Einige Bemerkungen zum Thema Wohnungslosigkeit
Klischee. Wir glauben, über Wohnungslosigkeit schon alles zu wissen oder doch das Wichtigste: Dass es Menschen sind, die irgendwie „abgerutscht“ sind, Männer zu meist, langzeitarbeitslos, schlecht qualifiziert, mit kaputten Beziehungen und immer schon suchtgefährdet, und dann konnte auch die Wohnung nicht mehr bezahlt werden. Und jetzt sitzen sie da, auf der Straße, und mit dem Mut der Verzweifelung trinken sie Bier um Bier oder Härteres, betteln mehr oder weniger aufdringlich, sind ungepflegt und stinken schlimmstenfalls. Ist das so?
Realität und Gesellschaft. Nur eine kleine Minderheit aller Wohnungslosen ist so, und doch ist genau diese Vorstellung in den meisten Köpfen, und auch die Medien produzieren immer wieder dieses Bild, weil nur das in der Öffentlichkeit erkennbar wird. Aber das Problem Wohnungslosigkeit hat nicht der Mensch verursacht, der auf der Straße lebt, sondern eine Gesellschaft, die ihn erst wohnungslos macht.
Menschenrecht. Eine eigene Wohnung, die vertraglich gesichert ist und durchschnittlichen gesellschaftlichen Mindestansprüchen der jeweiligen Region genügt ist eines der wichtigsten menschlichen Grundrechte. In Artikel 25(1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) in Paris, heißt es: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet“
Rechtsdurchsetzung. Ein vergleichbares Recht auf der Ebene der Europäischen Union oder in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gibt es nicht. Das zentrale Gegenargument bei Verfassungsdiskussionen war immer: Gäbe es ein solches Recht, würden Leute es einklagen. Und dann müßte der Staat Wohnungen bereitstellen. Aber genau das ist von der politischen Mehrheit der EU und in Deutschland nicht gewollt. Wohnungslosigkeit ist also ein politisches Problem.
Praxis. Dass die Verankerung eines Rechts allein auch nicht ausreicht, zeigt ein Blick auf das den Artikel 28 der Berliner Verfassung: „Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum“, aber allein die letzte verfügbare Statistik für Berlin nennt eine Zahl von mehr als 6.000 Menschen, die Einrichtungen der sogenannten Wohnungslosenhilfe untergebracht sind, hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Menschen (wenigstens 2. – 4.000 Personen), die auf der Straße leben. Es muß also mehr getan werden.
Obdach- und wohnungslos. Ein Obdach (früher: Bleibe) ist eine Unterkunft, ein geschützter Platz, an dem Menschen wenigstens übernachten können. Wer also keine Wohnung mehr hat, könnte wenigstens in einem Obdach leben. Wohnungslosigkeit ist damit der weitergehende Begriff, er schließt die Obdachlosen – also in provisorischen Unterkünften untergebrachten - ebenso ein wie die Menschen, die ohne Dach über dem Kopf ganz auf der Straße (Parks, Baustellen, Dachböden, Kellern, Zügen usw.) leben und auch Menschen, die unangepasst als BauwagenbewohnerInnen, HausbesetzerInnen oder auf Hausbooten leben. Auch Hotel- und PensionsbewohnerInnen, Häftlinge, Heimeinsassen sind häufig wohnungslos.
Freiwilligkeit. Eine winzige Minderheit kann es sich finanziell leisten, ohne Wohnung zu leben. Udo Lindenberg, seit 30 Jahren in Hotels wohnend, kann hier beispielhaft angeführt werden. Die übergroße Mehrheit lebt unfreiwillig in diesen Verhältnissen. Weil aber auch niemand dazu gezwungen werden, in einer Wohnung zu wohnen, und unkonventionelle Lebens- und Wohnformen oft diskriminiert, vertrieben oder sogar verboten werden, erscheint es manchmal so, als wären Menschen freiwillig auf der Straße.
Kehrseite der Leistungsgesellschaft. Sich eine eigene Wohnung oder eine anderweitige selbstbestimme Lebens- oder Wohnform nicht leisten zu können und deshalb unfreiwillig wohnungslos zu werden, ist deshalb in Kern eine der extremsten Kehrseiten einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, in der es darauf ankommt, seine Arbeitskraft meistbietend zu Markte zu tragen und mit dem Entgeld die Kosten für ihren Erhalt – etwa durch die Anmietung einer Wohnung - ebenfalls unter Marktbedingungen zu bestreiten. Wer dies nicht schafft, ist auf Transfereinkommen wie ALG II oder Sozialhilfe angewiesen, Geldmengen, die kaum mehr als ein Überleben in Armut sichern und wo die Angst um den Erhalt der Ware Wohnung schon vorprogrammiert ist. Die Ware Lohnarbeit ist also genauso knapp wie die Ware preisgünstiger Wohnraum (genau deshalb stehen in Berlin so viele Wohnungen leer: Weil sich das keiner leisten kann oder will!), und das in einer Gesellschaft, die immer noch mehr Reichtum und Überfluß erzeugt.
Abschied des Sozialstaats. Statt Wohnungen finanziert der Staat Unterkünfte in Obdachloseneinrichtungen. Es gibt Menschen, die leben seit Jahrzehnten in diesen oft verrufenen Unterkünften. Noch mehr Geld wird den Wohlfahrtskonzernen gezahlt, um mit einigen Wohnungslosen wieder das Wohnen zu üben. Erfolgs- und Leistungsstatistiken dazu gibt es nicht. Aber erfolgreich die Wohnungslosigkeit zu bekämpfen, ist auch kein zentrales politisches Ziel mehr. Bestände von kommunalen Wohnungen, sozialer Wohnungsbau und Sonderförderungsprogramme für selbstbestimmte Wohnformen sind so gut wie abgeschafft.
Wohnungslose heute. Das sind zu einem Drittel Frauen, zu einem weiteren Drittel Migranten, sowie weiter Straßenjugendliche und junge Erwachsene, psychisch Kranke, Arbeitsssuchende und Arbeitsunfähige, Krankenhausentlassene, Sinti und Roma, Durchreisende, Studierende, Haftentlassene, gescheiterte Selbständige, Süchtige, Flüchtlinge, Menschen ohne Papiere, neue Wanderarbeiter, ... und so weiter. Den wenigsten ist anzusehen, dass sie wohnungslos sind.
Fazit. Wohnungslose Menschen mit dem nötigsten zu versorgen, was sie zum überleben brauchen, ist wichtig und notwendig. Um aber dauerhaft Wohnungslosigkeit zu beenden, ist es notwendig, das Recht auf Wohnen als Menschenrecht durchzusetzen. Und das ist eine politische Angelegenheit, um die sich gegenwärtig kaum jemand kümmert. Nicht die Wohnungslosen sind das Problem, sondern eine Gesellschaft, die Wohnungslosigkeit erst verursacht.
Stefan Schneider
(Schneider, Stefan: Wohnst Du noch oder lebst zu schon? Einige Bemerkungen zum Thema Wohnungslosigkeit. In: strassenfeger 01/2008, S. 3f.)