Schlafende in Budapest 2007 - Foto: Stefan Schneider Stefan Schneider: Über die Verpflichtung zur Unterbringung durch kommunale  ordnungsrechtliche Maßnahmen. Berlin 2010

Eine Rezension zu Ruder, Karl-Heinz/ Bätge, Frank: Obdachlosigkeit - Sozial- und ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Vermeidung und Beseitigung: Praxishandbuch mit Online – Forum. Carl Link Verlag 2008, 274 Seiten. (Reihe Fachwissen Sicherheitsrecht in Bayern, Hg. Von Christian Ude) EUR 49,00 - ISBN 978-3-556-01158-4

Maßnahmen zur Vermeidung und Beseitigung von Obdachlosigkeit sind das Thema dieses Buches, allerdings aus polizei- und ordnungsrechtlicher Perspektive. Das ist insofern ungewöhnlich, weil in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in der fachlichen sozialwissenschaftlichen Reflexion in erster Linie an sozialarbeiterische bzw. sozialpädagogische Hilfen – insbesondere nach §§ 67ff SGB XII, also "Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten" – gedacht wird. Dabei ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wohnungslosen auf ordnungsrechtlicher Grundlage untergebracht. Das Buch selbst ist weder besonders gut noch besonders schlecht, aber der Gegenstand bedarf einer systematischer Bemerkungen.

Die Publikation ist 2008 erschienen in der neu aufgelegten Reihe "Fachwissen Sicherheitsrecht in Bayern" beim Carl Link Verlag, der zum Verlagskonzern Wolters Kluwer mit Sitz im Amsterdam gehört. Als Herausgeber dieser Reihe zeichnet Christian Ude verantwortlich, langjähriger Oberbürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt München und Präsident des Deutschen Städtetages. Im Jahr 1990 hat Ude den – auch im der Wohnungslosenhilfe viel beachteten - Sammelband "Wege aus der Wohnungsnot" im Piper Verlag München herausgebracht. Der Autor Karl-Heinz Ruder war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2009 Stadtrechtsdirektor der baden-württembergischen Stadt Emmendingen und nebenberuflich Dozent an Fachhochschulen und Studieninstituten. Der Autor Frank Bätge ist Professor an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen am Studienort Köln und dort zuständig für den Arbeitsbereich Kommunaler Verwaltungsdienst und Rechtswissenschaften.

1. Hintergrund

Waren die ersten Jahre nach der friedlichen Revolution 1989 und der darauf folgenden Deutschen Einheit davon geprägt, dass Wohnungsnot und seine gesellschaftlichen Ursachen breit diskutiert wurden, so rückt der neoliberale Diskurs spätestens seit den nuller Jahren unter anderem den Aspekt von Obdachlosigkeit als Störung der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung in dem Mittelpunkt. "Maßnahmen zur Vermeidung und Beseitigung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit gehören nach wie vor zum Alltag der zuständigen Sozialleistungsträger und der Gemeinden." (aus dem Verlagskatalog). Dem gehen eine Reihe von Gesetzesnovellen und neuerer Rechtsprechungen voraus, die eine eigene Publikation zu diesem Themenfeld plausibel machen. Nicht zufällig setzt der Verlag Wolters Kluwer Deutschland mit dem Slogan "Rechtssicher entscheiden!" hier einen Schwerpunkt seiner publizistischen Tätigkeit.

2. Aufbau

Etwas ungewöhnlich im Aufbau folgt nach dem Vorwort zunächst ein Hinweis auf das im Zusammenhang mit dieser Publikation eingerichtete geschlossene Fachforum in Internet, und nach dem Inhalts- und dem Abkürzungsverzeichnis folgt – ebenfalls untypisch – das Literaturverzeichnis und eine Übersicht "über die amtlichen Empfehlungen einzelner Bundesländer zur Vermeidung/ Beseitigung von Obdachlosigkeit. Erst nach diesen einleitenden 39 (!) Seiten beginnt das Buch mit der Zählung der Seite eins.
Die folgenden 275 Seiten bestehen aus 17 Kapiteln und einem abschließenden Stichwortverzeichnis. Von diesen siebzehn Kapiteln sind sechs ausgesprochen kurz (z.B. Obdachlosigkeit als drängendes soziales Problem unserer Zeit; Bedeutung der sozialrechtlichen Prävention; Kommunale Wohnungspolitik; Mitwirkungspflichten des Hilfesuchenden; Ansprüche auf Kostenersatz) und eines besteht nur aus einer Seite (Kommunale Jugend- und Familienpolitik).
Die eigentlichen Schwerpunkte liegen in Themen mit weitgehend rechtlicher Natur (z.B. Die Einweisungsverfügung; Die Räumungsverfügung; Die Sicherstellung/ Beschlagnahme; Sozialrechtliche Maßnahmen).
In 587 Fußnoten werden weiterführende Hinweise und vor allem Belege zu Urteilen aufgeführt. Beispiele und Praxistipps sind in grau hinterlegten Kästen besonders hervorgehoben.

3. Hintergründe kommunaler Ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Unterbringung Obdachloser

Zusammen mit dem Entstehen von modernen staatlichen Strukturen setzt ein Interesse von Verwaltung und Polizei ein, sich der Menschen innerhalb des Herrschaftsbereichs zu bemächtigen. In Form von Personaldokumenten und -verzeichnissen und dem Aufbau von Meldestellen werden Kontrollinstrumente eingeführt oder modern restrukturiert. Zielloses Umherwandern, Wanderarbeit, Nichtsesshaftigkeit, kurzum: die verschiedenen Arten nomadischer Existenz gerieten in Verdacht und wurden diskreditiert. In gewisser Weise ist das Ordnungsrecht ein Relikt dieser teilweise Jahrhunderte alten Prozesse der Repression, und noch wird immer (unfreiwillige) Obdachlosigkeit als eine Gefahr und eine Störung der öffentlichen Ordnung angesehen. Und genau hieraus begründet sich die Zuständigkeit des polizeilichen und ordnungsbehördlichen Eingriffes: Um die Ordnungsstörung abzuwenden, aufzuheben. Das passiert durch die Einweisung in bereitgestellte kommunale Unterkünfte. Das ist rechtlich weit entfernt vom vertraglichen Status, den etwa ein Wohn- oder Hauseigentümer oder ein Mieter besitzt, und auch der gebotene Standard ist weit von dem entfernt, was heutzutage in Zentraleuropa durchschnittlich in einer Wohnung zu erwarten ist – sowohl in Bezug auf die Größe als auch in Bezug auf die Ausstattung. Nicht wenige Wohnungslose verbringen Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens in solchen Einrichtungen, abgestellt auf einem gesellschaftlichen Nebengleis. So entsteht ein Phänomen mit dem Namen Obdachlosigkeit. Das Buch beschreibt die formalen rechtlichen Grundlagen und die verwaltungsmässigen Umsetzungsverfahren dieses Systems.
Die moderne Soziale Arbeit mit ihren Hilfen zur Überwindung besonderer Lebenslagen (vormals: Nichtsesshaftenhilfe, jetzt: Wohnungslosenhilfe) tritt historisch erst später hinzu, und kostet auch mehr. Konzepte des betreuten Wohnens können ihr Versprechen der gelingenden Integration – nach einer kurzen Phase der Blüte in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts - immer weniger einlösen, weil weder die Gemeinwesen, noch der Arbeitsmarkt für Menschen von der Straße ernsthaft durchlässig sind. Insofern ist innerhalb des"Handlungsvierecks Vertreiben – Unterbringen - Integrieren – Ignorieren" die Verbringung von Menschen durch Ordnungsbehörden eine von vier möglichen Politiken im Umgang mit Wohnungslosigkeit. De facto existieren sie alle parallel zueinander, bedingen sich wechselseitig und sind, je nach gesellschaftspolitischer Konstellation, unterschiedlich präsent und dominant bzw. marginal und untergeordnet.
Die gegenwärtige Debatte um das Problem der Wohnungslosigkeit blendet das gesellschaftliche Moment aus und ist überformt durch neoliberale Konzeptionen des individuellen Scheiterns der Einzelpersonen und der daraus resultierenden Begründung karitativer Basisversorgung in Verbindung mit individuell optimierter Kontrolle genannt Aktivierung. Weil aber im Zuge fortschreitender sozialer Ungerechtigkeiten die sozialarbeiterische Perspektive der Integration nicht mehr funktioniert und Vertreibung aus zunehmend privat angeeignetem öffentlichem Raum nur in Teilen Wirkung zeigt, erhält in der Tat die polizei- und ordnungsrechtliche Einweisung und Unterbringung im städtischen oder ländlichen Niemandsland eine stärkere Bedeutung – weil andere Perspektiven, wie etwa die des sozialen Wohnungsbaus oder kommunaler Wohnbestände nicht mehr diskutiert werden oder schlichtweg nicht mehr existieren.
Die vorliegende Publikation "stellt für das gesamte Bundesgebiet systematisch die sicherheits-, polizei- und ordnungsrechtliche Unterbringung von Obdachlosen unter Einbeziehung des Sozialrechts dar. Unter Heranziehung der aktuellen Rechtsprechung und Literatur wird dem Leser ein umfassender, für alle Bundesländer rechtsverbindlicher Überblick über das komplexe Rechtsgebiet gegeben. Mit zahlreichen Praxishinweisen, Beispielen und Musterverfügungen werden dem Praktiker, gleichgültig ob bei einer Ordnungsbehörde, beim Sozialhilfeträger, bei der Gemeindeverwaltung, in einer Zentralen Fachstelle für Wohnhilfen oder bei einer karitativen Einrichtung beschäftigt, konkrete Handlungs- und Lösungsvorschläge unterbreitet" (Verlagstext).
Dem entspricht auch Sprache und Duktus der Publikation, bei dem umfassend alle Aspekte und Dimensionen, Voraussetzungen und Bestandteile des Verwaltungshandelns abgearbeitet werden. Das ist mühevoll zu lesen und für Aussenstehende noch mühevoller zu verstehen. Bezug wird genommen auf Rechtskommentare, Ausführungs- und Verwaltungsvorschriften, Gesetzestexte und Gerichtsurteile. Begriffe werden erklärt, Optionen dargestellt und an Beispielen erläutert, übliche Schritte des Verfahrens werden dargestellt und kommentiert, Ermessensspielräume aufgezeigt und erörtert. Kein Lese-, sondern ein Arbeitsbuch, das durchgearbeitet, aber auch sukzessive anhand des Stichwortverzeichnisses und den weiterführenden Materialien für Bedarfsfälle erschlossen werden kann.
Dass die Praxis der ordnungsrechtlichen Unterbringung schwerwiegend zu kritisieren ist und auch fachöffentlich kritisiert wird, darf den Autoren nicht angelastet werden. Und fairerweise ist auch festzuhalten, dass es ein Stück demokratischen Erfolges ist, wenigstens einen Rechtsanspruch auf Obdach und den Einzelheiten seiner Ausgestaltung erheben zu können – schon an den Rändern Europas wäre dies ein wünschens- und begehrenswertes Gut. Insofern leistet das Buch einen Beitrag dazu, auf dem Hintergrund der gegenwärtig bestehenden rechtlichen Bedingungen hierfür Spielräume auszuloten. Die Autoren geben sich redlich Mühe, die Sachverhalte systematisch zu ordnen, die aktuelle Rechtsprechung abzuklopfen auf denkbar verwaltungsrechtliche Spielräume, Schwachstellen und Gefahren, und Hinweise zu geben für eine möglichst rechtssichere Umsetzung in der Praxis und gegenüber den Betroffenen. Ja, und sie bemühen sich auch darum, den Stoff für eine interessierte Fachöffentlichhalbwegs verständlich darstellen. Einige Rechtschreibfehler und missverständliche Aussagen zeigen, dass der Verlag etwas sorgfältiger lektorieren könnte.
Das Online-Forum (http://forum-bayern.ordnungsrecht-direkt.de) "gewährleistet den Gedankenaustausch der Praktiker untereinander und wird von den Verfassern mit betreut. Dort stehen auch die im Buch abgedruckten Muster, weitere Musterbescheide und Gesetzestexte zum Download bereit. Anregungen und auch kritische Anmerkungen aus dem Kreis der Nutzer werden auf diesem Wege gerne entgegengenommen und könnten in einer späteren Neuauflage des Werkes berücksichtigt werden." (Buchklappentext)

Ob das mit dem Praxishandbuch angepriesene Forum seinen Zweck erfüllt und seine Versprechen einlöst, kann nicht beurteilt werden, denn das Forum ist explizit nicht öffentlich. "Zugelassen im Forum werden ausschließlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ordnungs- bzw. Sicherheitsbehörden im weitesten Sinne und von entsprechenden Fachabteilungen der Bundes - und Landesbehörden. Anmeldungen behördenfremder Personen werden nicht freigeschalten." (Quelle: http://forum-bayern.ordnungsrecht-direkt.de/profile.php?mode=register -  Abruf vom 07.03.2010). Die immerhin 17 dort angezeigten Beiträge zu insgesamt sieben Themen deuten auf keine sehr umfangreiche Forumsdebatte hin, aber immerhin erfolgte der letzte Eintrag am 19.02.2010 (Quelle: http://forum-bayern.ordnungsrecht-direkt.de – Abruf vom 07.03.2010).

4. Fazit

Wer sich eingehender mit behördlichen Unterbringungsverpflichtungen in Bezug auf Obdachlose befassen will oder muss, findet hier für 49,00 € eine gute Zusammenstellung der wichtigsten Informationen, Regelungen und gesetzlichen Grundlagen, die auf anderen Wegen nur mühevoll zu beschaffen wären. In diesem Fall ist auch eine Anschaffung der nicht geraden preisgünstigen Literatur  interessant. Damit kommen Juristen sowie Mitarbeitende aus dem Verwaltungs- und Polizeidienst als potentielle KäuferInnen in Frage. Für Menschen, die sich in sozialwissenschaftlicher oder sozialarbeiterischer Perspektive mit dem Thema Wohnungslosenhilfe befassen wollen, ist dieses Werk nur dann zu empfehlen, wenn der Aspekt der ordnungsrechtlichen Unterbringung explizit vertieft werden soll. Dann allerdings lohnt die Lektüre. Für eine kritische Beurteilung autoritärer rechtsstaatlicher Praxis von In- und Exklusion ist die Publikation auf jeden Fall eine zeitgemäße Fundgrube.

Stefan Schneider

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