"http://www.prz.tu-berlin.de/~motz"
Die Ausgaben der der Berliner Obdachlosenzeitung "motz & Co", können Sie - wenn alles so funktioniert hat, wie wir uns das vorgestellt haben - auch digitaler Form erhalten - sofern Sie Zugang zu einem Computer haben, der mit dem weltweiten Internet verbunden ist. Sie finden die jeweils aktuelle Ausgabe der "motz & Co" und einiges andere mehr im World Wide Wep (WWW) unter der Adresse: "http://www.prz.tu-berlin.de/~motz"
Warum das Ganze?
Natürlich finanzieren wir unser Zeitungsprojekt weiterhin durch den Straßenverkauf gemäß der Devise: Eine Mark für den (obdachlosen) Verkäufer, eine Mark für unser Projekt. Dieses Prinzip, das direkt und indirekt den Wohnungslosen nutzt, wollen wir damit nicht in Frage stellen, und wir wollen auch keine Käufer abwerben. Tatsache ist aber, daß die Computerisierung und Vernetzung unserer Gesellschaft zunehmende Bedeutung erfährt, kaum ein Bereich des öffentlichen und privaten Lebens ist davon nicht betroffen. Mit Sorge sehen wir einer Entwicklung entgegen, die die ohnehin schon bestehenden sozialen Gegensätze verschärfen könnte: Daß nämlich die Gesellschaft zerfällt in eine privilegierte Gruppe derer, die diese neue Technologie beherrscht und in die Gruppe der Computeranalphabeten, die zunehmend an den Rand gedrängt wird, keine Perspektive mehr hat auf dem Arbeitsmarkt und immer weiter ausgeschlossen wird von den Entwicklungen im Bereich Politik, Bildung, Qualifikation, Kultur und Soziales - eben weil sie diese immer wichtiger werdende Kompetenz der Computerliteralität nicht mehr beherrscht. Dem wollen wir etwas entgegensetzen, indem wir mit dieser Zeitung im weltweiten Internet präsent sind und zugleich mit unserem Projekt, Armen und Wohnungslosen den Zugang zum Internet zu ermöglichen.
Computerliteralität
Anders gesagt: Der Umgang mit dem vernetzten Computer ist eine Schlüsselqualifikation der heutigen Zeit, und der entscheidende Vorteil ist, daß der oder die AnwenderIn eben nicht auf eine bestimmte Art der Nutzung festgelegt ist. Ob ein Wohnungsloser den Computer dazu nutzt, weltweit Liebesbriefe abzusetzen, seine Gedichte und Texte verbreitet, elektronisch verfügbare Zeitungen, Zeitschriften, Aufsätze und Publikationen ließt, zu bestimmten Themen recherchiert, auf Stellenanzeigen oder Angebote der Wohnungsvermittlung reagiert oder einfach nur irgendwelche Spiele spielt, oder ob er oder sie sich mit diesen erworbenen Fertigkeiten um einen Job bemüht oder einfach den elektronischen Postkasten benutzt, um erreichbar zu sein, daß ist letztlich egal und jedem einzelnen überlassen. Und eines ist klar: Wer in das Netz eine Nachricht schickt oder sich mit einem Text präsentiert, dem sieht man nicht an, ob er wohnend oder wohnungslos ist, Mann oder Frau, schwarz oder weiß, behindert oder nicht-behindert, süchtig oder clean, alt oder jung. Vorurteile können dadurch abgebaut werden, allein Argumente und Positionen zählen. Die Frage ist, was wir daraus machen können, was wir damit bewegen können? Das wird sich herausstellen.
Informationssuche und redaktionelles Arbeiten im Netz
Indem wir "motz & Co" im Internet präsentieren, wollen wir einen ersten Schritt in diese Richtung unternehmen. Momentan wird die "motz & Co" aus technischen Gründen nicht vollständig im Netz verfügbar sein, sondern zunächst nur die Texte und eine Auswahl an Fotos und Zeichnungen. Und wir werden im Netz auch eine Abstriche an unser gestalterisches Konzept machen müssen, weil derzeit nicht alles möglich ist und weil im Netz die Information wichtiger ist als die Gestaltung. Das kann sich aber schon bald ändern. Aber wichtig ist, daß wir unser redaktionelles und politisches Ansinnen nun im Internet weltweit verbreiten können: "In unserem redaktionellen Selbstverständnis wollen wir die Sicht derer von Unten, der Ausgegrenzten drucken und manchem Ängstlichen helfen, seine Stimme zu erheben. Insbesondere Obdachlose sind unsere wichtigsten Korrespondenten, aber auch jene, die sich in der gefahrenvollen Welt der Armen und Heimatlosen bewegen. Wir sind ein Armenjournal, reich an Ideen für einen lebendigen, anspruchsvollen und kritischen Journalismus sowie hintergründige Informationen. Wir wollen etwas bewegen und werden auch Bewegung einfordern - nicht nur bei den Politikern. Wir schauen aus der SZENE heraus nach draußen, nicht von draußen auf die Szene drauf." (Editorial der motz 0). Und natürlich werden unsere (obdachlosen) Redakteure wissen wollen, wie das aussieht, und schon bald eigene Anschlüsse haben wollen, um sehen zu können, wie das aussieht, und natürlich, um im Netz eigenständig recherchieren zu können. (Die taz, der Spiegel, die Welt und viele andere Zeitungen sind schon jetzt im Netz präsent, ganz zu schweigen von den vielen anderen Informationen.)
Bedarf
Wir hoffen, daß wir von Seiten der Computeranwender entsprechende Unterstützung und Beratung erhalten. Aus eigener Kraft können wir das nicht allein, wir brauchen Partner und Spenden (Hardware und Software). Wir brauchen vor allem weitere Computer für unsere zum Teil wohnungslosen Redakteure, damit sie an eigenen vernetzten Computern in unseren Redaktionsräumen in der Boxhagener Str. 17 arbeiten und und im weltweiten Internet recherchieren können, wir brauchen weitere Rechner als auch Drucker und Scanner, um unsere redaktionelle Arbeit verbessern und auch anderen Wohnungslosen Computerarbeitsplätze anbieten zu können. Und natürlich suchen wir auch einen provider (Anbieter), der für unser Projekt und unsere Mitarbeiter und Redakteure die entsprechenden Anschlüsse an das internationale Internet am Besten kostenfrei gewährleistet. Langfristig benötigen wir einen Server (einen leistungsfähigen Zentralcomputer, der die permanente Anbindung an das internationale Netz rund um die Uhr als auch die interne Vernetzung unserer Computer in der Boxhagener Str. 17 sicherstellt).
Ziele/ Perspektiven
Aber die Zielsetzung der internationalen Computervernetzung von "motz & Co" ist einigermaßen klar: Bislang gibt es nur lockere Kontakte zwischen den Armen- und Wohnungslosenzeitungen in Deutschland, Europa und weltweit. Indem wir uns vernetzen, können wir unser gemeinsames Anliegen vorantreiben, uns schneller gegenseitig informieren, Artikel und Positionen austauschen und vor allem sehr viel schneller und effizienter gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen planen und durchführen. Wenn wir damit anfangen, werden andere nachziehen, weil sie die Vorteile sehen. Wenn Armut und Wohnungslosigkeit ein globales Problem ist, dann müssen wir auch entsprechend darauf reagieren. Das heißt zum einen, daß möglichst viele Wohnungslose die Gelegenheit erhalten sollten, dieses neue Medium für sich und ihre Zwecke zu nutzen, und zum anderen, daß strukturelle Lösungen gesucht werden müssen, um das Engagement gegen Armut, Ausgrenzung, Vertreibung und Wohnungslosigkeit international und weltweit voranzubringen. Für eine gerechte Gesellschaft: die "motz & Co" weltweit im Internet. Auch wenn einer motzt!
Stefan Schneider
PS:
"motz & Co" im weltweiten Internet käme nicht zustande ohne die Hife von vielen Menschen, die aus Überzeugung und mit großem ehrenamtlichen Engagement bereit sind und bereit waren, diese Idee auch praktisch voranzutreiben. Unser Dank gilt vor allem Jens Sambale (
aus: Schneider, Stefan: "motz & Co" - Jetzt weltweit im Internet. In: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. 37. Jahrgang, 3/95. Bielefeld 1995, S. 115 - 116.
Jan Teszcla
InterNet für Obdachlose
Eine Vision entsteht in den Windungen meines Gehirns - InterNet für Obdachlose! Obdachlose vertreten in einem weltweiten Computernetzwerk, wo man die Möglichkeit hat, WELTWEIT zu kommunizieren. Das wäre doch etwas, oder?!? Die Idee zu der Sache kam mir, als ich neulich in der Berliner Kirchenzeitung einen Artikel las, wo ein amerikanischer Parlamentarier anregte, man solle Obdachlosen gratis Laptops (mobile Computer, die man auf den Schoß legen kann) übereignen, mit denen selbige dann in der Lage wären, am Datenverkehr teilzunehmen. Tolle Idee, dachte ich, da ich selber bereits im InterNet unter der Adresse "
In kurzen Worten erklärt:
- Man hat die Möglichkeit, WELTWEIT elektronische Briefe zu senden, sowie zu empfangen (sogenannte e-mail).
- Es besteht die Möglichkeit, an WELTWEITEN Diskussionen teilzunehmen; es gibt da sogenannte "boards" zu allen erdenklichen Themen.
- Nachrichten sind aktueller als in der Zeitung, da man ebenfalls Zugang zu den Rechnern der Presseagenturen hat, um sich das Neueste vom Tage zu "saugen". Auch schreiben Leute privat, was zu Hause so abläuft. Unter anderem schreiben z.B. User (Benutzer) aus Sarajevo, was gerade vor ihrer "Haustür" passiert, oder Leute aus Tschetschenien schreiben was da los ist. Diese Beispiele ließen sich endlos fortsetzen.
- Ferner besteht die Möglichkeit, Programme übers Netz zu schicken. Im Prinzip ist alles möglich, was auch im BTX und ähnlichen Netzen möglich ist, nur mit dem Unterschied, dieses Netz ist WELTWEIT erreichbar, und untersteht keinem Monopol, wie z.B. das BTX der Telekom. Es macht also kein Unternehmen als "provider" Gewinn. Ein "provider" ist jemand, der eine Leistung (in diesem Fall das Netz) zur Verfügung stellt. Das InterNet war im Anfang ein Netz der Universitäten, um datenmäßig in Verbindung zu sein. Es wurde zuerst in den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen, und nahm in kurzer Zeit internationale Dimensionen an. Heute gibt es keinen Staat, in dem es nicht mindestens einen Rechner gibt, der am InterNet hängt. Sprich WELTWEIT!
In der Hauptsache sind dies Rechner, die unter dem Betriebssystem UNIX arbeiten, da in diesem Betriebssystem die Vernetzung per TCP/IP vorgesehen ist (TCP/IP ist das Protokoll, WIE die Daten übertragen werden.) Es ist jedoch auch mit anderen Rechnern, die das Protokoll "verstehen", möglich, am Datenverkehr teilzunehmen. Voraussetzung ist lediglich, die richtige Software (Programme) und ein Internet-Knoten (ein Rechner, der am Netz hängt, auf dem man einen "account", sprich eine Zugangsberechtigung hat). Der Rechner wird per Telefonleitung angewählt (wie BTX), man gibt Benutzerkennung und Zugangscode (username & password) ein, und schon geht's los.
Das war die technische Seite; nun zurück zu meiner Vision. Meine Vision ist, daß in Wärmestuben sowie Beratungsstellen Computer an's InterNet angeschlossen werden, die von Obdachlosen benutzt werden können. Als Obdachloser ist man, was Information betrifft, eindeutig im Nachteil. Man hat gerade mal Klamotten, vielleicht noch einen Schlafsack und das war's. Oder schleppen Obdachlose neuerdings ständig Fernseher und Radio mit sich rum?!? Sich Informationen zu beschaffen, stellt eine echte Hürde dar, meistens hat man noch nicht mal soviel Barschaft, um sich eine aktuelle Zeitung zu besorgen. Wie also das Neueste aus aller Welt erfahren, wenn man von der Information so gut wie abgetrennt ist?
Und da setzt meine Vorstellung an. Selbst Behörden sind heute am InterNet angeschlossen, Daten im Rahmen der "Amtshilfe" werden über's InterNet geleitet, Banken hängen dran. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen... Zum Beispiel könnte man so auch für das Arbeitsamt "postalisch" erreichbar sein, eine der Voraussetzungen, um an Alg./AlHi. zu kommen, und man könnte untereinander in Verbindung bleiben, sowie WELTWEIT Leute kennenlernen. In den Staaten sowie in Kanada existieren bereits Projekte dieser Art, selbst ich hatte bereits beste Kontakte zu Obachlosen am anderen Ende der Welt. Im Moment jedoch scheine ich in Deutschland der einzige Obdachlose zu sein, der am InterNet hängt, in Berlin bin ich es ganz sicher. (Leider wahr.) Darum meine ich, daß sich da SCHNELLSTENS (!) was ändern sollte.
Die Gesellschaft denkt meistens so: "Gib' den Obdachlosen was zu essen, stell' ihnen einen Bettplatz zur Verfügung (egal, was für einen, auch wenn die Viecher die Wände hoch krabbeln...), mehr brauchen die nicht.", und damit hört die Hilfe dann auf. Viele gehen dann noch soweit: "Gib' Obdachlosen JA KEIN GELD, das wird sowieso nur versoffen, oder für Drogen ausgegeben", so als wäre man prinzipiell zu dämlich, mit Geld gut umzugehen... Das Problem ist jedoch, daß der Mensch MEHR braucht als Essen und ein Bett, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, um echt wie ein Mensch zu leben. Wir Obdachlosen werden AUSGEGRENZT, wo immer es nur geht, als wären wir keine Menschen.
Lieber Leser, vergiß bitte eins nicht: Auch wer obdachlos ist, ist ein MENSCH! Nur weil man das Pech hat, keine Wohnung (mehr) zu haben, ist man noch lange kein Stück Vieh! Es heißt im Grundgesetz: "Die WÜRDE des Menschen ist UNANTASTBAR."!!! Uns Obdachlose jedoch bei jeder, aber auch jeder Gelegenheit zu benachteiligen, sowie zu bevormunden (was besonders die Behörden gern tun, allen voran das Sozialamt...) IST eine Antastung der Menschenwürde, die auch ein Obdachloser hat, auch wenn er sich mal gehen läßt, nicht so "chic" gekleidet ist, sowie Alkohol- oder Drogenprobleme hat. Selbst wenn der Obdachlose nicht immer in allen Dingen einem "normalen" Mitglied der Gesellschaft gleicht, ist er DENNOCH ein MENSCH, und hat deswegen Würde, sowie Rechte!!! Laut Sozialhilfegesetzgebung soll die Sozialhilfe dem Menschen ein "MENSCHENWÜRDIGES" Dasein ermoglichen, bloß frage ich mich, wie das gehen soll, mit ca. 500 Mark pro Monat, die noch nicht mal für eine ausgewogene Ernährung reichen, und dann noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen? Wie bitte, WIE soll das vor sich gehen, erklär' mir das bitte jemand. Da setzt mein Vorschlag an, zumindestens das Informationsbedürfnis der Obdachlosen zu befriedigen, um wenigstens informationsmäßig auf dem neuesten Stand zu bleiben, denn auch da sind Obdachlose -leider- immer noch so gut wie ausgegrenzt. Bitte, Leute, schreibt mir Eure Meinung zu diesem Artikel, ich bin an Resonanz interessiert, erreichbar bin ich über die Postadresse:
Jan Teszcla (Remke), Postfach 30 40 41, 10725 Berlin, sowie über das InterNet, wo ich hoffentlich bald mehr Obdachlose antreffen werde. Falls jemand der mob oder der H.A.Z. oder einer der anderen Obdachlosenzeitungen einen InterNet - Account besorgen kann, so wende er/ sie sich an die Redaktionen. Ebenfalls bitte ich die Leser, sich für diese Idee stark zu machen, und sich mit mir zusammen zu tun, um diesen Traum bald Realitat werden zu lassen. Es gibt viel zu tun - PACKEN WIR'S AN!!!
Herzlichst, Euer
Jan
InterNet: (
James L. Eng
From: mayer (Margit Mayer)
To:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. (Stefan Schneider)
Date: Wed, 22 Mar 1995 20:41:27 +0000 (GMT)
>FromDiese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. Fri Mar 17 18:14:52 1995
Subject: Obdachlose im Internet
Im Internet fühlen sich Seattles "Homless People" nicht diskriminiert
"Irgendwo muß ich mir als Obdachloser meinen Kick ja holen"
Sie sind die Hobos des elektronischen Superhighways - eine Handvoll Wohnsitzlose in Seattle, die sich aus der Stadtbibliothek in die Computernetze einklinken und die weite Welt suchen.
Nachts verkriecht sich der 25jährige Rodney Lindsey in seinem Zimmer im Obdachlosenasyl im ehemaligen Pacific Hotel. Doch am Tag erkundet er Rußland, China, Deutschland, die Schweiz - jeden nur erdenklichen Platz auf der Welt, den er mit dem Internet erreichen kann.
Jeden Morgen kurz vor neun Uhr steht Lindsey inmitten einer Gruppe von Wohnsitzlosen vor den Toren der öffentlichen Bibliothek im Stadtzentrum von Seattle und wartet darauf, bis er sich wieder an eines der 35 Terminals setzen und in das weltweite Netzwerk namens Internet einsteigen kann. Für viele, die das Schicksal und ihre Bank im Stich gelassen haben, ist das Internet zum sozialen Netz geworden, und besser als die Straße ist es allemal.
"Hier bekomme ich meinen Kick", sagt Lindsey, der sein langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, während er sich vom Bildschirm ab- und dem neugierigen Journalisten zuwendet. "Ich trinke nicht, und mit Drogen habe ich auch nichts am Hut. Und irgendwo muß ich mir meinen Kick ja holen." Seit die Bibliothek in Seattle im Juli 1993 als erste große öffentliche Bücherei in den USA den kostenfreien Zugang zum Internet anbietet, gehört eine Gruppe von Wohnsitzlosen, inzwischen nur noch "The Internetters" genannt, zum festen Nutzerstamm.
Lindsey forscht nach Freunden...
In den Straßen von Seattle findet man nirgends eine Haustür mit ihrem Namensschild, aber in der virtuellen Welt der Datennetze kann man sie erreichen. Manchmal sitzen nur zwei von ihnen an den Terminals, manchmal zwölf, mal verbringt einer eine oder zwei Stunden im Netz, mal der andere den ganzen Tag. Lindsey, der sich selbst als "Internet-Junkie" bezeichnet, gibt damit an, einmal sogar 72 Stunden ohne Unterbrechung im Internet verbracht zu haben.
Als die Bibliothek damals ihre Pforten schloß, stiefelte er einfach ein paar Meilen weiter in das Computerzentrum der Universität Washington und klinkte sich wieder ein. "Okay, ich bin auf die Toilette gegangen, aber das war es dann auch schon", erzählt er. "Ich habe nicht geschlafen und nicht gegessen. Ich war nur im Netz."
Die Bibliothek in Seattle bietet zwar nur Verbindungen zu zehn Gateways, wie etwa zu der Bibliothek des Kongresses oder des Nachrichtendienstes des Weißen Hauses, an. Aber die Internetter haben einen Weg ausgetüftelt, wie sie aus dem Menüsystem der Bibliothek herausspringen und mit praktisch jedem öffentlichen Terminal, das am Internet hängt, Verbindung aufnehme können. Einmal in der weiten Welt des Internet angelangt, stehen ihnen zahllose Mailboxen, Datenbanken, Spiele, Chat-Lines, sogenannte MUDs (Multiuser-Dimensions, eine Art computersimulierte Umwelt) und E-Mail zur Verfügung. So können sie beispielsweise mit Carlos in Brasilien "Star Wars" spielen und danach Präsident Clinton noch kurz eine Nachricht schicken.
Einige der Hobos sind inzwischen so versiert, daß andere Internet-User sich ab und zu hilfesuchend an sie wenden. "Wenn man den ganzen Tag Zeit hat, wird man fast unweigerlich zum Experten. Es ist kein Wunder, daß ein paar von ihnen in der Lage sind, unsere Mitarbeiter oder Bibliotheksbesucher zu unterweisen", meint Jim Taylor, der in Seattles Bibliothek für die automatisierten Dienste zuständig ist.
Lindsey landete im Januar 1993 auf der Straße, nachdem ihn die Navy aus Gründen, über die er lieber schweigen möchte, rausgeschmissen hatte. Er sieht das Internet vor allem als ein Mittel, die Welt zu erkunden. "Für mich ist es wie ein Banktresor ohne Wachen. Ich gehe rein und raus, wie es mir paßt", schwärmt Lindsey. "Ich kann überall hingehen und mitmischen. Nach Rußland, Japan, China, Deutschland, England, in ganz USA, Kanada, Mexiko - es gibt keine Grenzen."
Jon Cooper, 41, benutzt das Internet, um seinen Forschungen über Hexerei nachzugehen und mit einer Frau aus Maryland zu kommunizieren, die er in einer Mailbox "getroffen" hat. Die "Gespräche" mit ihr, sagt er, geben ihm Mut und Zuversicht. "Sie vermittelt eine sehr positive Einstellung", meint Cooper, "und ein gut Teil davon färbt auf mich ab."
...die Jon schon gefunden hat
Cooper, der einen akademischen Abschluß in Wirtschaftswissenschaften vorweisen kann, arbeitete 13 Jahre für den Forstdienst und danach als Schweißer in einer Nuklearfabrik in Kalifornien. Nachdem er Job und Frau verloren hatte, zog er im Februar nach Seattle und lebt seitdem auf der Straße. Während er darauf wartet, daß Boeing wieder Leute einstellt, schlägt er sich seine Nächte auf einem Feldbett im Keller einer Kirche um die Ohren.
"Ich weiß nicht, was die anderen im Internet suchen", sagt er, "aber ich brauche einfach eine Rückzugsmöglichkeit, einen Ort, wo ich mich wohlfühlen und lernen kann. Sonst würde ich wahrscheinlich noch verrückt werden."
Frank, ein eloquenter 25jähriger, der mit 14 Jahren von zu Hause ausriß, vertreibt sich im Internet die Zeit mit Spielen, bis er einen Job findet. "Was sonst sollte ich tun? Etwa auf der Straße rumhängen und von der Polizei belästigt werden? Es ist gut, ein Ventil zu haben, irgendwohin flüchten zu können, die langen Tage, an denen man nicht weiß, was man tun soll, totschlagen zu können - und dabei auch noch etwas zu lernen." Und vor allem, meint Frank, "sieht im Netz niemand, daß ich schwarz bin."
Gut möglich, daß es genau dieses Gefühl der Sicherheit und Anonymität ist, das die Menschen ohne Obdach am Internet so fasziniert, spekuliert Nancy Amidei, Dozentin an der Schule für Sozialarbeit der Universität Washington und Leiterin eines Hilfsprogramms für jugendliche Wohnsitzlose. "Wer auf der Straße lebt, mal hier, mal da, und ohne eine geregelte Arbeit ist, dem fällt es oft verdammt schwer, normal mit Leuten umgehen zu können", sagt Amidei. "Wer einmal per E-Mail kommuniziert hat oder im Internet war, der weiß, daß er dort mehr Freunde treffen kann, als er es sich jemals hätte träumen lassen. Dazu kommt, daß der Gesprächspartner nicht sehen kann, wie man angezogen ist oder wo man lebt. Das Internet kennt keine Klassen, Rassen, keine Geschlechter." Und es ist umsonst.
"Eine der Aufgaben der öffentlichen Bibliotheken ist es, jedem den freien Zugang zu Informationen zu ermöglichen, sei es in gedruckter oder in elektronischer Form", sagt Seattles stellvertretender Bibliotheksleiter Craig Butold. Und Wohnsitzlose sind "eindeutig Menschen, die sonst außen vor bleiben würden.
Nach einer Erhebung, die die Nationale Kommission für Bibliotheks-und Informationswissenschaften im Juni durchführte, bieten zur Zeit zwar noch weniger als drei Prozent der über 9000 öffentlichen Bibliotheken in den USA Zugänge zum Internet an, aber immer mehr Büchereien aus allen Ecken der Welt klopfen in Seattle an und wollen wissen, wie sie sich ans Internet anschließen lassen können.
Natürlich ging es auch in Seattle anfangs nicht ganz ohne Reibungen ab. Einige Bibliotheksbenutzer beschwerten sich, daß die Wohnsitzlosen die Terminals blockierten und zu laut seien. Daraufhin setzten sich die Bibliotheksmitarbeiter mit den Internettern an einen Tisch und handelten Verhaltensregeln aus. Außerdem wurden einige Terminals für Benutzer reserviert, die im Bestandskatalog der Bibliothek nach Literatur suchen, und seitdem läuft der Betrieb wieder reibungslos.
So gut, wie sich Lindsey inzwischen im Internet auskennt, müßte er eigentlich, meint er, eingestellt werden, um anderen den Umgang mit dem Netz beizubringen. "Ich lerne und lerne", sagt er. "Irgendwann wird jemand sagen: ,Hey, du weißt doch so viel. Ich will dich."
James L. Eng
(mit freundlicher Genehmigung von Associated Press, übersetzt von Thomas Pfeiffer)