Schneider, Stefan

Willkommen in Europa! Oder: wer verkauft den Straßenfeger?

Replik auf eine Anfrage der KONTRASTE - Redaktion

An wen richten sich die Straßenzeitungen, wer soll davon profitieren und vor allem, wer darf diese Zeitungen verkaufen und kann daran verdienen? Anfang Mai erreichte die Redaktion vom Straßenfeger eine Anfrage von der ARD-Sendung KONTRASTE dazu. Tenor der Anfrage und der insgesamt 20 Fragen dazu war die Beobachtung, dass Menschen nichtdeutscher Herkunft in letzter Zeit verstärkt die Straßenzeitungen verkaufen würden.

(siehe auch: strassenfeger, Ausgabe 11/2008, Seite 11f)

Der Redakteur schreibt:

Sie sind einem Gespräch ggü. unaufgeschlossen bzw. der deutschen Sprache nicht mächtig und können über den Inhalt ihrer Zeitung, ihre näheren Lebensumstände oder über angestrebte Hilfsprojekte nichts angeben. Oft würde der Verkauf der Straßenzeitung gar nicht versucht, behauptet, man verfüge nur noch über das „letzte„ Exemplar, begleitet mit dem Versuch offensiver Bettelei.

Die hier geschilderten Probleme sind so alt wie der Straßenzeitungen selbst. Es gibt immer wieder Verkaufende, die einem Gespräch aus dem Weg gehen, die über die Zeitung so gut wie nichts wissen, die einigen Unfug über die angeblich aus den Einnahmen finanzierten Projekte erzählen und die tatsächlich neben dem Zeitungsverkauf auch noch mehr oder weniger aufdringlich betteln – obwohl die Verkaufsregeln, die von allen erstmal vorab zu akzeptieren und zu unterschreiben sind, dies und ähnliche Verhaltensweisen (Belästigung von Kunden, Gewalt, berauschter Zustand) die ausdrücklich ausschließen.

Da es im Grunde nicht möglich ist, durch Kontrollen in einer Millionenstadt solche Verhaltensmuster zu unterbinden – es ist auch nicht wirklich schwer, Sanktionen wie Verkaufsperren zu unterlaufen – und der Herausgeber repressive Maßnahmen nicht gut heißt, kann das Mittel der Wahl nur sein, positiv an jeden einzelnen Verkaufenden zu appellieren, dass letztlich nur freundliches Auftreten langfristige Erfolge bringen kann. Eine tägliche Herausforderung für die MitarbeiterInnen an den Zeitungsausgabestellen.

Für viele Menschen in existentiellen Notlagen ist der Verkauf von Zeitungen oftmals das letzte Mittel, um überhaupt Überleben zu können. Staatliche Hilfeleistungen können aus einer großen Zahl an tatsächlichen Hindernissen oder persönlichen Ängsten nicht in Anspruch genommen werden, und zu der Wohnungsnot kommen oftmals eine Reihe weiterer großer Schwierigkeiten wie Sucht, Schulden, psychische oder gesundheitliche Probleme. Auf der anderen Seite ist der Verkauf von Zeitungen keine einfache Arbeit, und deshalb ist der Verein mob e.V. immer davon ausgegangen, dass eine tatsächliche Notlage auch gegeben ist, wenn Menschen sich zu Zeitungsverkauf melden. Und dem entsprechen auch die langjährigen Erfahrungen, die der Verein mob – obdachlose machen mobil hat sammeln können: Die Spanne der Motivation, eine Zeitung zu verkaufen, beginnt bei dem puren Kampf um das Überleben in der großen Metropole und endet irgendwo dort, wo arme Menschen ihre Lebenssituation haben stabilisieren können, und sich im Rahmen der von den JobCentern gestatteten Freibeträge einen Zuverdienst durch Zeitungsverkauf organisieren.

Die vielen Menschen, die durch den Verkauf der Straßenzeitung eben nicht zu den Mitteln der Beschaffungskriminalität oder Beschaffungsprostitution haben greifen müssen, die vielen Menschen, die durch die Mitarbeit beim strassenfeger tatsächlich ihre Lebenssituation deutlich haben verbessern können (nicht umsonst gibt es zusätzlich bei mob – obdachlose machen mobil e.V. auch noch eine Notübernachtung, einen Treffpunkt Kaffee Bankrott, eine kostenlose und freiwillige Rechts- und Sozialberatung einmal wöchentlich und weiteres mehr), die ungezählten Menschen, die davon haben profitierren können, heben sogenannten negativen Begleiterscheinungen – die in der Regel Einzelfälle sind - deutlich auf.

Der Redakteur von KONTRASTE schreibt weiter – mit Blick auf die nichtdeutschen Verkaufenden: 

Wenn diese Beobachtungen zutreffen, könnte dies den sozialen Wert der Straßenzeitungsprojekte, konkrete Hilfe für Obdachlose und ihre Projekte, und die öffentliche Akzeptanz dieser Bemühungen schädigen.

Genau das Gegenteil ist zutreffend. Wohnungsnot und Armut waren schon immer ein gesellschaftliches Problem, dass vor Grenzen nicht halt gemacht hat, und von Anfang an waren Menschen nichtdeutscher Herkunft beim strassenfeger selbstverständlich dabei. Im Verlauf der Zeit hat es dazu immer wieder Diskussionen gegeben, und nicht immer war die Integration einfach und unproblematisch. Zu der Sprachbarriere kommen soziale und kulturelle Unterschiede. Auch das vielfach zu beobachtende Phänomen, in einer fremden Umgebung in Gruppen aufzutreten, wirkt auf andere vielfach befremdlich.

Um dem zu begegnen, gibt es einige Instrumente. Das wichtigste ist wohl, die anderen nicht als Gefährdung, sondern als Bereicherung zu verstehen. Eine prinzipielle Offenheit in Verbindung mit dem Angebot, sich verständlich zu machen (Verkaufsregeln gibt es in englisch, französisch, polnisch, russisch, rumänisch) und zu verstehen (Förderung der interkulturellen Kompetenzen innerhalb des Projekts, Pflege und Förderung internationaler Kontakte) ist die Voraussetzung dafür, einen Kontakt herstellen zu können. Und erst auf der Grundlage bestehender Kontakte ist es überhaupt möglich, die anderen auch kritisieren zu können, statt sie pauschal und im Grundsatz zu verurteilen. Dass es auf diesem Gebiet noch viel zu tun gibt und daß der Verein mob e.V. und strassenfeger – wie auch andere Angebote und Einrichtungen der Hilfe und Selbsthilfe für Wohnungslose und Arme - hierbei noch weitere Unterstützung braucht, wird auch gar nicht bestritten.

Ja, auch KONTRASTE hat gemerkt, dass Europa inzwischen größer geworden ist und die Welt insgesamt kleiner. Wenn einige Menschen aus dem armen Osteuropa und anderen Staaten nach Berlin kommen, um es hier zu versuchen, dann oftmals deshalb, weil sie in ihrem Herkunftsland keine Perspektive und keine Chance mehr sehen. Viele wollen gar nicht in Berlin bleiben, sondern sind hier auf einer Durchgangsstation zu Orten in Europa, wo die Jobs und Verdienstmöglichkeiten aussichtsreicher erscheinen. Wieder andere bleiben hier hängen, weil sie die erforderliche Unterstützung für ihre Pläne nicht finden können. Die Menschen machen dann das, was naheliegend ist: Sie suchen nach (legalen) Möglichkeiten, sich aus eigener Kraft helfen zu können. Der Verkauf einer Straßenzeitung ist eine davon. Insofern wäre es gleichsam sträflich, wenn eine Straßenzeitung, die ja eine Überlebenshilfe darstellen soll, einer Gruppe von Menschen dieses verweigern würde. Mit anderen Worten, der „soziale Wert“ der Straßenzeitung besteht gerade darin, daß auch Menschen aus anderen Ländern diese Zeitung verkaufen und auch die anderen Angebote (Notübernachtung, Treffpunkt und Beratung usw.) nutzen können 

Wir sehen in dem Phänomen, dass auch die armen und wohnungslosen Menschen in Berlin immer internationaler werden, die Kehrseite einer europäischen Entwicklung, die nicht so sozial ist, wie sie eigentlich sein sollte. Es gilt, in ganz Europa ein einheitliches Niveau der Unterstützung von Menschen in Notlagen zu entwickeln und soziale Mindeststandards festzulegen. Gegen dieses Ansinnen, das von vielen Organisationen vorgetragen wird, haben sich der Europarat, die Europäische Kommission und auch Teile des Europaparlaments immer wieder gesperrt, aber die Erfahrungen zeigen die Notwendigkeit, auch ein soziales Europa mit einem Grundrecht auf Wohnen und einer auskömmlichen Grundsicherung zu entwickeln.

Ziel des Vereins mob e.V. und des strassenfegers ist die „Verbesserung der Lebenslage Obdachloser und von Obdachlosigkeit bedrohter Menschen“. Dieses Ziel kann ernsthaft kann nur unabhängig von Herkunft und Nationalität ernsthaft verfolgt werden. Die Redaktion des ARD Magazins KONTRASTE ist herzlich eingeladen, die vielen Fragen, die es dazu gibt, zusammen mit der Redaktion vom strassenfeger diskutieren. Wir hoffen, damit dem Anliegen der KONTRASTE – Redaktion auf eine konstruktive Zusammenarbeit zu entsprechen und sind natürlich offen für weitere Beiträge zu diesem Thema.

Stefan Schneider


ARD Magazin KONTRASTE
Rundfunk Berlin Brandenburg
Masurenallee 8 – 14
14057 Berlin


Sehr geehrte Damen und Herren,


Zuschauer(innen) des ARD Magazins KONTRASTE haben sich in letzter Zeit mit folgender Beobachtung an die Redaktion gewandt:


Die Verkäuferszene verschiedener Straßenzeitungen im Bundesgebiet habe sich augenfällig verändert. Während sich früher offensichtlich bedürftige Obdachlose an das Straßenpublikum richteten, treten heute Verkäufer vermehrt nichtdeutscher Herkunft auf. Sie sind einem Gespräch ggü. unaufgeschlossen bzw. der deutschen Sprache nicht mächtig und können über den Inhalt ihrer Zeitung, ihre näheren Lebensumstände oder über angestrebte Hilfsprojekte nichts angeben. Oft würde der Verkauf der Straßenzeitung gar nicht versucht, behauptet, man verfüge nur noch über das „letzte„ Exemplar, begleitet mit dem Versuch offensiver Bettelei.


Wenn diese Beobachtungen zutreffen, könnte dies den sozialen Wert der Straßenzeitungsprojekte, konkrete Hilfe für Obdachlose und ihre Projekte, und die öffentliche Akzeptanz dieser Bemühungen schädigen. KONTRASTE möchte also in einer der kommenden Sendungen dieser Frage nachgehen und bittet Sie um entsprechende Mithilfe. Da sorgfältige Recherche für unsere Redaktion Priorität hat, möchte ich Sie freundlichst bitten, uns folgende Fragen schriftlich ( per email ) oder mündlich – telefonisch zu beantworten. Wir können dann in Zusammenarbeit mit Ihnen prüfen, in welcher Form und welchen Inhalts ein solcher Bericht gestaltet werden könnte. Um eine entsprechende Rückmeldung bitte ich Sie bis spätestens zum 14.Mai, da die wir eine mögliche Reportage zum 29. Mai planen. Selbstverständlich gibt es die Möglichkeit, Ihre Position zu diesem Thema in Form entsprechender Interviews deutlich zur Sprache zu bringen.


In Erwartung Ihrer Nachricht und in der Hoffnung auf konstruktive Zusammenarbeit


Axel Svehla
Redaktion KONTRASTE vom Rundfunk Berlin Brandenburg
Email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Tel.: 030 97993 22821


Fragen

  1. Wer ist berechtigt, die Straßenzeitung zu verkaufen?
  2. Sind die Abnehmer / späteren Verkäufer einem festen, bekannten Verkäuferstamm zuzuordnen oder kann auch jeder Fremde / Unbekannte die Zeitungen erhalten?
  3. Wie muß diese Berechtigung zur Abnahme der Zeitungen nachgewiesen werden?
  4. Wird ein Verkäuferausweis ausgegeben? Werden diese Ausweise kontrolliert? Wie leicht sind solche Ausweise zu fälschen? Sind Fälschungen aufgetaucht?
  5. Wird eine Verkaufs / Gewerbeerlaubnis vom zuständigen Ordnungs -/ Gewerbeamt verlangt?
  6. Werden die Zeitung gekauft, gegen Vorkasse abgegeben oder wie funktioniert der Finanzierungskreislauf?
  7. Haben die Verkäufer feste Verkaufs – ( Stammplätze )? Wer teilt die Verkaufsplätze zu und wie wird gewährleistet, dass die Verkäufer nicht in jeweils fremden Revieren wildern?
  8. Gibt es unter den Verkäufern einen Verdrängungswettbewerb ?
  9. Dürfen Verkäufer nebenbei auch betteln ?
  10. Sind Praktiken bekannt, wo der Verkauf der Straßenzeitung lediglich zum Vorwand der Bettelei genommen wird? Wenn ja, von wem ?
  11. Kann abgeschätzt werden, wie hoch der potentielle Gewinn für die Verkäufer beim Verkauf einer gesamten Auflage pro Monat wäre?
  12. Wie viele Verkäufer sind in Ihrem Verbreitungsgebiet aktiv?
  13. Können Sie beschreiben, ob in der Vergangenheit im Verbreitungsgebiet Ihrer Zeitung Versuche unternommen wurden, eingeführte Verkaufsstrukturen zu verändern und bewährte, berechtigte Verkäufer zu verdrängen?
  14. Von welchen Gruppen gehen diese Versuche aus? Gibt es ein entsprechendes System oder gezieltes Vorgehen, das solchen Versuchen zu Grunde liegt?
  15. Gab es in diesem Zusammenhang Konflikte und Auseinandersetzungen, wie wurden diese gelöst?
  16. Welche Methoden wurden von solchen Gruppen / Einzelpersonen entwickelt, um am eigentlichen „ Geschäft „ beim Verkauf der Straßenzeitungen zu profitieren oder um andere Einnahmemöglichkeiten in diesem Zusammenhang zu etablieren ( Bettelei, Sammlung für erfundene Projekte wie Suppenküche, Notunterkünfte etc.pp ) ?
  17. Hat bereits eine spürbare Verdrängung traditioneller, bedürftiger Verkäufer durch neue, externe Verkäufer aus anderen ( evt. Süd – Ost europäischen ? ) Staaten stattgefunden?
  18. In welchem Maße sind Projekte der Obdachlosenhilfe durch diese Entwicklung konkret gefährdet oder bereits beschädigt worden?
  19. Wie hoch ist der materielle Schaden und der Imageverlust für das Projekt der Straßenzeitung durch diese Entwicklung ?
  20. Haben Sie Ordnungsämter / Gewerbeamt / Polizei über diese Entwicklung informiert und wie fielen die Reaktionen / Aktionen aus ?

Gerald Denkler, früherer Kollege von mir als Vorsitzender von mob e.V./strassenfeger und langjähriger Verkäufersprecher, schreib mir dazu:

Hallo Stefan,

ich habe soeben Dein sehr interessantes und aussagekräftiges Newsletter (Anmerkung: wurde auch als Newsletter versendet - St. Sch.) gelesen. Du könntest selbigen noch mit dem Hinweis ergänzen, dass wir als deutsche Obdachlose, oder sozialschwache Menschen auch in anderen europäischen Ländern immer herzlich eingeladen sind an den  Verdienstmöglichkeiten in den Nachbarsländern, welche für sozialschwache geboten werden Teilhaben dürfen, wenn wir dort stranden. Einige unserer Nachbarländer haben auch Obdachlosenmagazine, welche auch von Deutschen verkauft werden. Oder aber in dem "fremden" Land in die Suppenküche gehen. In Amsterdam z.B. gibt es am Waterlooplain eine christliche Einrichtung die von Nonnen geleitet wird. Du darst als Obdachloser zweimal in der Woche zu einer bestimmten Zeit und an zwei bestimmten Tagen in der Woche Duschen kommen und Deine Wäsche waschen, diese bekommst du auf deiner ID-Card eingetragen, welche du schon am ersten Tag bekommst. Bevor du aber duschen darfst mußt Du deine gesamte Wäsche zum waschen geben und bekommst ein Badetuch das Du dir umhängen kannst, und mußt dann erst Deinen Teller Suppe essen bevor Du duschen gehen darfst. Auf die Art versuchen die Nonnen den Obdachlosen zumindest an zwei Tagen in der Woche eine Strucktur geben.

Auf Mallorca habe ich Bettler in einer anderen Form Betteln sehen, sowie es bei uns hier gar net bekannt ist. Da malen sich die obdachlosen Mitmenschen in einer Farbe von Kopf bis Fuß an. Einer ganz in Grün, einer in Silber und einer hat sich so gekleidet und angemalt, daß er aussah wie Martin Luther. Jeder stand auf seinem Podest fast alle in der Nähe der Kathedrale in Palma Stadt, vor ihnen standen die Bettelschalen. Dafür das sie sich mit den Touristen haben sie eine Spende in ihre Bettelschale bekommen. Die Bettler dürfen weder Schilder aufstellen noch einen Menschen ansprechen, aber antworten wenn sie selber angesprochen werden. da waren einige Deutsche mit dabei. Die mittlerweile Stadtbekannten wurden von den Polizisten per Handgruß gegrüßt.

Und da stört sich doch auch keiner daran dass der Bettler in dem Land unter Umständen Ausländer ist. Wann werden wir endlich als Europa zusammen wachsen?

Du kannst meinen text auch als Leserbrief verwenden wenn du möchtest.

Gruß Gerald

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