Nouvertné / Wessel / Zechert (Hrsg.): Obdachlos und psychisch krank

Klaus Nouvertné, Theo Wessel, Christian Zechert (Hg.): Obdachlos und psychisch krank. Bonn: Psychiatrie-Verlag 2002. 208 Seiten, 19.90 Euro, ISBN 3-88414-268-2
(siehe auch: www.psychiatrie.de/verlag/buecher/268.htm

Persönliche Vorbemerkung

Selten ist uns eine Rezension so schwer gefallen wie bei diesem Buch, selten verspürten wir ein solches Unbehagen. Woran liegt es? Das Thema ist aktuell und berechtigt, die Not der obdachlosen Menschen zweifellos existentiell, das Leiden psychisch umherirrender Menschen unvorstellbar.

Erst neulich verloren wir einen schreibenden Kollegen, der der Überzeugung war, dass ihm Uran in sein Hirn verpflanzt wurde. Er fühlte sich verfolgt. Er kiffte regelmäßig und viel, um sich zu entlasten. Niemand wollte ihm das Uran entfernen. Nur zwei Tage nach unserer letzten Begegnung wurde er tot in einem Gebüsch aufgefunden. Er war obdachlos und stand psychisch unter einem ungeheueren Druck. -

Dieses Buch verursacht Unbehagen, weil - von einigen Andeutungen vielleicht abgesehen - weitgehend ausgeblendet wird eine Diskussion der Ursachen. Warum leben Menschen auf der Strasse, warum gehen Menschen in die Irre? Schlimmer noch: Zwischen den Zeilen sind immer wieder Stichworte, Bemerkungen, Andeutungen zu finden, dass das größte Problem in der Hilfe selbst begründet ist. Wir reden konkret über Psychiatriebetroffene oder gar Psychiatriegeschädigte, über obdachlose oder irre Menschen, die es vorziehen, lieber auf der Strasse zu leben als in Einrichtungen der Psychiatrie oder Wohnungslosenhilfe. Hier die Hilfe selbst und deren Begründung und die dazugehörige Wissenschaft der Sozialen Arbeit, der Psychiatrie und Psychologie bzw. die Erziehungswissenschaften kritisch unter die Lupe zu nehmen ist dabei fast so aussichtsvoll, wie der Versuch, einem Menschen des Mittelalters erklären zu wollen, dass die Erde eine Kugel ist und sich um die Sonne dreht. Es ist einfach nicht glaubbar.

Hintergrund

Die vorliegende Publikation bewegt sich in einem thematischen Minenfeld.

  • Sowohl Wohnungslosigkeit als auch psychische Erkrankungen stellen schon für sich allein anspruchsvolle Herausforderungen für die soziale bzw. psychiatrische Arbeit dar. Laut Titel geht es zunächst um Grenzbereiche zwischen beiden Arbeitsfeldern: Konkret um wohnungslose Menschen, bei denen psychische Auffälligkeiten bzw. Erkrankungen festzustellen sind, und umgekehrt um Menschen mit psychischen Erkrankungen oder aber in psychiatrischer Behandlung, die akut von Wohnungslosigkeit bedroht sind oder aber als akut Wohnungslose einer psychiatrischen Hilfe oder Behandlung bedürfen.

  • Als weitere Problemlage, die nicht explizit im Titel genannt wird, aber höchst relevant ist, kommt das Thema Sucht hinzu. Sei es in der Verbindung Wohnungslosigkeit und Sucht, oder aber in der Verbindung psychische Erkrankung und Sucht, so daß im Kern das Bermudadreieck Wohnungslosigkeit, psychische Erkrankung und Sucht, beziehungsweise auf der institutionellen Ebene die Wohnungslosen- und Suchtkrankenhilfe sowie Psychiatrie zu betrachten sind. Bei Frauen kommen oft Gewalterfahrungen und der Kontakt mit der Anti-Gewalt-Bereich hinzu. Allerdings - um gleich einen kritischen Einwand einzuschalten - haben die psychisch kranken Obdachlosen in dem besprochenen Buch in der Regel kein Geschlecht (sind also männlich), und die Arbeit der Hilfesysteme erscheint als völlig geschlechtsblind.

  • Dieser Sachverhalt der fachlich unterschiedlichen Zuständigkeiten wird dadurch noch komplizierter, daß die vier Hilfe“systeme“ zwischen ambulanten oder gemeindenahen, d.h. lebensweltorientierten, und stationären Angebotsformen unterscheiden. Mit anderen Worten: Auf der Hilfeebene existieren unterschiedlichste Angebotstypen, die häufig schon allein innerhalb der einzelnen Themenfelder nicht kooperieren, und darüber hinaus themenübergreifend kaum oder nicht hinreichend vernetzt sind. Innerhalb der Angebote und Arbeitsbereiche sind daher vielfältigste Konstellationen von Zuständigkeiten, Schnittstellen, Kompetenzen, Überschneidungen und Abgrenzungen denkbar.   

  • Vollends verwirrend wird die Situation, wenn man sich klar macht, dass diese Hilfeangebote allesamt oftmals ein „creaming“ praktizieren. Damit ist gemeint die problematische, subjektiv aber höchst nachvollziehbare Tendenz, sich den vermeintlich einfachen, bequemen, pflegeleichten, lieben „KlientenInnen“ zuzuwenden und unbewusst oder planvoll die sogenannten schweren Fälle abzuschieben. Als Resultat ist dann oftmals vor sogenannten „Drehtüreffekt“ zu beobachten, d.h., Hilfeangebote werden erfolglos durchlaufen.

  • Dieses Szenario wird noch durch den Tatbestand überboten, dass die Hilfe oftmals nicht hilft, sondern vielmehr Schäden bewirkt: Wenn etwa im Zusammenhang mit Hilfenutzung und –erfahrung von „Psychiatriebetroffenen“ die Rede ist, ist dies – ohne damit über die Psychiatrie an und für sich urteilen zu wollen – immerhin ein Hinweis auf Problemlagen, die erst aufgrund von Hilfen auftreten. Insofern kann hier der Mechanismus eines problemübergreifenden Drehtüreffektes angenommen werden: Um bestimmten Hilfeeffekten zu entgehen, werden andere, an und für sich nicht kompetente Hilfen aufgesucht.   

  • Diese inhaltlich-institutionelle Hilfeorganisation wird überlagert durch die starke Verrechtlichung und Formalisierung der Hilfen: Bei der Bewilligung von Leistungen sind die unterschiedlichen Paragraphen des Sozialhilferechts, die unterschiedlichen Zuständigkeiten, die Vor- oder Nachrangigkeit der Hilfen, die unterschiedlichen Begründungen und Finanzierungen zu prüfen und zu beachten, ohne daß dieses Verfahren den Hilfesuchenden immer gerecht wird. Damit stehen Menschen, die in unterschiedlichen Kombinationen wohnungslos und/oder süchtig und/oder psychisch krank sind, vor der zusätzlichen Schwierigkeit, sich mit der oben angedeuteten widersprüchlichen, unübersichtlichen Systematik der institutionalisierten professionellen Hilfe und den darin enthaltenen oder dort erst entstehenden Problemen auseinander setzen zu müssen.

  • Dabei handeln die, um die es geht, bisweilen durchaus vernünftig: Menschen, die obdachlos sind und vielleicht sogar gar nicht in einer Obdachloseneinrichtung, sondern auf der Strasse leben, versuchen, in einer existentiell bedrohlichen Situation, ihr tagtägliches Leben zu organisieren. Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, in die Irre gehen, verwenden eine unglaubliche psychische Kraft und Energie für Wege, die Aussenstehende nur mit Mühe verstehen, um ein sehr konkrete und reales Problem zu meistern. Beide Gruppen versuchen sich zu behaupten, beide Gruppen leiden - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - an dieser Situation. Für beide schafft oftmals der Weg in die Sucht Erleichterung, stellt einen subjektiv plausiblen Weg dar, um das Leben zu bewältigen. So entstehen Übergänge, so verschärfen sich ohnehin schon bestehende Probleme, in dem Lösungswege eine Eigendynamik entfalten und eine Situation noch weiter verkomplizieren.   

  • Damit sprengen Menschen - bewußt oder unbewußt - die Grenzen und Möglichkeiten der bestehenden Hilfeangebote. Gerade hier gilt die Logik des Thomas-Theorems "Wenn ein Mensch eine Situation als real definiert, hat sie auch reale Folgen" in brutaler Konsequenz.

Dies ist im Kern der Gegenstand der Veröffentlichung "Obdachlos und psychisch krank". Das Buch wird diesem Gegenstand in systematischer Hinsicht nur bedingt gerecht, als dass durch den lockeren Aufbau als Sammelband nur einige Aspekte des Gegenstandes beleuchtet werden. Es fehlt eine systematische Herangehensweise an das Thema, allen voran eine Diskussion von Ursachen, es fehlt eine systematische Einführung zum Verständnis des Psychiatrie (für den Bereich der Wohnungslosenhilfe ist der Aufsatz von Heinrich Holtmannspötter anhand der Begriffsgeschichte sehr erhellen), es fehlt eine kritische Untersuchung des Beitrags der Hilfe am Entstehen der Problematik, und eine Reihe der dargestellten Sachverhalte (beispielsweise verwaltungsrechtliche Zusammenhänge, diagnostische Instrumente in der Psychiatrie) sind derart speziell, dass sie für Nicht-Fachleute nur schwer verständlich sind. Für sich genommen bewegen sich die Mehrzahl der Beiträge auf hohem Niveau:

Aufbau

Die Herausgeber sind

  • Klaus Nouvertné, Psychotherapeut und Hochschullehrer, nebenberuflich in Psychia-trieplanung und Institutionsberatung tätig.
  • Theo Wessel, Dr., Dipl.-Psychologe, war lange in der Wohnungslosenhilfe tätig. Seit 2 Jahren leitet er Schloss Bettenburg, ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige in Tübingen.
  • Christian Zechert, Dipl.-Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Statistik und medizinische Dokumentation der Psychiatrischen Klinik Gilead/Bethel.

Auf 208 Seiten setzen sich insgesamt 24 Autoren in 15 Beiträgen mit dem Thema „obdachlos und psychisch krank“ auseinander. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem ist dabei in 4 Teile gegliedert

  • Einführung
  • Zentrale Aspekte
  • Besondere Lebenslagen
  • Perspektiven

Ergänzt wird die Publikation durch ein Vorwort, ein gemeinsames Literaturverzeichnis sowie ei-ner Übersicht der Autorinnen und Autoren.

  • Einführung

Klaus Nouvertné: Tunnelpassagen - eine Einleitung    
Der Text schildert eindrücklich und persönlich die Begegnung mit einem Obdachlosen. Sie sind zugleich eine Konfrontation mit dem Scheitern versuchter Hilfeangebote ist. Damit zeigt Nouvertné an einem sehr persönlichen Beispiels die Dramatik des Zusammentreffens von Obdachlosigkeit und psychischer Erkrankung.

Heinrich Holtmannspötter: „Von »Obdachlosen«, »Wohnungslosen« und »Nichtsesshaften«"    
Die Definition zentraler Begriffe der Wohnungslosenhilfe ist zugleich ein Exkurs in die Geschichte der Wohnungslosenhilfe und ihrer Mechanismen. Ein Artikel, den wir uns in gleicher Weise für die Themen Psychiatrieund Suchthilfe – wie definieren wir eigentlich „psychische Krankheit“ und „Sucht", und wie haben sich Begriff und Gegenstrategien geändert - gewünscht hätten. Kurz und konzentriert. Ein klassischer Lehrtext. Vorbildlich.

Hans Joachim Salize, Cornelia Dillmann-Lange, Beate Kentner-Firgura: „Versorgungsbedarf psychisch kranker Wohnungsloser“    
Am Beispiel Mannheims zeigen die AutorInnen den Spannungsbogen des psychiatrischen Versorgungsbedarfes Wohnungsloser auf, wobei auffällig ist, in welchem hohen Maße hier Sucht- und Abhängigkeitsproblematiken im Kontext psychiatrischer Diagnosen festgestellt werden.

  • Zentrale Aspekte

Bernd Eikelmann, Thomas Reker, Barbara Zacharias „Wohnungslose psychisch kranke – Zahlen und Fakten“  
Im internationalen Vergleich von Einzelstudien vertiefen die AutorInnen das Thema des Sammelbandes. Gefragt wird aber auch, inwieweit Wohnungslosigkeit als Lebenslage überhaupt erst zerstörend auf psychische Ressourcen wirkt (S.50) und die Hilfen – etwa aufgrund widersprüchlicher Prioritäten – oder aufgrund immanenter versorgungsstruktureller Hindernisse oder wechselseitiger Nichtzuständigkeit - überhaupt erst dazu beitragen, dass bestimmte Probleme auftreten.

Theo Wessel, Christian Zechert: „Wohnungslose Patienten in der psychiatrischen Klinik“    
Am Beispiel einer Bielefelder psychiatrischen Klinik zeigen die Autoren, dass insbesondere der Zusammenhang von Wohnungslosigkeit und psychiatrischer Behandlung häufig nicht positiv bearbeitet werden kann: „Bei den meisten Patientinnen und Patienten mit Wohnungsproblemen lässt sich eine Veränderung der Wohnsituation zwischen Aufnahme und Entlassung nicht erreichen.“ (S.63).

Theo Wessel: „Im »Bermuda-Dreieck«. Patienten zwischen Psychiatrie, Obdachlosenhilfe und Suchtkrankenhilfe“    
Wessel weist sehr nachdrücklich auf das Problem von Doppeldiagnosen hin, und auf die Mechanismen hin, mit denen die Menschen mit Doppeldiagnose konfrontiert sind. Er behandelt auch die entlastende Wirkung der Selbstmedikation mit Suchtmitteln und belegt seinen Beitrag durch Zahlenmaterial und eine prägnante Einzelfallschilderung. Die abschließenden Hinweise auf eine Rangfolge der Hilfeziele in Verbindung mit einer pragmatischen Betrachtung der Behandlungsgrundsätze (S. 77f.) bestechen durch ihren Pragmatismus und ihre Diktion "Menschen, nicht Krankheitsbilder". Eine brauchbare, weil konkrete Diskussionsgrundlage.

Gerhard Trabert: Aufsuchende ambulante medizinische Versorgung    
Trabert beleuchtet in erster Linie die gesundheitliche Situation von Wohnungslosen und das mit der Lebenslage verbundene Krankheitsrisiko. Bedeutsam - und damit übertragbar für die Fragestellung der Publikation insgesamt - sind die Hinweise auf die Notwendigkeit des vorbeugenden Gesundheitsschutzes und einer aufsuchenden medizinischen Vorsorgung von Menschen auf der Strasse. Zur Behandlung psychischer Erkrankungen empfiehlt Trabert eine fallorientierte Vorgehensweise (Case-Manegement).

Klaus Heuser, Andreas Zimmermann: Obdachlos und psychisch krank – Probleme innerhalb von Verwaltung und Recht    
Das Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland regelt in den §§ 27 - 75 die "Hilfen in besonderen Lebenslagen". Dabei wird unterschieden und abgegrenzt zwischen Menschen mit psychischer Behinderung (§ 39), und Menschen, "bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind" (§ 72, z.B. Obdachlose). Voraussetzungen, Ziele, die Heranziehung von Einkommen und Vermögen, die sachliche Zuständigkeit, Vor- und Nachrangigkeit der Hilfen sind in den §§ unterschiedlich formuliert: Damit besteht "grundsätzlich die Gefahr, dass vor Ort die Problematik im Einzelfall so 'definiert' wird, dass sie in eine sachliche Zuständigkeit passt (S. 100).

  • Besondere Lebenslagen

Uwe Britten: Verlorene: Kinder und Jugendliche auf der Straße    
Dieser Text ist ein sehr guter Einstieg für alle, die sich zum Thema Strassenkinder schnell orientieren möchten. Die Befragung von MitarbeiterInnen von Notschlafstellen zu psychischen Beeinträchtigungen von Straßenkindern, die der Autor speziell für diese Publikation bei vorgenommen hat, förderte leider nur Schätzungen und Vermutungen zu Tage, weniger objektivierende Daten, und ist deshalb unter Vorbehalt zu genießen. Hier besteht Forschungsbedarf.

Helma Hesse-Lorenz / Renate Moog: Wohnungslosigkeit bei Frauen ist unsichtbar     
Gut, dass die Situation obdachloser und irrer Frauen mit einem eigenen Beitrag beleuchtet wird. Zu finden sind viele richtige Beobachtungen, oft in erschreckender Klarheit formuliert: "Ebenso wie andere wohnungslose Frauen erleben auch psychiatrisch erkrankte Frauen die Aufnahme in ein Heim als extrem diskriminierend und ihre persönliche Freiheit massiv eingrenzend. Das bei Frauen stark ausgeprägte Bedürfnis, eigen Problem- und Lösungsstrategien zu finden, bevor sie fremde, vor allem institutionelle Hilfe in Anspruch nehmen oder sogar einfordern, verzögert auch hier den Eintritt in das Hilfesystem." (S. 60). Einmal mehr: Hilfe hilft nicht. Sie wird abgelehnt.
Nicht alle Thesen teilen wir. Wohnungslosigkeit bei Frauen ist sehr wohl sichtbar. Das Problem liegt vielmehr in der gedankenlosen Weiterverbreitung von Vorurteilen ("Wohnungslosigkeit bei Frauen ist unsichtbar") und in der Verweigerung frauengerechter Hilfeangebote. Außerdem ist bemerkenswert, warum "das bei Frauen stark ausgeprägte Bedürfnis, eigene Problem- und Lösungsstrategien zu finden" nicht als Ausdruck einer Stärke verstanden wird, an die angeknüpft werden kann. Eine Niederlage für das Hilfesystem ist es allemal.

Bernd Eikelmann, Thomas Reker: Je besser "angepasst", desto schneller tot? Gesundheitszustand und Inanspruchnahme medizinischer Dienste    
Auf wenigen Seiten verwursteln die Autoren anscheinend wichtige Ergebnisse vieler gelesener Untersuchungen und geben ihre Erkenntnisse verquast wider. "Bei erstmals wegen Schizophrenie hospitalisierten Patienten waren negative Symptome mit vorbestehender Wohnungslosigkeit assoziiert (Herrmann u.a. 1989). (S. 130) Der Inhalt des Textes ist häufig genug banal, und verrät, dass die Autoren keine Ahnung haben: "Einen großen Teil der psychopathologischen Phänomene und auch der körperlichen Symptome erwerben Wohnungslose im Rahmen ihrer Anpassung an die Gesetze der Straße." (S. 131). Kein Kommentar.

  • Perspektiven

Inge Theisohn: Erst einmal akzeptieren     
Der Titel des Beitrags führt m.E. in die Irre. Dargestellt wird das Ergebnis einer im Jahre 1994 (!) in Köln auf Betreiben des Sozialpsychiatrischen Dienstes initierten Umfrage in Einrichtungen der "Nichtseßhaftenhilfe" (!) zum Hilfebedarf allein stehender Wohnungs-loser, bei der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen um Einschätzungen (!) zu besonderen Problemstellungen ihrer Kunden befragt wurden. Der zweite Teil des Beitrags - Ausblick und Perspektiven - beschäftigt sich mit Angeboten, die in Köln eingerichtet oder aufgebaut wurden.

Hermann Genz, Birgit Gunia, Norbert Krütt-Hünning Michael Schleicher, Ulla Schmalz, Arnd Schwendy : Das Kölner Kooperationsmodell    
Das Kölner Modell wird in der Fachdiskussion als gelungenes Beispiel für eine Fach- und ämterübergreifende Zusammenarbeit allseits gelobt. Der Text stellt die zentralen Aspekte - akzeptierende Hilfe, kontinuierliche begleitende Hilfe, Hotel-Konzept, Ämterzusammenarbeit - vor. Selbstkritisch werden zum Schluß - "Und dennoch ist Köln kein Paradies ..." - einige Grenzen aufgezeigt: dass präventive Maßnahmen nicht greifen, oder das Hilfesystem versagt, wenn Obdachlose mit Hunden unterzubringen sind, bis hin zu einer kritischen Bewertung des "Mitnahmeeffektes" von "allzu guten" Hilfeangeboten.
Wir bleiben skeptisch, insbesondere mit Blick auf die Kehrseite des Modells, den die AutorInnen mit bemerkenswerter Offenheit nennen: "Inakzeptable Zusammenballungen von Punks, Junkies und anderen Notleidenden auf öffentlichen Plätzen (Dombereich, Neumarkt) wurden im Rahmen dieses Konzepts daher im Einvernehmen von Sozialverwaltung, Ordnungsamt und Polizei aufgelöst." (S. 147) Wer bestimmt hier, was akzeptabel ist und was nicht? Wie viel öffentlich sichtbare Not und Elend muss eine demokratische Gesellschaft aushalten können? Wo und bei wem beginnt die Zusammenballung? Und weiter: "Die 'Vertreibung' erfolgte dabei stets erst nach angemessenen Vorlaufzeiten, die den Betroffenen die Chance boten, alternative Hilfen in Anspruch zu nehmen." Ein Einvernehmen mit den Notleidenden war nicht herzustellen? Alternativ wozu? Vorsicht!

Theo Wessel, Christian Zechert, Andreas Kämper: Kommunale Wohnungspolitik für psychisch kranke und suchtkranke Menschen     
Die Autorengruppe empfieht den Kommunen verschiedene Ansätze: "mobile, medizinisch-pflegerische Teams in den Großstädten", eine "kommunalen Koordination und Planung der Hilfen", (S. 161), die "Kooperation und Vernetzung von Diensten in der sozial-psychiatrischen und psychosozialen Versorgung, der Obdachlosenhilfe und der kommunalen Institutionen" (S. 163), neue Ansätze von "Zuverdienstprojekten", "Beschäftigungsinitiativen und Wohnungsbaugesellschaften" bis hin zu der "Idee der Mitarbeit bei der Renovierung oder sogar dem Neubau (Lehmhäuser) von Wohnraum" (S. 164; hört, hört!). Nicht vergessen wurden "materielle existenzsichernde Hilfen, medizinisch-psychiatrische Hilfen und therapeutisch-psychosoziale Hilfen" bis hin zum "Case-Management" S. 165), denn: Der Klient "braucht eine per Hilfeplan ausgewiesene Perspektive und eine in seinem Sozialraum koordinierte Unterstützung" (S. 166). Dazu erinnern wir den Kommentar eines guten Bekannten: Einen Penner mit Hilfen zu umstellen ist auch eine Form der Vertreibung.

Klaus Nouvertnè: Neue Perspektiven    
Den einzelnen Argumenten von Klaus Nouvertne als Resume der vorangegangenen Beiträge wird auf den ersten Blick kaum zu widersprechen sein. Etwa der Hinweis, dass nicht neue spezialisierte Einrichtungen gebraucht werden, sondern dass vielmehr eine Änderung der Arbeitskonzepte notwendig ist. Dass die Problemlagen quantitativ und qualitativ sorgfältig zu erfassen und zu beschreiben sind. Dass der Interessenkonflikt zwischen Hilfesystem und Nutzerinteresse zu berücksichtigen ist. Dass es um Menschen geht, und nicht um Institutionen. Dass zunächst eine Grundversorgung sicherzustellen ist. Dass der Wettbewerb auf dem Markt - Nouvertné schreibt vorsichtig von Konkurrenz- und Alternativangeboten - dazu führen könnte, dass bedarfsnahme Konzepte und Einrichtungen sich durchsetzen. Der zweite Blick mag ein anderer sein: Natürlich ist "der hohe therapeutische Anspruch vieler psychiatrischer Einrichtungen (...) mit ein Grund für die herrschende Ungleichheit von Überlebenschancen" (S. 176), gerade für arme und obdachlose Menschen. Aber ist die eingeforderte Hierarchisierung von Versorgungszielen - unten: Überleben sichern, oben: Möglichkeiten einer sinnerfüllten sozialen Existenz - vielleicht auch nicht anderes als die ideologische Festschreibung von Ungleichheit? Zuerst das naheliegende, und dann, vielleicht, die nächsten Schritte?     

Zielgruppen

Der Sammelband von Nouvertné, Wessel und Zechert richtet sich an Menschen, die sich mit dem Komplex Wohnungslosigkeit und Wohnungslosenhilfe, psychischen Erkrankungen und Psychiatrie, Sucht und Suchthilfe, Krankheit und Gesundheit armer, wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit betroffener oder bedrohter Menschen beschäftigen. Damit ist die Lektüre in-teressant für Menschen in Einrichtungen, Anstalten, Hilfeprojekten und Verbänden, aber auch für mit diesem Problemkreis in behördlichen Strukturen befassten Menschen und ebenso für Menschen, die mit den einschlägigen Studiengängen als Studierende oder Lehrende mit diesem Themen konfrontiert sind.

Zugleich offenbart dieser Band die Schwierigkeiten und Notwendigkeiten interdisziplinären Denkens und Handelns. So wie für Nichtmediziner und Nichtpsychiater eine Reihe von Begrifen nicht oder nur schwer verständlich sind, ist auch beispielsweise zu erwarten, dass Nichtsozialar-beiterInnen mit den Eigenheiten der Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes und hier insbe-sondere mit den Spezifika der §§ 39 und 72 ihre Mühe haben werden.

Insofern ist dieses Buch nur unter Vorbehalten für allgemein an dem Thema interessierte BürgerInnen zu empfehlen: Diese Materie zu studieren unter dem Gesichtspunkt von Diagnosen, Kostenträgern, fachlichen Zuständigkeiten, Problemclustern und Konzeptperspektiven, ist wahrlich ein dickes Brett.

Einschätzung

  • Die wohlmeinende Einschätzung: Dieses Buch ist notwendig, beschreibt es doch ein Desiderat, eine wichtige Handlungs- und Angebots-, aber auch Forschungslücke im psychosozialen Bereich. Zugleich ist dieses Buch ein Anachronismus, als daß im beginnenden 21. Jahrhundert das Thema Obdachlosigkeit in der öffentlichen Aufmerksamkeit längst abgelöst ist durch das Thema Globalisierung und der damit ausgelösten Fragestellungen. Nicht Obdachlosigkeit, sondern die allgemeine massenhafte Verarmung, ihre extremen subjektiven Verarbeitungsformen und die institutionellen Antworten darauf könnten so in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Dass viele an den Auswirkungen der Globalisierung irre gehen, könnte so ein inhaltlich verbindendes Element sein. Insofern ist das Buch lesenswert, nicht allein nur für Menschen, die an der Wohnungslosenhilfe oder an der Psychiatrie interessiert sind. 
     
  • Eine pragmatische Einschätzung: Viele obdachlose Menschen leiden unter schweren psychischen Beeinträchtigungen. Viele Menschen mit psychischen Schwierigkeiten werden obdachlos. Das Hilfesystem reagiert darauf nur unbeholfen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Obdachlosenhilfe können nur bedingt mit psychisch Kranken umgehen. Die psychiatrische Versorgung berücksichtigt in den Behandlungsplänen zu wenig das fundamentale Problem der Obdachlosigkeit. Hier gilt es, neue Formen der Kooperation und – zumindest in Teilaspekten – neue strategische Ausrichtungen der Arbeit zu entwickeln. Hilfeeinrichtungen müssen sich stärker vernetzen und die Hilfen selbst müssen viel stärker auf die Bedarfslagen der Einzelnen eingehen und kommunal »therapiefreie« Räume anbieten.

  • Tatsächlich aber sind wir noch skeptischer: Aus neuesten Berliner Untersuchungen wissen wir: Die Erfolgsquote der sozialarbeiterischen Wohnungslosenhilfe im Rahmen der mit öffentlichen Geldern teuer finanzierten Hilfen nach §72 BSHG liegt bei gerade einmal 50 Prozent, wenn die wiedererlangte Wohnung als Erfolgskriterium gewählt wird. Nebenbei: Die "Integrationsleistung" unbetreuter Berliner Läusepensionen ist genauso groß (oder so klein). Die herkömmliche Obdachlosenhilfe hilft zu 100% den Helfern und zu 50% den Kunden.

  • Durchgängiger Subtext der Publikation: Psychisch kranke Menschen wollen oftmals diese Psychiatrie nicht, sie gehen ihr aus dem Weg, sie ziehen die Wohnungslosigkeit vor, sie sind Opfer oder Geschädigte dieser Psychiatrie, die ebenfalls mit öffentlichen Geldern teuer finanziert wird. Zugespitzt gesprochen: Nicht die psychisch kranken Obdachlosen sind das Problem, sondern krank sind vielmehr die Psychiatrie und die Obdachlosenhilfe. Werden diese Hilfen beseitigt, wird es den obdachlosen psychisch kranken besser gehen – so eine mögliche These.

Fazit

Wie gesagt, diese Publikation "Obdachlos und psychisch krank" erzeugt bei uns großes Unbehagen. Dieses Unbehagen bezieht sich auf das Buch selbst, aber sehr viel mehr auf die Realität, um die es geht. Was da auf den Ämtern, in den Kliniken und Einrichtungen passiert, ist vielfach irre und unheimlich. Den Menschen, obdachlos und irre, geht es nicht unbedingt besser damit, das ist augenscheinlich. Wie irre und wie obdachlos ist eigentlich die Gesellschaft, in der wir leben, wir alle? Sehen wir nicht eigentich uns selbst? Wie auch immer: Uns scheint ratsam, die obdachlosen Irren und die irren Obdachlosen selbst zu befragen und ihre Aussagen sehr ernst zu nehmen, weil niemand sonst kennt ihre Situation besser als sie selbst - nur dazu haben wir in "obdachlos und psychisch krank" beinahe nichts gefunden.

Unser toter obdachloser und irrer Kollege war in der Hinsicht viel direkter: "Ich gab euch Worte, mehr kann ich euch nicht geben. Kaderschmiede, warum habt ihr mich am Samstag, nach dem ich trotz meiner Verletzung zur Kaderschmiede ging und handelte klug, als Arbeiter wollte ich mit in einer Revolution helfen und bastelte fünf Stunden dort mit. Aber ich fragte, kann ich bei euch schlafen. Nur die im Haus sagten mir für Samstag, ich darf dort nicht bleiben. Vielleicht bin ich einfach zu leise und schon zu entsetzt gewesen."

Rezensenten

Stefan Schneider und Kerstin Herbst

Informationen zu den Rezensentinnen

Dr. Kerstin Herbst und Dr. Stefan Schneider arbeiten ehrenamtlich bei mob - obdachlose ma-chen mobil e.V., Dr. Stefan Schneider im geschäftsführenden Vorstand, Dr. Kerstin Herbst in der Redaktionsleitung vom "strassenfeger".

mob e.V. ist nicht nur Herausgeber der Obdachlosenzeitung "strassenfeger", der Berliner Verein betreibt darüber hinaus eine ganzjährig geöffnete Notübernachtung mit getrennter Unterbringung für Männer und Frauen, einen ebenfalls ganzjährig geöffneten Treffpunkt Kaffee Bankrott für VerkäuferInnen, Obdachlose, Arme und NachbarInnen, ein Trödelprojekt und ein eigenes Selbsthilfewohnhaus.
Der Verein versteht sich als eine Institution sozialer Selbsthilfe, die ohne öffentliche Zuwendung eigenverantwortlich und wirtschaftlich unabhängig agiert.

Nähere Informationen unter sowie Kontakt zu den AutorInnen unter
www.strasssenfeger.org
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http://www.socialnet.de/rezensionen/496.php

Kerstin Herbst/Stefan Schneider. Rezension vom 30.06.2003 zu: Klaus Nouvertné, Theo Wessel, Christian Zechert (Hrsg.): Obdachlos und psychisch krank. Psychiatrie Verlag (Bonn) 2002. 220 Seiten. ISBN 3-88414-268-2. In: socialnet Rezensionen unter http://www.socialnet.de/rezensionen/496.php, Datum des Zugriffs

Solidarische Hinweise

Countdown

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