1. Einleitung

1.1. Was bedeutet Wohnen?

"Wohnen" ist - auf den ersten Blick - etwas völlig Selbstverständliches: "ein Dach überm Kopf", die "eigenen vier Wände drumherum" und "eine Tür, die man hinter sich zu machen kann"; historisch erreichte Standards an Einrichtung (von Zentralheizung über Dusche und Innentoilette bis Herd und eigenem Flur) und Ausstattung (Strom-, Warmwasser-, Telefon- und Kabelanschluß; Waschmaschine, TV, Mikrowelle und Kühlschrank) werden unausgesprochen mitgedacht und als selbstverständlich vorausgesetzt. Damit ist zwar angedeutet, was in hochentwickelten (je nach Auffassung: Industrie-, Dienstleistungs-, Informations- bzw. Kommunikations- oder Erlebnis-) Gesellschaften im allgemeinen unter einer Wohnung zu verstehen ist - "wohnen" selbst ist damit nicht beschrieben.


Menschheitsgeschichtlich gesehen ist "wohnen" offenbar ein Grundbedürfnis - Menschen haben immer und zu allen Zeiten gewohnt -, untrennbar zur Natur des Menschen gehörend und zugleich auch Ausdruck des jeweils erreichten Stand(ard)s gesellschaftlicher Entwicklung in all ihren Widersprüchen - zwischen Hütte und gerade auch Palast (vgl. HENKE 1994). Was "wohnen" also konkret sein kann, ist von der entwickeltsten Form der Wohnung her zu betrachten und zugleich aus der historischen Gewordenheit zu erschließen - von daher hat die Selbstverständlichkeit, mit der in der Alltagsvorstellung "Wohnen" verstanden wird, hier ihre Berechtigung.


Damit ist, kurz gesagt, die (jeweils eigene und den Mindeststandards entsprechende) Wohnung Basis und Ausgangspunkt einer Vielzahl menschlicher Tätigkeiten und Beziehungen, angefangen von der unmittelbaren materiellen und psychischen Reproduktion (FLADE 1987) bis hin zur vollen Entfaltung gesellschaftlicher Partizipation des einzelnen Individuums (vgl. RäUCHLE 1979). Daß also "wohnen" - im engeren Sinne der Verfügung über eine Wohnung - plausibel nur im Kontext des je gesellschaftlich erreichten Standards dessen, wie gewohnt wird, definiert werden kann, hat unmittelbar auch Konsequenzen für die Definition von Wohnungslosigkeit.

1.2. Was ist Obdachlosigkeit?

Entgegen der tautologischen, immer noch im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) festgeschriebenen Definition von "Nichtseßhaftigkeit": "Nichtseßhafte (...) sind Personen, die ohne gesicherte wirtschaftliche Lebensgrundlage umherziehen oder die sich zur Vorbereitung auf eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft oder zur dauernden persönlichen Betreuung in einer Einrichtung für Nichtseßhaftenhilfe aufhalten." ([[section]] 4 DVO zu [[section]] 72 BSHG) wurde in den letzten Jahren eine Definition von Wohnungslosigkeit erarbeitet, die sich am o.g. Verständnis von "wohnen" orientiert:


Wohnungslosigkeit (= Obdachlosigkeit) bezeichnet eine Lebenslage, in der eine oder mehrere Personen, die einen Haushalt bilden, nicht in der Lage sind, sich Zugang zu einem gesicherten und den Mindestansprüchen genügenden Wohnraum zu verschaffen. Aktuell von Wohnungslosigkeit betroffen sind Personen, die über keinen eigenen Wohnraum verfügen. Dies sind vor allem Personen (Einzelpersonen und Paare), die völlig ohne Wohnung, dauerhafte Unterkunft und ohne Wohnsitz oder befristet in Einrichtungen und Anstalten leben. (Diese Personen werden in der Regel als "Nichtseßhafte" bzw. "alleinstehende Wohnungslose" und nicht als Obdachlose bezeichnet und behandelt.) (Vgl. IVWSR 1987, BAG-NH 1989, SPECHT 1990a, SPECHT-KITTLER 1992)


Damit wird unmißverständlich klargestellt, daß "wohnen" nicht bedeutet, nur "irgendwie" in einer Wohnung zu leben oder "ein Dach überm Kopf zu haben". "Eine Wohnung ist nicht alles, aber ohne Wohnung ist alles nichts." In diesem Sinne definiert dann auch MARCUSE:


"Obdachlosigkeit heißt, kein Zuhause zu haben, nicht in einer Wohnung (oder Nachbarschaft) zu leben, die minimale Anforderungen an Schutz, Privatheit, persönliche Sicherheit, Sicherheit der Wohndauer, Ausstattung, Raum für die wesentlichen wohnbezogenen Tätigkeiten, Kontrollierbarkeit der nächsten Umgebung und Erreichbarkeit erfüllt. 'Minimale Anforderung' ist die historische Komponente und variiert nach Zeit und Ort. Der Standard ist also relativ, und er wird sozial, nicht individuell bestimmt" (MARCUSE, 1993, 208).


Beschrieben wird Obdachlosigkeit damit als ein weitestgehender, über das Fehlen einer Wohnung vermittelter oder besser erzwungener Ausschluß von gesellschaftlicher Partizipation, einhergehend mit einem, durch die Wohnungslosigkeit bedingten zunehmenden Zerfall von zentralen, bislang wohnbezogenen Tätigkeiten (vgl. SCHNEIDER 1990). Wohnungs- oder Obdachlosigkeit (beide Begriffe werden hier synonym gebraucht) ist damit als eine besondere, in der Regel im Kontext von Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut auftretende Armutslebenslage, die nicht allein nur auf reine materielle (Wohnungs-)Armut reduziert werden kann, zu charakterisieren.


Obdachlosigkeit ist vor allem Ausdruck eines gesellschaftlichen Strukturproblems, welches verschärft innerhalb von metropolitaner Entwicklung auftritt und insbesondere in innerstädtischen Strukturen seinen stärksten Niederschlag findet (vgl. MAYER/SAMBALE/VEITH 1995).


Daraus abzuleiten sind auf verschiedenen Ebenen eine Reihe von Forderungen, etwa, daß das Recht auf die eigene Wohnung in der Verfassung verankert und jedem Bürger zugestanden wird, oder aber daß das Problem (der Prävention bzw. der Überwindung von) Obdachlosigkeit im Kontext von Konzepten zu (behutsamer/sozialverträglicher) Stadterneuerung, Sozialplanung und kommunaler, regionaler und staatlicher Politik seine Berücksichtigung finden muß.

1.3. Was ist Jugend?

"Jugend liegt zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Als eine Übergangszeit des Heranwachsens (Adoleszenz) von der Unmündigkeit des Kindes einerseits, das zunächst noch nicht sprechen kann (infans) und auch, wenn es sprechen lernt, noch nicht in einem verantwortlichen Sinn für sich selbst sprechen kann und braucht, zur Mündigkeit des Erwachsenen andererseits, der, nachdem er sprechen gelernt, nunmehr verantwortlich für sich selbst zu sprechen hat, auch im institutionellen Sinne der Rechtsmündigkeit - unter diesem Gesichtspunkt ist Jugend Zwischenmündigkeit." (KOPPE 1995, 157)

Dieses grundsätzliche, im Rahmen der Ringvorlesung "Jugend und Schule heute. Wege in die Autonomie - Chancen und Hindernisse" an der Hochschule der Künste vom Philosophen Franz Koppe formulierte Kriterium der Mündigkeit beschreibt demnach "Jugend" in Relation zum Konzept dessen, was jeweils gesellschaftshistorisch unter Mündigkeit verstanden wird. "Jugend, als Zwischenmündigkeit, ist relativ zur (sich wandelnden) Idee der Mündigkeit." (KOPPE 1995, 158).

Auf dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen ist "Jugend" in einer prekären Lage: "Die Sozialisationswirklichkeit, in der sich Jugend heute vorfindet, ist nämlich zutiefst widersprüchlich. Einerseits ist zwar das Humanitätsprinzip gleicher Achtung und Rechte aller unter der emphatischen Formel der unantastbaren Menschenwürde inzwischen expliziter Bestandteil von Grundgesetzen und Verfassungen auf allen Ebenen nationaler und internationaler Verbindlichkeit. (...) Andererseits kann sie sich aber nicht so verstehen angesichts der faktischen Verletzung von Menschenwürde, die in Form extremer Ungleichheit, ebenfalls auf allen Ebenen, unübersehbar ist: vom Elend der Dritten Welt (laut UN-Terminologie sterben täglich 43 000 Kinder an 'structural hunger') bis in den Arbeitslosenalltag auch der Jugendlichen hierzulande. Oder ist es etwa keine Verletzung der Menschenwürde, wenn Menschen, die arbeiten können und wollen, struktureller Dauerarbeitslosigkeit zwangsläufig zum Opfer fallen - trotz verbrieftem Recht auf Arbeit? Oder wenn in ausgesprochenen Wohlstandsländern Menschen in Mengen obdachlos sind - trotz verbrieftem Recht auf menschenwürdiges Leben." (KOPPE 1995, 161).


Damit wird deutlich: Jugend heute befindet sich in einem schwierigen Dilemma. Einerseits kann sie ihre Identität "nicht ungebrochen ausbilden, weil sie sich den Spielregeln der Ellbogengesellschaft auf Gedeih und Verderb anpassen muß. Und sie kann andererseits angesichts struktureller Hindernisse dennoch nicht einmal damit rechnen, daß der in Kauf zu nehmende Identitätsbruch tatsächlich zum Erfolg wenigstens eines Selbstbehauptungsplatzes innerhalb der Ellbogengesellschaft führt." (KOPPE 1995, 163). Unter den gegebenen Voraussetzungen kann Jugend also nicht nur als eine typische Sozialisationspassage, sondern muß auch als eine hochproblematische biografische Entwicklungsphase verstanden werden, die in sich ebenso viele Chancen wie Risiken birgt. Das Bewußtsein darüber kann den Erwachsenen helfen, diese Problematiken adäquat einzuschätzen.


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