbahnhof- und City-Szenen westdeutscher Großstädte dagegen sahen alle mit diesen Szenen vertrauten ExpertInnen eindeutig durch Hierarchien, Konkurrenz, gegenseitige Ausbeutung und wachsende Brutalität und nicht etwa Solidarität der Jugendlichen geprägt. Die Zusammengehörigkeit, die manche Jugendlichen spüren, sei lediglich negativ durch das Wissen definiert, daß es den anderen »Kids« genauso schlecht geht und daß das Überleben leichter ist, wenn man sich - vorübergehend - in Gruppen zusammentut. Ansonsten gelte: »Jeder ist sich selbst der Nächste, das ist genauso wie unsere Gesellschaft: Nur mit Ellenbogen...«" (JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995, 9)
"Die Gefahr, daß sich hier Straßenkarrieren nicht nur durch ihre Dauer, sondern auch durch Drogengebrauch und -handel, durch (organisierte) Prostitution und Kriminalität sehr schnell und so stark verfestigt, daß Ausstiege aus diesen Szenen nur noch schwer möglich sind, wird für die City-Szenen allgemein als wesentlich größer eingeschätzt als für Stadtteilszenen." (JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995, 9f).
Weitere wichtige Hinweise zur Lebenslage und Situation obdachloser Jugendlicher/junger Erwachsener, die im wesentlichen die o.g. zusammenfassenden Darstellungen bestätigen, sind beispielsweise in den Arbeiten von BRITTEN 1995, DEGEN 1995, EICHHORN 1992, JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995a, SEIDEL 1994, ZGLINICKI 1995 dokumentiert.
3.5. Ursachen und Hintergründe
In der wissenschaftlichen Diskussion zu den Ursachen und Hintergründen des Problems sind bislang in der Regel nur sehr vorsichtige Aussagen zu konstatieren. Unterschiedliche Akzente werden benannt, allen Ansätzen gemeinsam ist, daß das Phänomen innerhalb eines problematischen gesellschaftlichen Kontextes gesehen wird: "Straßenkinder dieser Welt weisen auf gesellschaftliche Zustände hin, die nicht durch ein Abschieben (...) zu lösen sind." (GüTHOF 1995, 212). Für Georg Rückriem sind Kinder in erster Linie Symptomträger, die auf innergesellschaftliche Defizite verweisen: "An der Wirklichkeit der Kinder zeigt sich die 'Krankheit' einer Gesellschaft, also die Konflikte, Spannungen und Auseinandersetzungen, die durch Modernisierungsschübe in der Struktur der Gesellschaft, aber vor allem im Gefüge der Generationen verursacht werden und die die allgemeine Wirklichkeit einer Gesellschaft bestimmen, auch wenn die Erwachsenen dies nicht sehen oder wahrhaben wollen." (RüCKRIEM 1994, 10f). Am Umgang der Gesellschaft mit ihren Kindern und Jugendlichen könne man demzufolge ihre innere Verfassung ablesen: "An der Art und Weise, wie eine Gesellschaft ihre Symptomträger 'behandelt', d.h. an den pädagogischen Strategien von Erziehung und Bildung (...) zeigt sich ihre Generationenpolitik, mit anderen Worten, das politische Selbstverständnis und die politische Qualität einer Gesellschaft." (RüCKRIEM 1994, 10f).
Deutlich konkreter beschreibt Annette ROGALLA mit Blick auf die von Wilhelm HEITMEYER 1996 veröffentlichte Studie zur Gewalt von Jugendlichen Ursachen und Wirkungen: "Jugendliche reagieren auf die Verhältnisse, die sie umgeben." Ihre Lage ist sicher auch Resultat "einer fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaft, die alle Schichten umfaßt. Allenthalben wird das Individuelle als Sieg über vielfältige Zwänge und Klassenschranken gefeiert. So durchlässig wie heute waren die sozialen Schichten nie zuvor. Seinerzeit allerdings waren auch Biographien vorgefertigt. Heute sind Jugendliche viel häufiger selbst gezwungen, sich ihre Lebensläufe herzustellen und frühzeitig wegweisende Entscheidungen zu treffen. Eine Selbständigkeit, die enorm verunsichern kann. Auf diesem Nährboden können Aggressionen prächtig gedeihen. Kommen dann (...) kulturelle Entfremdung und sozialer Abstieg hinzu, verwundert es nicht, wenn Gewalt zum Mittel der Wahl wird." (ROGALLA 1996).
Deutlich stärker akzentuiert im Blick auf die noch verfügbaren Räume und Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche in dieser Gesellschaft äußern sich Autoren wie LANGHANKY: "Sie sind da - Kinder und Jugendliche, die im Abseits von familialer Intimität und öffentlicher Kontrolle Lebensentwürfe im 'Nirgendwo' zu realisieren suchen. Sie versuchen Orte abseits der Familienkonstruktion und abseits institutioneller Kontrolle zu finden. Es sind Orte, 'die leer von Macht sind', 'Nischen im System', in denen sie zu 'Spezialisten für Nebenräume (werden), die sich als Abseits nutzen lassen' (Brückner 1980, S. 24). Das Abseits, das einerseits Nische in einer reglementierten Gesellschaft ist, wird für sie jedoch dann zur Falle, wenn es nicht frei gewählt als Ausweg und eigenbestimmtes Feld sich erstellen läßt, sondern als einzig möglicher Weg, aber chancenlos in Hinblick auf Erfolg bzw. Erfüllung sich darstellt." (LANGHANKY 1995, 207). Gleichzeitig wird konstatiert, daß im Verlaufe der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte Räume für Kinder und Jugendliche in der Stadt verloren gegangen sind ("Das Kind und die Straße - von der Stadt zur Anti-Stadt", vgl. ARIèS 1994) bzw. zunehmend negativer bewertet werden:
"Die Tabuisierung von Stadt als Lebenswelt von Kindern, ihre Kennzeichnung als gefährlicher, erziehungsungeeigneter Ort ist also nicht neu, sondern tritt immer dann auf, wenn neue Modernisierungsschübe und damit einhergehende Veränderungen der sozialen Lage vieler Menschen in der Stadt deutlich sichtbar werden und das gewohnte Bild in Unordnung zu geraten droht." (LANGHANKY 1995, 208).
Dennoch muß der Stand der Forschung zu Ursachen und Hintergründen der Problematik obdachloser Jugendlicher/junger Erwachsener insgesamt als defizitär gekennzeichnet werden. Die empirischen Arbeiten sowie die theoretischen Ansätze zu Wohnungslosigkeit können nur bedingt herangezogen werden, da diese bislang kaum explizit auf diese Altersgruppe Bezug nehmen; internationale Forschungen sind bislang auch so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen worden. Weiterhin existieren einige deutschsprachige Studien älteren Datums, die dem thematischen Umfeld zuzuordnen sind (etwa JORDAN/TRAUERNICHT 1981, JOST/MONTADA 1983, KIEPER 1980, KLUGE 1977).
An systematisch-empirischen Material neueren Datums sind vor allem die Gutachten von Erwin Jordan und Gabriele Hardt (INSTITUT FüR SOZIALE ARBEIT 1994), die Studie von Martin DEGEN (1995) sowie das laufende Forschungsprojekt von JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995a zu nennen. Letztere kennzeichnen zutreffend das Forschungsdefizit: Zum einen fehlt "die Erarbeitung differenzierter Beschreibungen der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen auf der Straße, zum anderen die Analyse der Wechselwirkungen von Straßenkarrieren und Institutionen unter den Bedingungen veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Dazu gehören nicht nur so unterschiedliche Einflußfaktoren wie zum Beispiel die sozialen Folgen der Wiedervereinigung, die zunehmend sichtbar werdenden Grenzen sozialstaatlicher Unterstützung, die Eingriffe in das System sozialer Sicherung, der Wandel der Familie, die veränderte Rolle der Schule in bezug auf Arbeitsmarkt und individuelle Zukunftsplanung, sondern auch die nicht intendierten Nebenfolgen einer ausdifferenzierten Jugendhilfepraxis." (JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995a, 11).
Selbst die Hilfeangebote für obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene werden defizitär und als nicht angemessen eingeschätzt: "Staatliche wie private Interventionsprogramme für Straßenkinder in den unterschiedlichsten Ländern dieser Welt sind meist auf eine uneingeschränkte (und unkritische; die Verf.) Integration der Kinder in das vorherrschende Gesellschaftssystem ausgerichtet. Nur vereinzelt sind Projekte bekannt, die Kinder mit ihren Erfahrungen und Lernprozessen ernst nehmen, ihre Kompetenzen und Stärken aufgreifen und sie als Ausgangspunkt einer lebensweltorientierten Sozialarbeit nutzen, wie u.a. die Schule der Straße in Paraguay, die offene Sozialarbeit auf der Straße in Bolivien, oder die Wagenburg des Vereins Teufelsbrunnen in Köln." (GüTHOF 1995, 211). Auch hier besteht mit Sicherheit weiterer Forschungsbedarf, zumal die spezifischen Angebote weder für Berlin noch für die Bundesrepublik bislang weder systematisch erfaßt noch hinreichend untersucht worden sind.
Deutlich jedoch zeichnen sich Tendenzen ab, die einen interdisziplinären Ansatz für erforderlich halten: "In Deutschland gilt es vor allem, den Blick über den Tellerrand der Jugendhilfe zu richten und sich in Sozialpolitik, Wirtschaft, Wohnungsbau und Städteplanung einzumischen." (GüTHOF 1995, 212). Weitgehender Konsens besteht auch darin, daß das Ziel der Angebote darin gesehen wird, "eine Stabilisierung der Persönlichkeit der Jugendlichen (zu erreichen), damit sie zukünftig ihr Leben selbst bewältigen können." (JUGENDBERATUNG im Prenzlauer Berg 1995, 13). Exemplarisch sind Aussagen wie: "Die Jugendlichen sollen nicht im herkömmlichen Sinne 'erzogen' werden, sondern ein Stück begleitet, ihr tieferes Selbstverständnis angeregt und das Selbstbewußtsein im Sinne eigener Handlungskompetenz gestärkt werden. Die entwicklungsbegleitende Beratung und die praktischen Hilfen orientieren sich an der individuellen Lebenssituation der jungen Menschen. Unsere Beratung und Begleitung soll zur Förderung der Eigenverantwortlichkeit beitragen und ist als Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen." (JUGENDBERATUNG im Prenzlauer Berg 1995, 13). Wie diese Ziele jedoch praktisch realisiert werden können, dazu bestehen erst anfanghaft Erfahrungen, die bislang wissenschaftlich noch nicht hinreichend ausgewertet worden sind.
3.6. Situation obdachloser Jugendlicher/ junger Erwachsener in Berlin-Prenzlauer Berg
Deutlicher wird die besondere Situation obdachloser Jugendlicher/ junger Erwachsener in Prenzlauer Berg auf dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Bezirks und seiner gegenwärtigen sozialen, politischen sowie infrastrukturellen Verfasssung. Dies kann an dieser Stelle nur skizzenhaft angedeutet werden (vgl. dazu auch HAEDER/WüST 1994, PRENZLAUER BERG 1996 sowie die weitere umfangreiche Literatur über den Bezirk):
Prenzlauer Berg gehört seit der Verwaltungsreform 1920 als Bezirk zur Stadt Berlin und ist mit 10,9 qkm - davon 7,44 qkm reiner Wohnfläche - heute einer der am dichtesten besiedelten Innenstadtbezirke Berlins.
Der Leiter des Kulturamts Prenzlauer Berg charakterisiert den Bezirk im Vergleich zu Kreuzberg: Beide Bezirke entstanden "in den Gründerjahren nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als Stadterweiterungen außerhalb der mittelalterlichen Stadt, sind Teil des 'Steinernen Berlin', das stadtauswärts durch den S-Bahnring begrenzt wird und an die 1920 durch die Bildung Groß-Berlins aus Dörfern hervorgegangenen Außenbezirke stößt. Sie repräsentieren exemplarisch die 'Berliner Mischung' von Wohnen und Arbeiten in der Innenstadt, die aus dem engen Zusammenleben von LohnarbeiterInnen, Angestellten und Gewerbetreibenden entstanden waren. Und trotz der unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 rückten Kreuzberg und Prenzlauer Berg in eine vergleichsweise randständige Lage. (...) Aufgrund ihrer städtebaulichen und sozial-räumlichen Voraussetzungen haben sich beide Bezirke als für den sozialen und kulturellen Wandel besonders offen erwiesen. Hier konnten und können (noch) trotz partieller Raumnutzungskonkurrenz und sozial-kultureller Distanz durchaus verschiedene soziale Gruppen, teilweise in symbiotischer Beziehung zueinander, leben." (FLIERL 1996, 13).
Der neue Mythos vom Prenzlauer Berg hat seinen Ursprung noch in den letzten Jahren vor der Wende 1989: der Mythos der Verweigerung, der Opposition und der Ost-Berliner Alternativkultur. Junge Leute, die hier Wohnraum gefunden hatten, wurden mit ihren kritischen und kreativen Aktivitäten und Ideen über den Bezirk, ja weit über die Stadt hinaus bekannt. Manches konnte von diesem Lebensgefühl in die Gegenwart hinübergerettet werden und fand dort, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, seine Fortsetzung.
Mit Blick auf ihre Erfahrungen seit 1991 kennzeichnet die JUGENDBERATUNG im Prenzlauer Berg den Bezirk als "Spiegelbild der 'autonomen' Szene", der noch "vor dem Bezirk Kreuzberg für den 'autonomen und sozialen Tourismus' von Jugendlichen" steht. "Die Besetzung von Häusern in Prenzlauer Berg durch die autonome Szene begann 1989 und war für die Jugendlichen wesentlich attraktiver als irgendwo sonst in Berlin. Die historisch gewachsenen Subkulturen des Bezirkes wirken faszinierend und anregend auf die Zugereisten." (JUGENDBERATUNG im Prenzlauer Berg 1995, 5). "Für das sozial-kulturelle Klima im Bezirk sind einerseits viele hier wohnende Künstler, Wissenschaftler und Angestellte bedeutsam, andererseits gibt es einen für die ehemaligen DDR-Gebiete eher untypisch hohen Anteil von ungelernten und angelernten Arbeitskräften." (JUGENDBERATUNG im Prenzlauer Berg 1995, 9).
Ende 1994 waren 144.567 Bürger melderechtlich in Prenzlauer Berg registriert. Auffällig ist insbesondere der überdurchschnittlich hohe Anteil von jungen Menschen: 1/3 der Bevölkerung Prenzlauer Bergs ist unter 27 Jahre alt. Zudem lebt hier die einkommensschwächste Bevölkerung Berlins. Trotzdem besitzt Prenzlauer Berg als Bezirk im gesamtberliner Vergleich eine ganz besondere Attraktivität: Für Wolfgang KIL (1996) war der Bezirk schon immer eine "Transitstation Hoffnung", er charakterisiert den Prenzlauer Berg als einen "Stadtteil für Einsteiger, Aufsteiger, Aussteiger" (KIL 1996, 19).
3.7. Sogwirkung Berlin-Prenzlauer Berg
Die Frage nach der Sogwirkung Berlins bzw. des Bezirks Prenzlauer Berg für obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene ist grundsätzlich von drei Gesichtspunkten her zu betrachten: 1. Von der Dynamik der Szene selbst; 2. Von der Dynamik, die von der Metropolenentwicklung Berlins ausgeht sowie 3. Von der sozialen Entwicklung im Stadtteil selbst.
Erstens. Zur Dynamik der Szene urteilen die Forscher des Bundesjugendinstituts: "Diese zentralen Szenen ziehen Jugendliche mit langen Jugendhilfekarrieren, die nirgends mehr verankert sind, ebenso an wie Jugendliche aus mehr oder weniger desolaten Familienverhältnissen, wobei die Zahl von Jugendlichen aus »ganz normalen« Mittelschichtsfamilien aus dem Umland bzw. aus einzelnen Stadtteilen zunimmt. Anziehungskraft haben diese zentralen Szenen mit ihrer Anonymität und ihren Gelegenheitsstrukturen auch für Jugendliche aus schon länger in Deutschland ansässigen Migrantenfamilien sowie für minderjährige Flüchtlinge und Jugendliche aus Osteuropa. (...) Insgesamt mischen sich in diesen Szenen also Jugendliche, die schon sehr stark entwurzelt sind und schon längere Abweichungskarrieren hinter sich haben, mit solchen, die die Szene gelegentlich als Freizeitort nutzen oder deren Straßenkarriere hier beginnt." (JORGSCHIES/PERMIEN/ZINK 1995, 9)
Zweitens kann aufgrund der Dynamik, die von der Metropolenentwicklung Berlins ausgeht, generell mit Zuwanderungsbewegungen gerechnet werden. Wolfgang KIL etwa argumentiert mit Blick auf Prenzlauer Berg: "Überhaupt wäre Berlin gut beraten, seine Gründerzeitgebiete in möglichst funktionstüchtigem Zustand zu bewahren. Denn schließlich muß die Stadt - bei allen übrigen Unwägbarkeiten der Zukunft - mit einem ganz sicher rechnen: mit einem neuerlichen Andrang der Habenichtse. (...) Und diese neue Wanderungsbewegung hat kaum erst begonnen. Sie wird auf Dauer das Gesicht der aufstrebenden Metropole in der Mitte des Kontinents nachhaltiger verändern, als es die ehrgeizigsten Bauprojekte in der City jemals vermögen. (...) Zwar mag es der Traum vom Kurfürstendamm sein, mit dem sich die Wanderer auf den Weg machen, doch am Ziel ihrer Reise werden sie auf billige Wohnungen, billige Läden und auf alle Arten von Gelegenheitsjobs angewiesen sein. Mehr denn je wird also der soziale Frieden der Stadt von jenen anarchistischen, aber strapazierfähigen Toleranzvierteln abhängen, die schon immer als Durchgangs- und Aufstiegsmillieu funktionierten. Die mögen den einen als nicht ganz geheuer erscheinen; für die anderen sind die das rettende Paradies." (KIL 1996, 28)
Und drittens muß auch davon ausgegangen werden, daß ein Teil der obdachlosen Jugendlichen/jungen Erwachsenen sich verstärkt unmittelbar aus dem Bezirk selbst bzw. aus einzelnen Stadtteilen rekrutiert. Dieses Phänomen wäre nicht neu und mit Blick auf die besondere soziale Struktur des Bezirks (s.o.) auch nur dann zu vermeiden, wenn es gelingt "die Verdrängung der ansässigen Bevölkerung zu verhindern, dem ökonomischen Druck der privaten Eigentümer gegenzusteuern, die Betroffenen in einen qualifizierten Abstimmungsprozeß zu integrieren und so nach einem Modell für eine andauernde, nachhaltige Stadtentwicklung zu suchen." (FLIERL 1996, 14)
Dabei ist davon auszugehen, daß alle drei Dynamiken sich wechselseitig bedingen und gegenseitig verstärken. Anders gesagt: Die Attraktivität des Bezirks Prenzlauer Berg für sog. "Straßenkinder", seien es nun obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene oder aber ganz allgemein durchreisende oder zureisende Trebegänger in (Stadtteil-) Straßenszenen ist kein Gegensatz zur sonstigen allgemeinen sozialen Situation, kein spezifisch besonderes Problem des Bezirks, sondern muß gesehen als konstitutiver Bestandteil eben dieser typischen sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Charakteristik und Dynamik Prenzlauer Bergs im Rahmen der Hauptstadt- und Metropolenentwicklung Berlins.
3.8. Bedeutung und Bewertung des Problems obdachloser Jugendlicher/junger Erwachsener
In einer ersten Zwischenbilanz kann festgehalten werden. Zweifelsfrei existiert das Problem obdachloser Jugendlicher/junger Erwachsener auch in Prenzlauer Berg, auch wenn zur Zeit keine plausible Schätzung vorgenommen werden kann. Dennoch gibt es, jenseits der von der Jugendberatungsstelle Prenzlauer Berg erfaßten Kinder und Jugendlichen deutliche Hinweise und plausible Argumente für eine deutlich hoch anzusetzende Dunkelziffer. Weiterhin ist mit Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung allgemein, die Metropolenentwicklung Berlins sowie mit Blick auf die sozialen und historischen Besonderheiten des Bezirks selbst mindestens davon auszugehen, daß auch zukünftig das Problem obdachloser Jugendlicher/junger Erwachsener im Bezirk präsent sein oder sogar noch deutlich zunehmend wird.
Zugleich zeigt die Analyse der wissenschaftlichen Diskussion und der Stand der Forschung erschreckende Defizite, sowohl was das theoretische Problemverständnis und das empirische Material betrifft, als auch was die Entwicklung hinreichender und den Erfahrungen der Jugendlichen angemessener Hilfeleistungen anbetrifft - das gilt für die Bundesrepublik allgemein, aber insbesondere auch für die Stadt Berlin.
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