stayathome strassenblues foto david diwiakMitschnitt der Veranstaltung „Bleiben sie zuhause? Wohnungslosigkeit in der Corona-Krise“

Stefan Schneider, veröffentlicht in: Hanloser, Nowak, Seeck (Hg): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. München AG SPAK, 2021, S. 93-97.

Was mich an der Einladung interessiert hat, war das Stichwort linke Kritikfähigkeit bzw. genauer linke Kritikunfähigkeit im Zusammenhang mit dem großen Thema Wohnungslosigkeit: Wenn ich mir das so angucke, sowohl bei der parlamentarischen Linken, nicht nur bei der Partei Die Linke, sondern bei Anderen, die sich im Spektrum der Parteien als links verstehen, sehe ich eine sehr erhebliche Kritikunfähigkeit oder eine Verständnislosigkeit. Bei der außerparlamentarischen Linken ist es meines Erachtens nicht ganz so schlimm, aber ebenfalls vorhanden. Das möchte ich an fünf Beispielen ansatzweise beleuchten.

Erstens. Wenn es kalt wird - und das war es im vergangenen Winter -, hat man überall gesehen, dass Menschen Plakate hoch halten: Wenn ihr einen Obdachlosen seht, dann ruft den Kältebus. Ruft den Kältebus! Erstaunlicherweise haben sich viele Menschen von den Linken so zu Wort geäußert. Das Bild, was dann erscheint, ist fatal. Es wird bedient, die obdachlosen Menschen wüssten nicht, was sie da tun. Es wird suggeriert, die Menschen sind hilflos, sie würden erfrieren usw. Was spätestens am Beispiel der Rummelsburger Bucht deutlich wurde, ist, dass die Menschen sehr wohl wissen, was sie da tun, wenn sie draußen sind und sich dort selbstbestimmt organisieren, was nicht bedeutet, dass das unproblematisch ist.

Die, die draußen sind, sagen ganz oft: „Ich will in diese beschissene Notübernachtung nicht. Diese Schikanen beim Einlaß. Diese Taschenkontrollen, diese Alkoholkontrollen. Dieses Anstellen müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dieses zwangsgemeinschaftliche Unterkommen in der Traglufthalle, wo hundert Menschen untergebracht werden.“ Das sind Punkte, wo Menschen sagen. „Bevor ich diesen Scheiß oder diesen Wahnsinn mitmache und mich in diese menschenunwürdige Situation begebe, bleibe ich lieber draußen!“

Es gibt unter den obdachlosen Menschen einige, die sind verpeilt und oder überfordert. Es ist letztendlich schon richtig, vor Ort solidarisch einen Tee organisieren und einen Schlafsack zur Verfügung zu stellen. Aber dieses Propagandainstrument Kältebus, „Ruft den Kältebus“ zu benutzen, zeigt, dass die Linke, die dazu aufruft, es nicht verstanden hat, oder sich nicht ordentlich mit der Problematik auseinandergesetzt hat. Denn, das hat der letzte Winter und das Corona-Jahr gezeigt, es gibt ganz andere Möglichkeiten. Beispielsweise die Stadtmission hat aufgerufen, bevor es kalt wurde, 3000 Schlafsäcke zu sammeln, um dann diese Maschinerie des Kältebusses und des Verteilens zu bedienen. Das Signal lautet: Ihr werdet obdachlos bleiben!

Man hätte genauso aufrufen und sagen können, wir brauchen 3000 leerstehende Wohnungen. Guckt euch mal um, wo welche sind! Guckt mal, ob ihr da reinkommen könnt! Guckt mal, welche gesetzlichen Möglichkeiten es gibt, mit einer Verpflichtungsermächtigung oder was auch immer, durchzusetzen: Du bist auf der Straße, du kannst in eine Wohnung reingehen!

Das finde ich krass, dass völlig dumm sich irgendwie links verstehende Politiker dieser Klischees bedienen. Diese Wohltätigkeit ist ein Geschäftsmodell der Stadtmission und anderer Akteure in der Wohnungslosenhilfe, mit der sie sehr viele Spenden einnehmen. Damit wird Obdachlosigkeit nicht beseitigt, damit inszenieren sich Menschen als Wohltäter. Das alles wird einfach kritiklos von Linken übernommen. Ansätze, wie man es anders machen könnte, tauchen so am Rande auf, wenn man anfängt, über andere, naheliegende Möglichkeiten nachzudenken.

Wir wissen inzwischen, dass es selbst in kleineren Einrichtungen der Hilfe für obdachlose Menschen Diskriminierungen gibt von Menschen, die anderer Herkunft sind oder eine andere Orientierung haben. Selbst Einrichtungen, von denen selbst ich bisher geglaubt habe, die sind positiv und setzen sich von Massennotunterkünften ab. Aber wir müssen feststellen: Nein, wenn man genauer hinguckt, ist es auch da intern schwierig.

Die einzige sinnvolle Lösung wäre zu sagen: Einzelunterbringung, Hotelunterbringung oder Unterbringung in Wohnungen. Das ist möglich. Linke, die etwas anderes erzählen oder propagieren, machen ihren Job nicht.

Der zweite Punkt macht sich fest an einer Online-Veranstaltung, die Ende März von Der Linken in Hamburg organisiert worden ist. Thema war Housing First, dann haben sie Professor Dr. Volker Busch-Geertsema von der GISS (Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung) in Bremen eingeladen, dazu eine Sozialarbeiterin aus Hamburg und MitarbeiterInnen vom Housing First Projekt in Berlin und haben das so beworben.

Ich habe dann auf dem twitter-account vom Wohnungslosentreffen gesagt: „Wieder mal ein Talk über wohnungslose Menschen und nicht mit ihnen!“ Was dann passierte, war total spannend. Eine Politikerin der Fraktion hat reagiert und vorgeschlagen, noch ein weiteres Gespräch mit „Betroffenen“ zu machen. Ich habe mir so gedacht: Statt das geplante Programm umzubauen und wohnungslose ExpertInnen auf dem Podium einzubeziehen, wird einem nach berechtigtem Protest ein Gespräch zweiter Klasse angeboten, wo dann „Betroffene“ etwas sagen dürfen. Im Kern ist dieser Ansatz paternalistisch und diskriminierend.

Die Krönung war im Rahmen dieses Schlagabtausches bei Twitter, dass einer gesagt hat: Es geht hier um Konzepte, deswegen ist das schon ganz richtig so. Was im Umkehrschluss heißt, wohnungslose Menschen sind offenbar nicht in der Lage über Konzepte zu reden. Das ist eine sehr chauvinistische, arrogante Haltung. Und irgendjemand, der seinen Tweet dann später gelöscht hat, weil ihm das peinlich war, hat gesagt: Es geht hier nicht um Einzelschicksale!

Das heißt Menschen in einem linken Raum, die einen Antrag in Sachen Wohnungslosigkeit vorbereiten wollen, haben eine Haltung: „Wir wissen was Sache ist und Menschen, die auf der Straße sind, die sind doof oder denen trauen wir das nicht zu.Die kriegen keinen vernünftigen Satz zustande!“ So in etwa. Das ist eine Haltung, die sich immer und immer wieder fortsetzt. Es wird über obdachlose Menschen gesprochen und nur in Ausnahmefällen wird auch mal jemand eingeladen. Das ist nicht akzeptabel.

Und der dritte Punkt, an dem ich deutlich mache, dass viele Linke einfach nicht durchblicken ist, dass jetzt Housing First- Anträge kommen. Es soll jetzt Housing First gemacht werden und wenn man sich das genauer anguckt, stellt man fest: Housing First funktioniert nur dann, wenn man das so macht wie in Finnland. Die haben vor 15 oder 20 Jahren damit begonnen, zu sagen: „Wir haben keinen Bock auf diesen ganzen Wohlfahrtsapparat und die Folgekosten, wir haben das mal kalkuliert und durchgerechnet und kommen zum Ergebnis: Jeder einzelne Wohnungslose bekommt eine Wohnung.“ Die haben das durchgezogen und das ist jetzt auch so. Die Zahl der Menschen, die in Finnland keine Wohnung haben, die sind bezogen auf das ganze Land wenige Hundert.

Dieses Housing First - jeder Wohnungslose soll eine Wohnung bekommen -, ist etwas völlig anderes als das, was hier als Modellprojekt propagiert wird. Natürlich ist es gut, jemandem auf der Straße zu helfen, in eine Wohnung zu kommen. Gleichzeitig werden jeden Tag in Berlin zehn Menschen auf die Straße geräumt. Das heißt, wir haben es in der Woche mit 50 weiteren Menschen zu tun, die wohnungslos werden. Das entspricht ungefähr der Zahl an Menschen, die in einem Jahr von diesem Modellprojekt in eine Wohnung vermittelt werden Das heißt also, diese Housing First - Modellprojekte sind Feigenblatt- bzw. Alibi-Projekte.

Was wir brauchen, ist eine grundsätzliche Umstellung.Eine Wohnung darf gar nicht Spekulationsobjekt, kein Renditeobjekt sein. Eine Wohnung muss genutzt werden zur Daseinsvorsorge aufgrund des Menschenrechts auf Wohnung, das jedem Einzelnen und jedem einzelnen obdachlosen Menschen zusteht.

Das genau ist die Frechheit des Hinweises auf den Kältebus: Menschen haben einen Anspruch auf eine Wohnung. Wohnungen stehen leer, das sieht man auch überall, wenn man genau hinguckt, oder Büroräume, die umgenutzt werden können. Menschen, die dieses Menschenrecht haben, werden abgespeist mit einer Decke und einer Tasse Tee. Um nicht missverstanden zu werden: Man kann das machen, es ist wichtig Menschen auf der Straße Tee, Suppe und auch Geld zu geben, ihnen zu helfen usw., nur muss man das immer machen in Verbindung mit dem Hinweis: Hier sind Wohnungen leer, da können Menschen rein. Diese Naivität, sich als toll, als politisch fortschrittlich zu zeigen und ein Alibiprojekt zu beantragen ist nicht in Ordnung, denn die Wohnungswirtschaft, der Wohnungsmarkt muss ganz anders organisiert werden.

Zwei letzte Punkte zu den außerparlamentarischen Linken möchte ich ansprechen. Ich habe das verfolgt, dieser Versuch von linken Aktivisten Kontakt zu wohnungslosen Menschen aufzunehmen und daraus ein Netzwerk zu formen. Dann zu sagen: Wir gehen in die Habersaathstrasse rein, weil die Wohnungen dort leerstehen und man dort den Winter gut verbringen kann. Das habe ich als sehr guten Ansatz wahrgenommen, weil da sehr geduldig versucht worden ist, wirklich eine Beziehung herzustellen, die Menschen anzusprechen, die Menschen einzubeziehen, mit den Menschen zusammen was zu erarbeiten. Das kann man daran erkennen, dass einige, die im Haus drin waren, später auf Kundgebungen aufgetaucht sind und gesagt haben, wie wichtig das eigentlich war für sie. Das ist ein gutes Beispiel für eine funktionierende Zusammenarbeit.

Ich habe aber bei anderen Sachen, zum Beispiel in Hannover, das nicht so wahrgenommen. Da wurde plakatiert: Wenn nicht sofort Wohnungen zur Verfügung gestellt werden, besetzen wir. Da hatte ich den Eindruck, dass aktivistische Linke, ich weiß nicht aus welchen Ecken die kamen, ich hatte auch keine Zeit das zu recherchieren, so eine Stellvertretergeschichte gemacht haben. Ich weiß gar nicht, wie viel wohnungslose Menschen da einbezogen waren. Ich hatte ein komisches Gefühl, ich kann das nicht belegen.

Damit will ich sagen, die Grenze von Aktion und Aktivismus, wohnungslose Menschen zu benutzen und instrumentalisieren, das ist eine schmale Gratwanderung. Es ist ganz wichtig, wenn man was angemessen solidarisch machen will, das geduldig und auf Augenhöhe zu machen. Und wenn man das dann macht, wird man feststellen: Wohnungslose haben unglaublich viele Kompetenzen und unglaublich viel zu sagen.

Und das ist der fünfte und letzte Punkt. Ich habe als Netzwerker versucht, wohnungslose Menschen ein reinzubringen in das Recht auf Stadt- Forum. Das gab es in Hamburg vor zwei Jahren, hätte letztes Jahr in Weimar sein sollen, dieses Jahr wird es wahrscheinlich in Bonn stattfinden. Da habe ich gemerkt, dass Menschen, die in stadtpolitischen Kämpfen engagiert sind, häufig auch in die Falle laufen, zu denken, obdachlose Menschen, das sind die, wofür der Kältebus zuständig ist. Es ist immer in den Debatten Arbeit gewesen, zu sagen: „Nein, ihr müsst das zusammen denken. Die, die jetzt noch eine Wohnung haben und sich Sorgen machen die Wohnung zu verlieren, die sind in derselben Situation wie die Menschen auf der Straße, nur eine Zeit vorher. Die die obdachlos auf der Straße sind, waren früher auch mal Mieter, hatten eine Wohnung und eine Existenzgrundlage. Beides ist verloren gegangen. Ich glaube, das fehlt so ein bisschen, diese Wahrnehmung von Solidarität. Kaum ist jemand obdachlos geworden, gehört er nicht mehr dazu.

Ich versuche, zusammen zu fassen. Linke Kritikunfähigkeit heißt für mich, dass unglaublich viel bei den Linken an der Oberfläche bleibt, das es kaum tiefgehende Analysen gibt. Dass versucht wird, das Problem mit irgendwelchen schnellen Aktionen, ruf da an oder wir machen mal ein Modellprojekt, wegzukriegen.

So funktioniert das aber nicht. Aber auch bei Aktionen von unten und auf der Straße ist es sehr oft so, dass wohnungslose Menschen nicht so einbezogen werden, wie es eigentlich notwendig wäre, um gemeinsam in einem solidarischen Prozess des gemeinsamen Empowerments für eine andere Stadt oder für eine andere Welt zu kämpfen, in der das Recht auf Wohnen umgesetzt und eine Selbstverständlichkeit ist.

 

Abbildungsnachweis: Das Foto ist von David Diwiak von der Initiative Straßenblues, und dem Stern-Artikel entnommen - als ein Beispiel dafür, wie angesichts der Corona-Pandemie plötzlich ganz andere Dinge - Hotelunterbringungen für obdachlose Menschen - möglich geworden sind. Link:
https://www.stern.de/gesundheit/obdachlos-zur-corona-zeit----stayhome-gilt-nur-fuer-menschen--die-ein-zuhause-haben--9220604.html

 

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