2. Obdachlosigkeit

2.1. Ursachen der Obdachlosigkeit

Es gibt nicht die Theorie zur Erklärung der Verursachung von Wohnungslosigkeit. Vielmehr ist eine ganze Vielzahl unterschiedlicher, teilweise sich widersprechender, teilweise sich ergänzender Annahmen zu konstatieren. (Einen systematisch-strukturierten Überblick über die theoretischen Konzepte zur Verursachung von Wohnungslosigkeit bietet die Arbeit von JOHN 1988, eine eher chronologisch geordnete Darstellung der Entwicklung der Theoriebildung zum Problem enthält die Arbeit von TREUBERG 1989.) Generell können die Erklärungsmodelle zu Wohnungslosigkeit in eher gesellschaftstheoretische und eher individualtheoretische Annahmen eingeteilt werden. Das grundlegende Problem aller Theorie ist das Subjekt: Wenn Wohnungslosigkeit gesellschaftlich determiniert ist, dann sind die Wohnungslosen bloße Opfer, sie können gar nichts für ihre Wohnungslosigkeit. Wenn Wohnungslosigkeit im Ergebnis individuellen Defiziten zuzuschreiben ist, können die Betroffenen erst recht nichts für ihre Situation. Wohnungslosigkeit ist demzufolge schlüssig weder als allein gesellschaftlich verursacht, noch als allein individuell defizitbedingt zu erklären, auch eine Kombination beider Annahmen - im Sinne von "gesellschaftliche Bedingungen bewirken individuelle Defizite" - ist wenig überzeugend.


Eine beide Positionen vermittelnde Annahme wird von ROHRMANN 1987 - relative Handlungsfähigkeit - sowie von AVRAMIS/KRüGER 1988 - Tätigkeit

und Persönlichkeitsentwicklung - vertreten. In historisch-dialektischer Weise wird angenommen, daß Individualentwicklung von vornherein gesellschaftlich vermittelt ist und sich im Prozeß der gesellschaftlichen Tätigkeit bzw. Handlungen des Subjekts vollzieht (vgl. LEONTJEW 1986).


Damit sind in der theoretischen Diskussion Ansätze identifizierbar, Wohnungslose nicht länger als KlientInnen (d.h. als Objekte gesellschaftlicher Defizite oder defizitäre Persönlichkeiten) zu betrachten und entsprechend zu behandeln, sondern vielmehr als Subjekte ihrer eigenen Lebenslage anzunehmen, entsprechend mit ihnen umzugehen und eine soziale Arbeit an ihren Interessen und Möglichkeiten zu orientieren. Ein solches Problemverständnis Wohnungsloser als Subjekte ihrer Tätigkeit umfaßt notwendig auch die Dimension der individuellen Gewordenheit: Wohnungslosigkeit wäre demnach das Ergebnis eines komplexen, vielschichtigen Prozesses von tätiger individueller Auseinandersetzung mit sich rasant verändernden konkreten gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. SCHNEIDER 1994, PREUSSER 1989, ROHRMANN 1987), ein Prozeß, der weit vor dem äußeren Ereignis der Wohnungsverlustes beginnt und mit diesem noch lange nicht abgeschlossen ist.


Gleichzeitig darf nicht übersehen werden: "Obdachlosigkeit ist ein gesellschaftliches Produkt, das durch staatliches, soziales und individuelles Handeln tagtäglich (re-) produziert wird. Dieser Produktionsprozeß unterliegt historischen und geographischen Unterschieden/Verwerfungen: der soziale Skandal primärer Reproduktion ohne Wohnung hat daher eine eigene Geschichte und Geographie." (MAYER, SAMBALE, VEITH 1995; vgl. auch JOHN 1988, TREUBERG 1989, PREUSSER 1993, ROHRMANN 1987).

2.2. Obdachlosigkeit als multifaktorielles Problem (Zerfall traditioneller Sozialstrukturen, Individualisierungstendenzen)

Mit der Durchsetzung, Etablierung und zunehmenden Verallgemeinerung des vernetzten Computers wird die alte "Fordsche" Fließbandgesellschaft und die damit verbundene Idee vom Wohlfahrtsstaat abgelöst und ersetzt. Zentrales Element der neuen "Weltordnung" sind extreme Rationalisierungen, Flexibilisierungen und Globalisierungen der Arbeitswelt (dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, zeitlich befristete "Jobs" in der Folge) in Verbindung mit fundamentalen Verschiebungen hin zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft sowie der Auflösung bzw. Privatisierung des bisher sozialstaatlichen Systems Sozialer Sicherheit. Die daraus resultierenden Effekte durchdringen alle gesellschaftlichen wie individuellen Lebensbereiche und zeigen sich im Zwang zu dauerhafter Mobilität, Flexibilität und der Notwendigkeit zu lebenslanger Qualifizierung und steter Neu- und Umorientierung im Hinblick auf die Gestaltung der eigenen Biografie. Konventionelle, orientierungsgebende Institutionen und soziale Zusammenhänge wie Familie, Kirchen und Religion, Parteien, Gewerkschaften, Verbände, nationalstaatliche Politikkonzepte, Schicht- und Klassenzugehörigkeiten oder Milieubindung, Wohnumfeld, kulturelle Identitäten und Werte sind in Auflösung begriffen oder zumindest in der Krise befindlich.


Mithin ist auch das Risiko, obdachlos zu werden, im Zuge globaler Restrukturierung gesellschaftlich allgemein geworden und kann nicht mehr nur als Ausdruck eines Mangels an (verfügbaren) Wohnraums begriffen und sozialarbeiterisch behandelt werden. Ulrich BECK konstatiert: "Eigenes Leben - eigene Armut. Wo verläuft die Grenze zwischen Risiko- und Gefahrenbiographie?" Er sieht die "massenhafte Labilisierung bis in die gesellschaftliche Mitte hinein als latente Gefahr". (BECK 1994) In Verbindung damit ist zu konstatieren, daß zunehmend subjekttheoretische Überlegungen (Identität, Orientierung) Berücksichtigung finden (müssen), um die besondere Situation erklären zu können.


Normalität als gesellschaftlicher Tatbestand - im Sinne eines geregelten bzw. geordneten Lebens (mit gesichertem Lohnarbeitsplatz, dauerhafter Miete einer Wohnung und stabilen Familienverhältnissen als ihren herausragenden Kennzeichen) - befindet sich in zunehmender Auflösung, erweist sich immer mehr als Fiktion. Normalität und die individuelle Orientierung darauf, und in Verbindung damit ein Herausfallen aus einer solchen Normalität wird in den Biografien immer weniger aufzufinden sein. Und dennoch ist jede Person in ihrem Leben mit gesellschaftlicher Realität konfrontiert, insbesondere bezüglich der Frage der individuellen Reproduktion über Arbeit oder anderen Formen einer sozialen Sicherung, der Frage des Wohnens und der sozialen und partnerschaftlichen Beziehungen. Vorzufinden sind jeweils besondere, individuell höchst unterschiedliche Formen der Aneignung, des Umgangs, Bezugs und Verarbeitung von sich permanent wandelnder gesellschaftlicher Realität in der biografischen Entwicklung.


Die Möglichkeit eines sinnvollen Lebensentwurfs selbst ist also zu einem Risiko, zu einem Problem oder zumindest aber zu einer zentralen Aufgabe geworden: Wohnungslosigkeit ist ein mögliches Resultat dieser Situation, daß jeder/jede in der Frage des individuellen Überlebens auf sich allein gestellt ist und Hilfe nicht mehr erwarten kann. Damit einher geht auch eine Veränderung der Hilfestruktur, die zunehmend nur noch als private Wohltätigkeit Hilfen zum Überleben anbieten (MARCINIAK 1994) oder aber einer selektierten Klientel hochspezialisierte (high-tech braucht high soz-) Angebote zur Verfügung stellen kann. Besonders extrem äußern sich diese Prozesse der Ausgrenzung, Verarmung und Sortierung (Segregation) und Vertreibung naturgemäß in Metropolen, in denen großräumlich wie kleinräumlich allgemeine Entwicklungen vorweggenommen werden. Die übriggebliebenen Hilfeangebote, insbesondere aber Selbsthilfeansätze und -gruppen versuchen in der Regel mit sparsamsten Mitteln dem etwas entgegenzusetzen und etablieren bisweilen mehr oder weniger dauerhaft einige regionale Ecken und Nischen, in denen es möglich ist, unter Bezug auf einen eigenen Ort/eigenen Sinn/eigene Ressourcen zumindest eine temporäre relative Stabilisierung oder gar Verbesserung der Lebenslage zu verwirklichen.

2.3. Lebensbedingungen/Alltag Obdachloser

In einer knappen Skizze lassen sich die Lebensbedingungen und der Alltag Obdachloser etwa so beschreiben:


Arme Menschen und insbesondere Wohnungslose besitzen kaum mehr als das, was sie am Leib tragen und haben selten genug Gelegenheit, etwas Bleibendes zu produzieren; allzuhäufig stellt sich statt dessen Schwund ein, das meiste geht irgendwo verloren auf den vielen kleinen und großen Fluchten. Die ausgewiesenen Wegstrecken zwischen Wärmestube und Notübernachtung, Weihnachtsfeier und Kleiderausgabestelle, ALDI und Sozialamt, ambulanter medizinischer Notversorgung und Suppenküche erfordern Kondition, gutes Schuhwerk, profunde Fahrplankenntnisse und vor allem: permanente Mobilität. Alle sind willkommen, aber nur wenig wird geboten: fade Suppen, ein paar Socken oder Unterhosen, ab und an ein Päckchen Tabak oder für ein paar Tage ein Bett (Variationen zum Thema: "Läusepensionen"), manchmal ein bißchen Ansprache, Beratung oder gar: Unterhaltungsprogramm. Wenn es mit der Kälte ganz schlimm kommt, werden Bunker oder U-Bahnhöfe aufgemacht - oder auch nicht. Zum dauerhaften Verweilen lädt diese Art der Hilfen wahrlich nicht ein - und ist meistens auch nicht so gemeint. Armen Leuten bleibt in der Regel keine andere Wahl. Doch ganz umsonst ist der ganze Zauber trotzdem nicht zu haben: Wer nicht rechtzeitig kommt und gehörig drängelt, ist doppelt angeschmiert, bleibt draußen und darf zusehen, wie er die Kurve kriegt: vielleicht noch irgendwo ein paar Mark erbetteln und dann rauf auf die S-Bahn-Rutsche Richtung Erkner, um bis zum nächsten Morgen noch zwei, drei Stunden Schlaf zu erwischen.


Ein Leben draußen in der ständigen Gefahr, beraubt, überfallen oder angefackelt zu werden. Wer Glück hat, darf es am nächsten Tag noch einmal versuchen. Derart durch die Mangel gedreht und schon bald völlig auf den Hund gekommen, haben Wohnungslose kaum eine andere Chance, als ungewollt das Vorurteil zu bestätigen, sie seien letztendlich selbst schuld, ihnen sei nicht zu helfen und sie hätten es nicht besser verdient. Und so kommen Wohnungslose schließlich auf die naheliegende Idee, sich in leerstehenden Häusern, Wagendörfern oder sonstwo auf Dauer häuslich einrichten zu wollen: geräumt und vertrieben wird unter Garantie, früher oder später, denn nur im Vorbeirauschen darf Not sichtbar werden. Die sogenannte Winterhilfe für Wohnungslose: ein anderes Wort für einen kostensparend organisierten Kältetod auf Raten. Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Winter. Und der kommt bestimmt. (Vgl. SCHNEIDER 1993)


Allgemein gesagt: Die Lebenslage Wohnungslosigkeit ist gekennzeichnet durch einen weitestgehenden Ausschluß von gesellschaftlicher Partizipation und einen Zerfall individueller Tätigkeiten. Der Alltag ist gekennzeichnet von der Sorge ums Überleben Tag für Tag in Verbindung mit subjektiv wahrgenommener Chancenlosigkeit und in der Regel objektiv fehlender Perspektiven. Kreative Überlebenstrategien gehen einher mit permanenter Unterforderung, die Lebenslage fördert eine Abhängigkeit von Versorgungs-, Hilfeangeboten und Ämtern bzw. Behörden sowie (aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen) eine latente Tendenz zur Kleinkriminalität (Mundraub, Diebstähle, Schwarzfahren). Soziale Beziehungen verarmen und sind in der Regel beschränkt auf (funktionale Kontakte zu) LeidgenossInnen und professionelle HelferInnen, sexuelle und partnerschaftliche Beziehungen sind nur stark eingeschränkt möglich oder finden als Prostitution oder im Armutszölibat statt. Biografisch erworbene Kompetenzen gehen verloren und Qualifikationen werden entwertet, Suchtproblematiken (oft als Verarbeitungs- oder Bewältigungsstrategie der Lebenssituation) entstehen oder potenzieren sich, körperliche Belastungen (Kälte, Witterung, ungenügende Ernährung, Drogen) führen auf Dauer zu massiven und z.T. bleibenden gesundheitlichen Schäden. Der dauerhafte Verbleib in solchen Strukturen findet als Folge häufig seinen Ausdruck in psychischen Auffälligkeiten, Sinn- und Motivationsverlust, Resignation, Lethargie oder individuellem Protest ("Scheiß-egal-Effekt"), ein Ausstieg bzw. eine nachhaltige Veränderung/Verbesserung aus derart belastenden Strukturen der Lebenslage wird umso schwieriger, je länger Wohnungslosigkeit andauert.

2.4. Umfang: Statistik und Schätzung

Statistiken und offizielle Äußerungen


Eine naheliegende Vorgehensweise zur objektiven Ermittlung des quantitativen Ausmaßes von Wohnungslosigkeit besteht darin, alle diejenigen zu erfassen, die in Kontakt zu den staatlichen Angeboten der Hilfe für Wohnungslose treten. Bezogen auf Berlin heißt das konkret, daß zunächst alle diejenigen registriert werden, die sich auf den bezirklichen Sozialämtern des Landes Berlin obdachlos melden. Daraus ergibt sich die offizielle Statistik der Berliner Senatsverwaltung.


Die folgende Übersicht zeigt die Entwicklung der auf diese Weise ermittelten Obdachlosenzahlen (* Die Zahlen beziehen sich bis 1993 nur auf den Westteil der Stadt, für das Jahr 1995 fehlen die Angaben der Bezirke Schöneberg und Zehlendorf):

 

Jahr gemeldete Personen*


1988 5 577
1989 6 386
1990 7 110
1991 8 185
1992 9 840
1993 11 603
1994 10 558
1. Quartal 1995 8 977


Quelle: Abgeordnetenhaus von Berlin, 1993 und 1995


Erstmalig 1993 wird offiziell von Senatsseite eingeräumt, daß neben den offiziell wohnungslos gemeldeten Personen noch eine erhebliche Dunkelziffer anzunehmen ist: "Der Kreis der statistisch nicht erfaßten Wohnungslosen (Dunkelziffer) wird derzeit auf noch einmal so viel wie die registrierte Obdachlosenzahl geschätzt. Eine differenziertere Analyse zu Umfang und Zusammensetzung der Obdachlosen sowie Schätzungen zur Zahl der Wohnungslosen werden im Rahmen des zu erstellenden Obdachlosenrahmenplans vorgenommen." (ABGEORDNETENHAUS von Berlin 1993, 2).


Im Bezirk Prenzlauer Berg waren zum Jahresende 1994 genau 420 Obdachlose erfaßt, im ersten Quartal 1995 immerhin 401 (ABGEORDNETENHAUS von Berlin 1995, 7), die Dunkelziffer ist auch hier auf noch einmal so viel wie die registrierte Obdachlosenzahl zu veranschlagen. Zahlen für die Jahre davor liegen nicht vor.

 

Schätzungen der Obdachlosenzahlen in Berlin

Demgegenüber werden in Schätzungen durchweg höhere Zahlen angegeben. Anläßlich der europaweit organisierten "Nacht der Wohnungslosen" vom 25. auf den 26. Juni 1993 wird von den Berliner Veranstaltern, zu denen auch das Diakonische Werk gehört, bereits eine Zahl von bis zu 40.000 obdachlosen Menschen in Berlin genannt (vgl. BINDER 1993). Schätzungen für die einzelnen Bezirke existieren nicht.


Die folgende Übersicht zeigt die Entwicklung der geschätzten Obdachlosenzahlen in Berlin:

1989 12.400 - 15.650 (vgl. BINFO - Ausgaben)
1990 16.000 - 20.000 (vgl. KUPPINGER 1990).
1993 25.000 - 40.000 (vgl. RAUPACH 1993 bzw. BINDER 1993)
1995 ??? - 50.000 (vgl. PRESSESPIEGEL der BAG-W 1995)

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