Dr. Stefan Schneider
Interkulturelle Soziale Arbeit in existenziellen Notlagen – Anfragen aus der Praxis. Nürnberg 2008

Tagesordnung

  1. Problem
  2. Positionen
  3. Verhandlung
  4. Ergebnisse
  5. (zur Auswertung: Ein kurzer Didaktischer Kommentar )

1. Problem

In einer Notübernachtung für wohnungslose Menschen häufen sich die Konflikte und es gibt eine Unzufriedenheit auf allen Seiten.

Die zu einem großen Teil ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sind mit einem zunehmenden Anteil von ausländischen NotübernachterInnen, darunter viele aus Ost- und Südosteuropa, konfrontiert. Die Stimmung insgesamt wird schlechter, es gibt unter den NotübernachterIn­nen insgesamt zuneh­mende Aggressionen und Rangeleien. Wegen des Andrangs müssen auch Wohnungslose wegge­schickt werden.
Die MitarbeiterInnen fühlen sich überfordert und allein gelassen, die äusländischen Notübernach­terInnen fühlen sich schlecht behandelt und diskriminiert, die deutschsprachigen Notübernachte­rInnen fühlen sich an den Rand gedrängt und kritisieren teilweise die bloße Anwesenheit der aus­ländischen NotübernachterInnen, die ihrer Meinung nichts in einer deutschen Notübernachtung verloren hätten.
Alkohol- und Drogenprobleme treten verstärkt auf, zudem ist unklar, wie gut die ausländi­schen Gäste überhaupt die deutsche Sprache verstehen und welches ihr Status ist. Eine Reihe von Ge­rüchten macht die Runde: Drückerkolonnen seien im Spiel, die Äusländer hät­ten illegale Jobs und suchten nur eine billige Unterkunft, sie seien gar nicht bedürftig, für Ausländer gäbe es keine Hil­feansprüche usw.
Auf der anderen Seite wird sowohl von einigen MitarbeiterInnen als auch von einigen Übernach­terInnen wiederholt betont , die Notübernachtung sei für alle da.

Anfrage:
In dieser Situation haben sich die MitarbeiterInnen der Notübernachtung an die Ev. Fachhochschu­le Nürnberg gewandt mit der Bitte um Unterstützung und Hilfe. Morgen vormit­tag ist die nächste Teamsitzung und bis dahin werden erste Ideen und weitere Vorschläge von uns erwartet, wie diese Probleme angegangen werden können.


2. Positionen

Sie bilden zwei Arbeitsgruppen, versetzen sich in die Situation

a) der MitarbeiterInnen der Notübernachtung (Gruppe 1)
b) der ausländischen NotübernachterInnen (Gruppe 2)

und überlegen, was aus Ihrer Sicht getan werden muß. Überlegen Sie sich bitte stichwortartig Ide­en, Vorschläge und Forderungen, wie aus Ihrer Sicht die Probleme abgestellt, bearbeitet, gelöst wer­den können.

Die Vorschläge müssen in sich nicht konsistent sein und sollten in Anschluß an die Arbeitsgruppen­phase einzeln vorgetragen werden.


3. Verhandlung

Die TeilnehmerInnen aus den beiden Gruppen sollen abwechseln ihre Ergebnisse vorstellen. Die Mitglieder der anderen Gruppe sind aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen und zu überlegen, ob es in den Ergebnissen eine Entsprechung gibt.

Auf zwei nebeneinanderstehenden Tafeln wird eine Auswertungsmatrix angeboten. Auf der linken Seite die Tafel der Forderungen und Vorschläge der ausländischen Wohnungslosen, auf der rechten Seite die Tafel  der Forderungen und Vorschläge der MitarbeiterInnen. Dort, wo beide Tafeln aneinanderstoßen, befindet sich der Konsensraum.

Eine weitere Hilfe zur Auswertung ist die Zeitstruktur. Oben auf den Tafeln sollen kurzfrist umzusetzende Maßnahmen dargestellt werden, in der Mitte ist Platz für mittelfristiges, und untern auf der Tafel sollen Forderungen und Positionen, die nur langfristig umzusetzen sind, dargestellt werden.


Ergebnisse des Seminars in Nuernberg - Foto: Stefan Schneider 4. Ergebnisse

Vorschläge und Forderungen ausländische Wohnungslose

  • fremdsprachige MitarbeiterIn
  • Interkulturelle Konzeption
  • garantierter Schlafplatz und billiges Essen und Öffnungszeiten erweitern
  • Soziale Kompetenz NotübernachterInnen
  • Kostenlos Telefon über Internet
  • Gerechtigkeit, Verständnis

Vorschläge und Forderungen MitarbeiterInnen

  • Alkohol, Drogen, Hausordnung
  • Sprachbarrieren abbauen
  • Leitbild publizieren "für alle"
  • Externe Supervision organisieren zur Entlastung
  • Bedarfserhebung, Ausweitung des Angebots, Verhandlungen mit Träger
  • ad-hoc-Idee einer Sofort-Supervision (aus einem Pool bereit stehender SupervisorInnen)

Folgende Ideen befinden sich im Konsensraum

  • siehe Fotos

Was alles im Seminar aussen vor bleiben mußte und in zukünftigen Sitzungen zu behandeln wäre

  • Problemuntersuchung
  • Ursachen Wohnungslosigkeit
  • Ursachen Migration
  • Konzeption Notübernachtung
  • Konzeption Wohnungslosenhilfe
  • Interkulturelle Konzepte
  • Mediation
  • Soziale Kompetenzen der Mitarbeiter

5. (Ein kurzer didaktischer Kommentar)

Ziel dieses Seminars ist nicht, in erster Linie Wissen zu vermitteln, sondern vielmehr Interesse an einem sozialarbeiterischen Problem herzustellen.

  1. Dazu wird das Problem in den Mittelpunkt gestellt und ich versuche, in einer kurzen, möglichst sachlich neutral gehaltenen Beschreibung dieses darzustellen, aber auch die Dramatik der Situati­on herauszuarbeiten. Um in der Seminarsituation einen Handlungsdruck aufzubauen erfolgt der Hinweis auf die morgige Teamsitzung, für die erste Ergebnisse präsentiert werden sollen.
    Die Beschreibung des Problems folgt dabei der aktuellen Diskussion, die seit etwa einem Jahr vor allem in der Berlin AG Leben mit Obdachlosen auf den monatlichen Sitzungen geführt wird (vgl. die Protokolle der Sitzungen auf der Homepage www.ag-lebenmitobdachlosen.de), ist also absolut real und aktuell und nur wenig pauschalisiert.
  2. Die Bildung der Arbeitsgruppen folgt weniger dem Ziel, das Problem arbeitsteilig zu bearbeiten, als vielmehr der Intention, sich in einer ah-hoc-Situation in die Perspektive der jeweiligen Konflikt­partner bzw. -parteien hinein versetzen zu müssen. (Systematisch besser aber auch deut­lich komplexer wäre es gewesen, eine dritte Gruppe der deutschen NotübernachterInnen zu bil­den, um den Gesamtkonflikt besser abzubilden.) Die Herangehensweise folgt der Idee der Dialektik in dem Sinne, dass die Probleme Ausdruck von Widerspruchseinheiten sind, die es zu entschlüsseln und durch ein Verfahren auf eine neue Ebene zu transformieren gilt.
  3. Die Idee, die Ergebnisse zu verhandeln, hat eine mehrfache Funktion. Zum einen wird die jewei­lige Gruppe gefordert, ad hoc zu dem Vorschlag der anderen Gruppe Stellung zu nehmen und dies mit eigenen Vorschlägen abzugleichen, zum zweiten wird damit eine Methodik simuliert, die (unter veränderten Bedingungen) tatsächlich Anwendung finden könnte, und zum dritten könnte so sehr schnell gemeinsames und trennendes deutlich werden. In dieser Situation begebe ich mich in die Rolle des Moderators, der versucht, die Auseinandersetzung ergebnisorientiert zu lenken.
  4. Die Ebenen der Ergebnissicherung ergeben sich aus dem vorausgegangenen. Es gilt herauszuar­beiten, wo es Ideen gibt, die von beiden Seiten getragen werden, und welche Ideen nicht von der anderen Seite getragen oder sogar abgelehnt werden (Konsens – Dissens - Kompromisslinien). Die zweite Dimension der Ergebnissicherung besteht darin, eine Sortierung auf der Zeitachse vorzu­nehmen. Was kann sofort, was kann mittelbar, und was kann nur langfristig umgesetzt werden. Ab­schließend möchte ich, neben der Präsentation der gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse, auch noch herausstellen, was alles NICHT in dieser kurzen Zeit erarbeitet werden konnte.
  5. Insgesamt also ist die Didaktik des Seminars darauf gerichtet, einen offenen Einstieg für ein rele­vantes Problem zu ermöglichen und dieses zunächst ohne jede weiteren Vorkenntnisse zu bearbeiten.
    In nächsten Schritten kann dann herausgearbeitet werden, wo auf den Ebenen von Theorie, Wis­senschaft, Forschung und praktischer Sozialarbeit das Problem systematisch untersucht und bear­beitet werden kann.

 

Solidarische Hinweise

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