Sie sagen nichts mehr. Sie tragen einen Antrag auf Arbeitslosengeld vor, als wäre es eine Anklage. Sie ziehen selbst das letzte Hemd noch aus. Sie kommentieren die Hilfeangebote für wohnungslose Menschen. Sie berichten von Übergriffen und Diskriminierungen. Sie schälen Kartoffeln und kochen einen Eintopf. Sie singen vom Abstieg und Flaschensammeln und vom „Grundeinkommen Liebe“. Sie sind Musiker, Wohnungslose, Sänger, Bettler, Schauspieler, Arbeitslose und Stars für zwei lange Stunden. Sie sind die Bettleroper im Theater Freiburg.
1. Ein neues Stück
2. Arbeitsprozeß
3. Premiere
4. Existenzminimum
5. Avantgarde
6. Die deutende Form
7. Das Stück
8. Die CD Bettleroper
9. Weblinks
10. Rezensionen und Berichte
11. AnmerkungenPDF-Datei Schneider, Stefan: Bis aufs letzte Hemd. Berlin/ Freiburg 2009.pdf
1. Ein neues Stück
Mit der neuen Intendantin Barbara Mundel sei ein frischer Wind in das Stadttheater Freiburg eingekehrt, wird gesagt. Die Breisgauer Bühne ist offen für neue Kunstformen und vor allem politischer geworden. Zusammen mit der Dramaturgin Carolin Hochleichter und dem Schweizer Regisseur Christoph Frick entsteht im Jahr 2008 die Idee, die Bettleroper ins Programm aufzunehmen. Die Musikerin Bernadette La Hengst kommt dazu, die bereits im Jahr 2007 in einem Freiburger Seniorenheim mit alten Menschen neue Lieder einstudiert hat. (1) Die Künstler wollen eigentlich die Dreigroschenoper als Vorlage verwenden, sehen sich aber damit konfrontiert, dass die Erben von Brecht und Weil es nicht zulassen, dass am Werk irgendetwas geändert wird; ein Problem, an dem auch schon andere Theatervorhaben gescheitert sind. So ist es naheliegend, den Vorgänger, die Beggar's Opera von Gay und Pepusch zur Vorlage zu nehmen. Schon bald entsteht jedoch der Vorschlag, die Neue Armut mit authentischen Darstellern auf die Bühne zu bringen.
Etwas Neues, Authentisches sollte auch die Beggar's Opera sein. Die Ursprungsidee dafür stammt wohl vom irischen Schriftsteller Jonathan Swift (1667 - 1745), der vor allem als Autor von Gullivers Reisen berühmt geworden ist. Im Sommer das Jahres 1716 schreibt er an seien Freund Alexander Pope: "Wie wäre es mal mit einer Newgate-Pastorale (2) mit den dortigen Huren und Dieben?" Newgate war ein westliches Stadttor Londons und galt als zwielichtige Gegend. Vor allem das dortige Gefängnis war berüchtigt. So etwas auf die Bühne zu bringen wäre in der Tat ein starkes Stück gewesen in der damaligen Zeit. Aber erstmal bleibt die Idee liegen. Es dauerte dann noch einige Jahre, bis ein anderer Freund Swifts, ein gewisser John Gay (1685 - 1732), diese Idee tatsächlich aufgreift und im Jahr 1728 daraus ein Stück machen will.
Auch Carolin Hochleichter, Christoph Frick und Bernadette La Hengst wollen aus der Bettleroper ein Stück machen. Sie fragen im Herbst 2008 die Redaktion des Frei-en Bürgers an, ob Interesse an einer Zusammenarbeit bestünde. Der Frei-e Bürger ist eine Straßenzeitung, die 1998 von Wohnungslosen und ehemals Wohnungslosen , wie sie selbst schreiben, "ohne jegliches Know-how auf die Beine gestellt wurde". Mit einer Auflage von 6.000 gedruckten Exemplaren im Monat ist die Zeitung weder besonders groß noch besonders klein im Vergleich zu den anderen. Mit anderen Hochglanzmagazinen, die von Wohnungslosen nur verkauft, aber nicht gemacht werden, hat diese Zeitung nicht viel gemein. Bis heute hat der Frei-e Bürger seinen Charakter bewahrt und ist ein Organ für Menschen mit geringem Einkommen mit der Absicht, Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen und ein Forum zu sein, in das sie sich selbst mit einbringen können.
Uli Hermann, Redaktions-Chef beim Frei-en Bürger, und seine Kollegen greifen die Anregung auf. Sie vereinbaren ein erstes Treffen im November 2008 im Ferdinand-Weiss-Haus, einer Tages- und Begegnungsstätte für Menschen in Wohnungsnot, in der auch die Redaktionsgruppe des Frei-en Bürgers in den Anfangsjahren getagt hatte. Es findet sich eine bunte Truppe ein: Hartz-IV-beziehende, wohnungslose, bauwagenbewohnende, flaschensammelnde und bettelnde Bürgerinnen und Bürger. Statt mit einem fertigen Textheft wird die Gruppe beim ersten Treffen mit vielen Fragen konfrontiert: Wie es ist, wohnungslos zu sein, welche Erfahrungen man beim Betteln macht, welche Hilfen es gibt und was sie einem bringen, ob es schwer ist, wieder von der Straße weg zu kommen und einen Schlafplatz zu finden, welche Möglichkeiten zum Überleben einem offen stehen. Kurzum, wie es sich anfühlt, auf der Straße zu sein und ein Habenichts zu sein.
Ein Habenichts ist auch John Gay. Er ist Literat und verdient sein Geld zuletzt als Sekretär des Tory-Abgeordneten Lord Claredon. Nach dem Sturz der Tory Regierung im Jahr 1721 ist er mehr oder weniger arbeitslos, verspekuliert sein Vermögen und wurschtelt sich so durch. Vielleicht war es sein Frust, der ihn die Idee der Beggar's Opera von Swift wieder aufgreifen liess. Allerdings gibt Gay diesem Stück einen anderen Charakter. Keine Pastorale, sondern eine Satire auf die Verhältnisse in merry old Georgian England will er schreiben, ein Stück, das das Bürgertum parodiert. Mit der Figur des Peachum, die sich an die bekanntesten englischen Verbrecher des 18. Jahrhunderts, Jonathan Wild und Jack Sheppard anlehnt, soll gleichzeitig der neue britische Premier Robert Walpole - der Mann, der ihn letztlich arbeitslos gemacht hat, karikiert werden.
John Rich ist Theaterdirektor im Lincoln's Inn, einer Spielstätte im Stadtteil Newgate, die auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Inzwischen hat er erfahren, dass Gay vorhat, das Stück ohne jegliche musikalische Begleitung aufzuführen – Gay verspricht sich davon eine direktere, schockierende Wirkung. In buchstäblich letzter Minute, eine Woche vor der geplanten Premiere, engagiert Rick den in Berlin geborenen, aber schon lange in London lebenden Komponisten, Musiker, Lehrer und Musikwissenschaftler Johann Christoph Pepusch. Er hat schon mehrfach für das Lincoln's Inn gearbeitet. Auch diesmal soll er einspringen und in Windeseile eine Ouvertüre schreiben und zu den 69 Songs von Gay Arrangements für ein Orchester ausarbeiten. (3)
2. Arbeitsprozeß
Ausgearbeitet ist auch in Freiburg noch fast gar nichts. Was einige aus der Gruppe um Uli Herrmann leicht irritiert, denn sie hatten gedacht, dass Text und Musik komplett fertig sind und das Ganze nur noch einstudiert werden muss. Statt dessen erklären ihnen Christoph (Regie), Cornelia (Dramaturgie) und Bernadette (Musik), dass sich das Stück eigentlich erst bei den Probearbeiten entwickeln wird und das das Material dafür zunächst gemeinsam erarbeitet werden muss.
Zu erarbeiten ist erst einmal eine Form, miteinander ins Gespräch zu kommen. In mehr als neunundneunzig Prozent aller Begegnungen ist die Kommunikation zwischen Wohnungslosen und Nichtwohnungslosen asymmetrisch. Ein gleichberechtigter Dialog findet nicht statt. Das hat nicht unbedingt etwas mit den Wohnungslosen zu tun, die in der Regel versuchen, aus ihrer Notlage das Beste zu machen. Das Problem sind die anderen, die entweder professionell oder ehrenamtlich helfen wollen und auf das Ergebnis schielen oder das eigene Gewissen beruhigen wollen. Der Wohnungslose ist nicht Partner, Kumpel, Kollege, Mitbürger, sondern in erster Linie nur ein Gesicht zu einem Problem. Eine Person, das ganz weit weg ist. Das ist entweder bedauerlich, lästig, Mitleid heischend, ungerecht, doof oder selbst verschuldet, aber um die eigentliche Person geht es nicht. Und oft genug sind Wohnungslose ein Ventil für den eigenen Frust: Sie werden beschimpft, angepöbelt, denunziert, vertrieben, als Penner und Asoziale denunziert. Sie sind dankbare Opfer, denn sie wehren sich selten. Auf ganz dünnem Eis also bewegen sich die Akteure vom Theater Freiburg, wenn sie Wohnungslose einbeziehen wollen. Groß und real ist die Gefahr, dass einmal wohnungslose Menschen zu authentischen, besonders originalen Statisten degradiert werden.
Eben weil es nicht um Statisten geht, sondern um wirkliche Erfahrungen, wird die Vorlage über Bord geworfen. Die Situation ist ergebnisoffen. Die ersten Treffen dienen dem Erfahrungsaustausch. Nein, das Leben eines Schauspielers ist kein Luxus. Endlose Proben, Termin- und Leistungsdruck, eine schlechte Bezahlung, unsichere Verträge. Und arme Leute faulenzen nicht den ganzen Tag herum, sondern das Überleben auf der Straße ist harte Arbeit. Beide Gruppen sind neugierig aufeinander. Das Überraschende gelingt, sie haben sich etwas zu sagen, ein Erfahrungsaustausch kommt in Gang. Die Bettler lernen von den Schauspielern, wie man sich auf der Bühne bewegt, wie in großen Räumen gesprochen werden muss und wie man sich Texte einprägen kann. Die Schauspieler werden von den wohnungslosen und armen Menschen durch die Stadt geführt und bekommen erklärt, an welchen Orten sich das Betteln lohnt, wie Flaschensammeln funktioniert, wo gute Schlafplätze zu finden sind. Sie lernen, welche Einrichtungen und Angebote es gibt, was man dort erwarten und bekommen und und was nicht und vor allem, wie schwer es ist, unter den Bedingungen von Armut und Wohnungslosigkeit seine Würde zu behaupten. Bernadette La Hengst erarbeitet erste Songs und stellt sie der Gruppe vor. Sind die Stücke denn überhaupt singbar? Und kommen sie an?
3. Premiere
Ob die Stücke ankommen, darüber entscheiden erstmalig am 13. Dezember 2008 die Menschen, die sich zur Feier des 20jährigen Bestehens des Ferdinand-Weiss-Hauses eingefunden haben. Dieses Haus der Diakonie beherbergt eine Tages- und Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot. Es bietet Dusch- und Waschmöglichkeiten, Schließfächer, Küchenbenutzung und warme Mahlzeiten, Computer- und Telefonnutzung. Ein warmer und geschützter Ort, in dem auch Beratung und Begleitung und eine medizinische Grundversorgung angeboten wird.(4) Heute tritt zum ersten Mal der Bettlerchor auf. Sicherheitshalber nennt er seinen Auftritt bescheiden "Öffentliche Probe". Alle sind sichtbar nervös, und die Stücke rumpeln noch. Aber Bernadette hat ihre Gitarre dabei, sie zieht den Rhythmus durch und die Stücke kommen an. Es gibt sogar einen Bericht mit Foto in der Freiburger Kirchenzeitung (5) . Aber eigentlich fängt der Stress erst jetzt richtig an, denn nun geht es in die Probenräume des Freiburger Theaters. Denn es wird nun ernst - in weniger als 6 Wochen ist Premiere.
Die Premiere der Beggar's Opera am 28. Januar 1728 wird eine Sensation. Das neue Stück schlägt ein wie eine Bombe. Das Ensemble spielt noch 62 weitere Aufführungen, ein Rekord für diese Zeit. Das Publikum ist süchtig nach dieser neuen Form der Oper, in der erstmalig nicht die Reichen und Schönen, sondern die Armen der Londoner Unterwelt, vertreten durch eine Bettlerbande, im Rampenlicht stehen. Musikhistoriker würden sagen: In der von John Gay gewählten Form der Ballad opera wird die Struktur der italienischen Oper beibehalten, wobei die Rezitative durch gesprochene Dialoge ersetzt wurden und zumeist einfache volkstümliche Melodien Verwendung fanden. Was Gay und Pepusch in Wirklichkeit machen, ist einfach nur dreist. Sie klauen ziemlich bedenkenlos aus populären Arien und Gesängen von Händel - dessen Opern das Londoner Publikum langsam satt hatte - und schaffen im Grunde mit der Beggar's Opera eine Händel-Travestie. (6)
Mit der Moral der Gesellschaft ist es nicht weit her, so die Botschaft, aber mit Moral lässt sich gut Geschäfte machen. Brüllendes Gelächter im Publikum, wenn der Bettlergauner Macheath mit gedrechselten und immer daneben liegenden Formulierungen versucht, die sogenannte gute Gesellschaft zu imitieren. Die Zuschauer begreifen, was gemeint ist: Auch die da oben sind nichts anderes als gemeine Gauner so wie die in unserer Nachbarschaft. Oder anders gesagt: High Life ist gleich Low Life.
Ein Abbild des Low Life ist auch die Freiburger Bettlerbühne. Ein paar Tische, Stühle und spärliche Requisiten. Das könnte ein Schulungsraum sein, das Wartezimmer des Bürgeramtes oder eben eine Suppenküche. Über allem schwebt eine Wolke aus Pappmaché, mit der die Stimmung ein wenig verklärt wird (Bühnenbild: Clarissa Herbst). Die Schauspieler sind schon alle da und hängen rum. Einige begrüßen das hereinströmende Publikum, andere machen sich am Küchentisch auf der linken Seite der Bühne daran, Gemüse zu schneiden. Rechts spielen Bernadette La Hengst an der Gitarre und Hannes Moritz am minimalistischen Schlagzeug spärliche Musik. Alle sind nun da, und die Bühne sortiert sich zu einem Podium. Es beginnt eine Debatte der Gemeinplätze, ein Glaubensbekenntnis neoliberaler Ideologie, das sich steigert in ein Staccato der Phrasen der professionellen Geldverbrenner aus der Banken- und Politbranche, hart am Rande des Wahnsinns. »Wir stecken mitten in einer Krise, das haben wir inzwischen begriffen. [...] Unsere Wirtschaft ist geschwächt, als Konsequenz aus Gier und Unverantwortlichkeit bei einigen Wenigen - aber auch, weil wir als Kollektiv versäumt haben, harte Entscheidungen zu treffen und diese Nation auf die neue Zeit vorzubereiten.« (7) Alle merken: Es ist egal und folgenlos, wer in den Medien was und wann sagt, es ist im Grunde nur der selbe Brei.
Eine (Anna Böger) geht dazwischen: »Wir sollen heute mehr ausgeben als gestern, damit es uns morgen nicht schlechter geht als heute? Bitte wie? Das geht doch nie und nie zusammen. Das ist ja wie ›mit ohne Ketchup‹. Das kann doch gar nicht gehen. Ich glaub, ich krieg’ die Krise.« Sie wird das im Verlauf des Stücks noch öfter rufen. Der erste Song rollt an: »Wo kriegen sie die Millionen her? Vom Staat. Und wer hat den gewählt? Das ist doch unser Geld.« ("Wer hat das Geld versteckt?")
Sie (Bettina Grahs) wuchtet einen schweren Stapel Papier auf das Pult. Dann legt sie los und trägt die Fragen auf Arbeitslosengeld (Hartz IV) vor. Offiziell heißt das „Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) Arbeitslosengeld II / Sozialgeld“ (8) Bei den Antworten wird sie sekundiert von den anderen, die aufgereiht hinter ihr ergänzen und kommentieren. Wie eine Litanei des Bösen hämmern die Fragen auf sie ein:
»Sind Sie Spätaussiedlerin/Spätaussiedler nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVG) und ortsgebunden? Sind Sie Berechtigte/Berechtigter nach dem Asylbewerberleistungsgesetz? Sind Sie - Ihrer Einschätzung nach - gesundheitlich in der Lage, eine Tätigkeit von mindestens drei Stunden täglich auszuüben? Sind Sie Schülerin/Schüler? Befinden Sie sich zurzeit oder demnächst in einer stationären Einrichtung? Wie viele weitere Personen gehören zu Ihrer Bedarfsgemeinschaft? Leben Sie zusammen mit (Mehrfachnennungen möglich): Ihrer/Ihrem nicht dauernd getrennt lebenden Ehegattin/Ehegatten, Ihrer/Ihrem nicht dauernd getrennt lebenden eingetragenen Lebenspartnerin/Lebenspartner, Ihrer Partnerin, Ihrem Partner in Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, einem unverheirateten Kind unter 25 Jahren oder mehreren Kindern, Ihren Eltern bzw. einem Elternteil oder dessen Partner (nur anzukreuzen, wenn Sie unter 25 Jahre alt sind)?«
Von der Last der Fragen erdrückt, die keinen Platz mehr lassen für Privates, Intimes, Persönliches, kippt Bettina um. Das ist kein Antrag, das ist Mobbing, Schikane, Nötigung, Psychoterror. Aber es hört nicht auf. Es hört nie auf. Es gibt kein Ende. Es geht umstandslos weiter. Die Akteure stehen auf und bewegen sich durch die Publikumsreihen. 35 Informationen zu den wichtigsten Fragen für Antragsteller. Wer die Information benötigt, soll laut und deutlich I wie Information rufen und erhält dann weitere Hinweise. »Wird mein BAFöG angerechnet? Darf ich verreisen? Wird mir das Kindergeld abgezogen? Was ist eine Bedarfsgemeinschaft? Was ist zum Lebensunterhalt unerlässlich? ... ... « Alles das ist umständlich, verwirrend, unklar, beschämend, skandalös. Hartz IV bewahrt nicht vor dem Abstieg, Hartz IV ist der Abstieg.
Der gleichnamige Song „Abstieg“ verbindet raffiniert die Phraseologie der Sozialpolitik mit einem Refrain, der ebenso eingängig wie beklemmend daherkommt: »Abstieg Abstieg Abstieg - Angst vor dem Abstieg - Abstieg Abstieg Abstieg«. Noch nie klangen Schlagworte wie Monetäre Armut, Relatives Armutsrisiko oder Soziokulturelles und physisches Existenzminimum wie in diesem Song.
4. Existenzminimum
Weil peinlich genau festgelegt ist, was einem Hartz-IV-Empfänger an Waren, Bekleidung, Wohnung und Hygiene zusteht, muss auch dieses verhandelt werden. Während Bernadette La Hengst mit dem Bettlerchor melodisch langsam von Einhundert herunter abzählt, überbieten sich die Schauspieler in Selbstbezichtigungen und Denunziation. Es hilft nichts, alles, aber auch wirklich alles steht auf dem Prüfstand. Sparguthaben, alte Autos, Musikinstrumente, zu große Wohnungen, Schmuck, Möbel. Ja, auch der alltäglich Hausrat steht zur Disposition: Geschirr, Fernseher und Videogeräte, Tische und Stühle, Haushaltsgeräte, Kleidung und Unterwäsche.
Alles, was nicht unbedingt zum Lebensunterhalt erforderlich ist, muss weg, kann weg. Die Debatte endet dort, wo sie enden muss - im Extremen. Braucht Mensch wirklich eine Wohnung? Würde es nicht notfalls ein Zimmer tun? Reicht nicht vielleicht nur ein Dach über dem Kopf, ein Unterstand, ein Bett oder eine Matratze? Ist es womöglich im Grunde zumutbar, draußen zu überleben? Mit Bezug auf die Idee aus dem Matthäus-Evangelium »Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernsten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheuen; euer himmlischer Vater ernährt sie.« (Kapitel 6, Vers 26). Vernünftig ist es nicht, eher wahnhaft, wenn Nicola Fritzen sich buchstäblich von allem entkleidet und nackt nach draußen rennt. Eine Handkamera überträgt das Spektakel von der Straße auf eine große Leinwand im Theater. Wie ein Berserker rennt sie draußen herum, verkündet ihre neue frohe Botschaft, klettert auf Bäume, hüllt sich zum Schluss in eine Roßhaardecke irgendwo am Straßenrand ein.
Bei diesem Spektakel geht ein wenig unter, dass der Bettlerchor auch leise Töne anstimmen kann: »Ich schau dir in die Augen, wir sind uns nicht so unähnlich, es gibt ein paar Zeichen, an denen ich erkennen kann, dass wir aus ein und derselben Welt stammen, doch deine Codes kann ich nicht lesen, dafür bin ich immer zu sicher gewesen du bist mir zu fremd, nein, das geht mir zu weit, du kannst nicht bei mir schlafen, nein, ich hab keine Zeit... « („Mitleid“).
Worum also geht es? Um eine Vermittlung von Arm und Reich? Um ein Verständnis der Armut? Um Revolution oder Reform? Um Protest oder Selbsthilfe? Um Angst vor dem Abstieg oder einen Kampf um die Mittel? Das Stück ist hier nicht eindeutig, kann es auch gar nicht sein, weil es zu sehr mit den Techniken der Collage, des Fragmentarischen, des Vorläufigen, der Andeutung arbeitet. Das Stück ist nahe dran am Straßen- und Improvisations- und Stehgreiftheater, ein Konzept, das die Zuschauer einbeziehen will und dessen Aussagen prinzipiell offen sind. Alles steht auf dem Prüfstand und kann heute so, morgen schon anders akzentuiert werden. Es ist den Beteiligten anzumerken, dass nicht alles bis ins Letzte ausformuliert, sondern offen gestaltet und bisweilen auch improvisiert ist. Und dennoch ist das Stück nicht beliebig, weil sich eine Haltung durch das Stück zieht: Es ist überhaupt nicht toll, arm zu sein. Arme Menschen haben eine Würde, eine Stimme und ein Existenzrecht und können sich wehren. Es ist eine Gesellschaft, die Armut produziert, es gibt Menschen, die von der Armut profitieren und Reichtum anhäufen, das muss so nicht hingenommen werden. Ein Überleben in Armut ist möglich. Aber besser wäre es, wenn es gelänge, Armut zu bekämpfen, zu überwinden. Und dennoch leistet sich die Bettleroper eine kleine, romantische, aber immer noch politische Liebesduselei in dem Stück „Grundeinkommen Liebe": »Gerichtsvollzieher sind gekommen,und haben alles mitgenommen,wie Diebe, doch jetzt bin ich aufgewacht. Ich bin frei und unvoreingenommen, gib mir bedingungsloses Grundeinkommen, als Liebe heute Nacht«. Auch das ist ein Thema auf der Strasse.
Es wird dunkel im Saal. Die Tische werden zusammengerückt und ein Plan von Freiburg darauf ausgerollt. Mit Taschenlampen angestrahlt und mit einer Handkamera verwackelt und grobkörnig auf eine Leinwand übertragen, wird das Innen zum Aussen. Es wird real und konkret. Nur mal angenommen, ich komme spät abends in Freiburg an und bin völlig abgebrannt. Wo kann ich hingehen, wo kann ich unterkommen? Nur mal angenommen, ich finde nichts. Wo kann ich gut draußen übernachten? Nur mal angenommen, ich überstehe die erste Nacht. Wo kann ich etwas zu essen bekommen? Nur mal angenommen, ich brauche Geld. Wo kann ich am besten betteln und wie mache ich das?
An dieser Stelle droht das Stück zu kippen. Es geht nicht mehr um die Beschwörungsformeln neoliberaler Ideologie, um die Einführung von Armut per Gesetz namens Hartz, um die strukturelle Gewalt in der Abfertigungs- und Demütigungsmaschinerie namens JobCenter, um staatliche Schnüffelei und Durchleuchtung des Privatlebens namens Bedürftigkeitsprüfung, um Strafen und Sanktionen namens Leistungskürzung (»bis auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche«), sondern um die Frage: Wo kann ich Hilfe finden? Ist Wohnungslosigkeit wirklich nur eine Frage von warmen Mahlzeiten, Notübernachtungen und Beratungsangeboten? Oder schlichtweg der Preis dafür, dass andere sich milliardenschwer bereichern? Muss Armutsbekämpfung wirklich unpolitisch sein?
5. Avantgarde
Es ist Bernadette La Hengst, die die Situation rettet mit dem unscheinbarsten, aber berührendsten Lied des Abends. Sparsam perlen die Klänge aus ihrer Gitarre, eine einsame Flöte setzt ein, das Geräusch von klirrendem Glas irgendwo aus dem Hintergrund gesellt sich dazu. Es geht darum, wie jemand die Welt erlebt, der aus Not und Armut heraus Stunden seines Tages damit verbringt, Flaschen zu sammeln, Pfandflaschen. Der Blick auf die Welt ändert sich. Nicht mehr die Party, die Einkaufsmeile ist interessant, die Sehenswürdigkeiten und die Schaufenster auch nicht, sondern nur doch das, was über bleibt. Die Reste. Der Müll. Der Dreck. Es ist keine Anklage, nur eine genaue Beobachtung und eine klare Einschätzung: »Und wenn ich aus dem Supermarkt wieder heraus komme, hab ich mehr Geld als vorher.«
Überhaupt die Musik. Bernadette La Hengst ist eine charismatische Musikerin, die auch ohne Mikrofon und Verstärker in der Lage wäre, nur mit Gitarre und ihrer Stimme einen ganzen Saal in Grund und Boden zu rocken. Sie kann Lieder schreiben, die größer sind als sie selbst. Ihre Texte verbinden analytischen Scharfsinn mit genauer Beobachtungsgabe. Ihre Stücke sind politisch, aber nicht aufdringlich und auch nicht oberflächlich plakativ. Und sie ist eine Meisterin darin, selbst sperrige Wortungeheuer zum Klingen zu bringen und mit eingängigen Sounds zu verbinden. Auf der Freiburger Bettlerbühne agiert sie ebenso unaufdringlich wie präsent – mit kleinen Zeichen dirigiert sie den Bettlerchor, hält mit ihren Stücken und den akustischen Akzenten drumherum das Stück zusammen. Die Songs gewinnen um so mehr, je zurückhaltender sie arrangiert sind. Folgerichtig ist sie auf der Bühne nur begleitet von Hannes Moritz am Schlagzeug und dem Bettlerchor. Frank Albrecht spielt einmal dazu Blockflöte und Nicola Fritzen bearbeitet eine Mülltonne.
Eine Art Zugabe am Schluss des Stücks ist der Song „Avantgarde Bettler“. »Wir sind froh, dass wir kein Geld haben, sonst wärn wir bankrott - Bettler« singen sie in einer Textzeile. Können Bettler Avantgarde sein? Und wie muss ein armer Mensch empfinden, wenn er solche Zeilen singen soll? Wird zum Schluss etwa Armut als die einzig mögliche Lebensform verklärt? Gibt es denn eine Alternative? Der gegenwärtige, alles beherrschende globale digitale Kapitalismus bedeutet massenhafte Armut, Ausbeutung, Umweltzerstörung, Ressourcenvernichtung, Unterdrückung und Krieg. Wohlstand und Luxus für Wenige. Nur der Umstand, dass das letzte Hemd keine Taschen hat, dass aller Reichtum letztlich flüchtig, unbeständig und unbefriedigend ist, und dass wir den Globus mit all seinen Ressourcen nur von unseren Kindern und Enkeln geborgt haben, kann den Blick frei machen dafür, was wirklich wichtig ist im Leben, worauf es ankommt. Und aus dieser Perspektive ist es kein Widerspruch, eine auskömmliche und bedingungslose Grundsicherung für alle zu fordern und gleichzeitig zu deklarieren: Wir sind alle nur Bettler, und wir sind schon jetzt da, wo eines Tages auch ihr sein werdet. (9)
Eines Tages, fast genau zweihundert Jahre nach der Uraufführung, stößt auch die Schriftstellerin Elisabeth Hauptmann auf Presseberichte über einen riesigen Theatererfolg in London. Die Bettleroper von Gay und Pepusch wird seit 1920 wieder neu aufgeführt und bricht mit fast 1500 Aufführungen in Folge alle Rekorde. Sie lässt sich sofort den Text kommen, erkennt das Potential und fertigt für ihren Arbeitgeber Bert Brecht eine Rohübersetzung an. Brecht lässt sich erklären: Der originale Titel Beggar's Opera bedeutet nicht, wie spätere Übersetzer dachten, »Die Bettleroper«, sondern »Des Bettlers Oper«, also eine Oper für Bettler.
Der Plot passt in sein Konzept des epischen Theaters. Brecht bietet sein halbfertiges Manuskript dem neuen Direktor des Theaters am Schiffbauerdamm, Ernst Josef Aufricht, an. Ob das nicht etwas wäre für die erste Premiere nach der Renovierung. Aufricht, der von dem Stoff sofort angetan ist, schlägt ein – ohne zu wissen, dass er damit auch den jungen Komponisten Kurt Weill, den Brecht von Anfang an für die Vertonung der Texte vorgesehen hatte, mitverpflichtete. Der Rest ist Geschichte, die Dreigroschenoper wird zu einem Welterfolg, die originale Beggar's Opera tritt in den Hintergrund, und auch der Anteil, den Elisabeth Hauptmann an der Dreigroschenoper hatte (10), gerät in Vergessenheit.
Damit es niemand vergisst, werden am Ende des Stücks nochmal alle daran erinnert, dass sie eingeladen sind, sich auf die Bühne zu begeben und bei Chilli Con Carne mit den Schauspielerinnen und Schauspielern ins Gespräch zu kommen. Die meisten drängen zum Ausgang, nur wenige nehmen dieses Angebot wahr. Medien-Leute, die einen Bericht schreiben wollen und O-Töne brauchen. Studierende, die froh sind, unkompliziert echte Wohnungslose ansprechen und über ihre Armut erzählen lassen zu können. Freunde des Ensembles, die bei einem Bier über dieses und jenes tratschen. Zwischen Banalem und Alltäglichem höre ich zwischendurch Fragen über das Leben auf der Straße, das Übernachten im Freien und Erfahrungen beim Betteln. Die Bühne als bequemer und angstfreier Ort sozialarbeiterischer Feldforschung. Eifrig werden Notizen gemacht, um weitere Gesprächstermine - am liebsten vor Ort oder in einschlägigen Einrichtungen - wird dringend gebeten. Die Schauspieler nehmen es mit professioneller Gelassenheit. Die Arbeit ist getan, es ist spät am Abend, eine gewisse Erschöpfung stellt sich ein. Nein, dieses Treffen ist kein Auftakt zu einer revolutionären Aktion, es gibt keine Gruppendiskussion und auch Resolutionen oder Demonstrationsaufrufe und Flugblätter werden nicht herumgereicht. Es ist eben doch nur das Ende einer vielleicht etwas eigentümlichen Theateraufführung.
Auch im Anschluss an die Beggar's Opera in London gibt es etwas zu Essen, allerdings erst viele Jahre später. In den Jahren nach 1980 entwickelt sich der Park Lincoln's Inn Fields unweit des Stätte der Uraufführung zu einem Ort, an dem viele Wohnungslose übernachten. (11) Damit ist 1992 Schluss, die Wohnungslosen werden aus dem Park vertrieben. Um die Grünfläche herum wird ein Zaun errichtet, und die Tore jeden Abend bei Sonnenuntergang geschlossen. Aber nach wie vor leben unzählige Wohnungslose in der Gegend um Lincoln's Inn Fields. Sichtbar wird das aber immer nur dann, wenn spät abends an der Ostseite des Parks die Busse der mobilen Suppenküchen halten. Minutenschnell bilden sich lange Schlangen, die Menschen nehmen das Essen entgegen und verschwinden scheinbar im Nichts. Auch die mobilen Suppenstuben geraten bald in die Kritik. Die würden Wohnungslose nur ermutigen, wohnungslos zu bleiben, sagen die einen. Die massenhafte Wohnungslosigkeit soll nur kaschiert werden, befürchten die anderen.
In die Schlagzeilen gerät Lincoln's Inn Fields erneut im September 2008. Immer an Donnerstagen nach Sonnenuntergang finden dort flashmobs (12) statt, bei dem mehrere Dutzend muslimische Jugendliche großzügig Lebensmittel und Speisen an die Wohnungslosen verteilen. Es wird im allgemeinen angenommen, dass der Fastenmonats Ramadan, bei dem das Fasten traditionell nach Sonnenuntergang mit einem großen Festessen beendet wird, Anlass für diese spektakuläre Aktion ist. (13)
Die Bettleroper in Freiburg wird nach der Premiere am 23.01.2009 insgesamt 10 mal bis zum 10.07.2009 aufgeführt. Während der Thementage Armut in Deutschland vom 13. bis zum 15. Februar ermöglicht das Theater Hartz IV-Empfängern den Besuch aller Aufführungen für jeweils 3,50 Euro.Wie die Zusammenarbeit mit der Gruppe rund um den Frei-en Bürger weiter geht, kann niemand genau sagen. Über die Fortsetzung dieses Konzepts werde nachgedacht, heißt es.
6. Die deutende Form
Was bleibt? Die Freiburger Bettleroper kann sich zweifelsfrei einordnen in die große Tradition von Swift, Gay und Pepusch (Beggar's Opera) und Hauptmann, Brecht und Weil (Dreigroschenoper). La Hengst und Co. schaffen wie ihre historischen Vorbilder etwas Neues, Einzigartiges, Unverwechselbares, ein Stück voller Sozialkritik und provokativem Potential. Nur der große Erfolg hat sich bisher nicht eingestellt. Aber darf das der Maßstab sein? Mit großem Aufwand und ebenso großer Publicity startet Lukas Leuenberg im Sommer 2006 in Berlin zusammen mit Klaus Maria Brandauer in der Regie, Campino von den Toten Hosen und einer grossen Starbesetzung eine neue - von der Kritik einhellig als mittelmäßig bezeichnete - Neuinszenierung der Dreigroschenoper. Eine handvoll ausgewählter Straßenzeitungsverkaufsprofis, die teilweise noch nicht einmal wohnungslos waren, darf exklusiv eine glattgebügelte, als Programmheft apostrophierte Sonderausgabe einer Straßenzeitung den Theatergästen feilbieten. (14) Keine Alibiveranstaltung, eine Farce. Pflegeleichte Wohnungslose als soziale Staffage.
Aber das ist keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. Eine andere Spielart des öffentlichen Benutzens armer Menschen wird immer im Dezember sichtbar. Es gehört zur Weihnachtsfolklore, sich in genau dieser Zeit an die zu erinnern, die einem sonst ganz besonders egal sind. Dann gibt es Sonderrationen aus der Gulaschkanone, Suppen und Söckchen, auch schon mal Geld und einen aufmunternden Klaps auf den Rücken. Natürlich ist das Fernsehen oder wenigstens die öffentliche Presse dabei, und das symbolische Bad in der elenden Menge dauert keine Minute länger als erforderlich. Eine ganz besonders beliebte Übung für drittklassige Politiker, Zeitungsvolontäre und die Geschäftsführer der Wohlfahrtsmafia. Die Wohnungslosen haben mitzuspielen und nicht zu stören, und die Devotesten werden belobigt und besonders belohnt. Die sogenannte Wohnungslosenhilfe betreibt seit alters her ein „Creaming“, das Abschöpfen der einfachsten, unkompliziertesten Fälle. Die anderen, die Schwierigen, Widerborstigen und Störrischen werden verdammt und dämonisiert: Sie wollten es ja nicht anders. Weil das, was sie wollen, oftmals etwas anderes ist, als die Helfer für sie vorgesehen haben. Denn das ist Hilfe meistens auch: Keine Unterstützung zur Selbsthilfe, sondern Gängelung anderer zur Erfüllung eigener Projektionen. Dass das allen nicht hinreichend in den Blick kommt, ist vielleicht ein kleiner Mangel dieses Freiburger Bettleroper.
In Bezug auf Theaterprojekte mit Wohnungslosen gibt es drei oder bestenfalls vier Strömungen, die sich allesamt mit konkreten Projekten in Deutschland in Verbindung bringen lassen. Da sind erstens die Ratten 07, ein Ensemble, das über die Jahre einen eigenen künstlerischen Anspruch in Anlehnung an die Klassiker der Theaterliteratur entwickelt hat. Immer noch als Obdachlosentheater etikettiert, sind die Protagonisten zwar in der Regel nicht mehr wohnungslos - und das ist auch gut so - wohl aber noch sehr eng biografisch mit dieser Lebenssituation verbunden und tendenziell solidarisch. Theaterarbeit wird so zu einer Nische des Überlebens, zu einem Instrument von persönlicher Emanzipation und selbstbestimmten Leben für den engen Kreis der Beteiligten. Zum zweiten das etwa zeitgleich mit den Ratten 07 entstandene Projekt Unter Druck - Kultur von der Strasse. Theaterarbeit ist hier eher eine Angebotsform der offenen Gruppenarbeit innerhalb eines Tagesangebotes für Wohnungslose, Theaterarbeit eine Form der Beschäftigung und möglicherweise der methodische Schlüssel zu weitergehenden Unterstützungsangeboten. Der künstlerische Anspruch bezieht sich in der Hauptsache auf kürzere, improvisierte Darbietungen auf einschlägigen Veranstaltungen der Wohnungslosenhilfe. Ziel ist weniger die Perfektion als der Anspruch, alle möglichst gut in die Arbeit zu integrieren. In gewisser Weise eine Sonderform ist das Hamburger Theater Obdach-Fertig-Los. Die soziale Realität des Lebens armer und wohnungsloser Menschen soll in der Form von Theaterstücken mehr oder weniger professionell und authentisch auf die Bühne gebracht werden, allerdings erschöpft sich der künstlerische Anspruch genau darin. Dass die Gruppe trotz dieser programmatischen Sackgasse noch immer existiert, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass der soziale Zusammenhalt dieses als Selbsthilfegruppe konzipierten Ensembles besonders hoch ist.
Besonders hoch ist auch der Anspruch bei denen, die zusammen mit wohnungslosen Menschen über politisches Theater nachdenken. Hier verschränken sich Realität und Fiktion ineinander, Theater und das wirkliche Leben sind nicht mehr eindeutig zu trennen. Hier gibt es kein konkretes Ensemble, sondern nur einzelne, konkret Aktionen. Wohnungslose Menschen besetzen einen Bahnhof und wollen dort bleiben - um dagegen zu protestieren, dass sie dort ständig vertrieben und von den Wachschützern drangsaliert werden. Wohnungslose Menschen stürmen zum Ende der Kältehilfe eine bekanntes großes Hotel und entfalten ein Plakat: »Es sind noch Betten frei!«, weil mit Ende der Winterzeit auch Notübernachtungsbetten abgebaut werden. Wohnungslose Menschen werben für ein Bettel-Diplom und bilden aus in Schnorren, Containern, Kirchenstich und Straßenzeitungsverkauf. Wohnungslose Menschen nehmen sich eine Pocketkamera und fotografieren ihren Alltag - und nachher wird daraus eine Ausstellung zusammengestellt. Wohnungslose Menschen fahren zum G8-Gegengipfel und protestieren am Sicherheitszaun gegen die unsoziale Globalisierung. Wohnungslose Menschen wandern zum JobCenter nach Greifswald und überreichen dem Geschäftsführer den »Verbogenen Paragraphen«. Wohnungslose Menschen verlagern ihren Tagestreffpunkt auf die Straße und richten dort ein öffentliches Wohnzimmer ein, um gegen weitere Kürzungen bei den sozialen Einrichtungen für arme Leute zu protestieren. Es sind ein paar weniger Grenzgänger, Menschen, die selbst emotional oder biografisch nahe dran sind am Betteln und am Leben auf der Straße, die solche Aktionen anschieben. Es sind keine Helfer und Armutsprofiteure, sondern Aktionisten, die in der breiten Gruppierung wohnungsloser Menschen Partner sehen, suchen und finden. Es ist ein emanzipatorischer Prozess, unverschämt arm zu sein und seine eigene Situation mit der Kritik an der Gesellschaft und ihrer Politik, und nicht etwa mit dem sogenannten eigenen Versagen in Verbindung zu bringen. Denn das hätten sie gerne.
Fazit: Die Bettleroper ist mehr als ein unterhaltsamer Abend mit einer guten Suppe zum Schluss und sechs starken Songs zum Thema Betteln, Flaschensammeln, Mitleid, Abstiegsangst und Grundeinkommen. Bernadette La Hengst und der Bettlerchor (wie gesagt: elf Hartz-IV-beziehende, wohnungslose, bauwagenbewohnende, flaschensammelnde und bettelnde Bürgerinnen und Bürger) am Theater in Freiburg haben ein neues Konzept der Bettleroper entwickelt. Theodor W. Adorno hat das einmal so beschrieben: »Zur deutenden Form der Oper stimmt völlig, dass sie sich ihren Stoff von einer anderen Oper vorgeben lässt und ebenso, dass sie diesen Stoff im Lumpenproletariat belässt, das selbst wieder in einem Hohlspiegel die gesamte fragwürdige Ordnung der bürgerlichen Oberwelt reflektiert; Lumpen und Trümmer, das allein ist fürs erhellte Bewusstsein von jener gründlich entzauberten Oberwelt übrig geblieben.« (15) Dieses Konzept ist durchaus straßentauglich. Für meine Begriffe könnte der Bettlerchor auf Demonstrationen, Kundgebungen und sonstigen sozialen Protestaktionen auftauchen. Oder einfach so in der Fußgängerzone. Zu weiteren öffentlichen Proben. Als absichtsvolle Störung. Mit ein paar Flugblättern, auf denen die Songtexte abgedruckt sind. Zum Mitsingen für alle.
7. Das Stück
Bettleroper
Ein Schauspiel. Mit Musik von Bernadette La Hengst
- Schauspieler: Frank Albrecht, André Benndorff, Anna Böger, Nicola Fritzen, Bettina Grahs, Melanie Lüninghöner
- Bettlerchor: Christin Arnold, Falko Gottsberg-Jacobs, Hannes Gotzes, Uli Herrmann, Dietrun Jochim, Georg Kaiser, Jeanette Joseph, Johanna Krause, Hannes Moritz, Sonja Seelig, Wolfgang Steidel
- Textfassung: Christoph Frick, Bernadette La Hengst, Carolin Hochleichter & Ensemble
- Regie: Christoph Frick
- Bühne & Kostüme: Clarissa Herbst
- Musik: Bernadette La Hengst
- Dramaturgie: Carolin Hochleichter
- Aufführungsdauer: Erster Teil ca. 1 1/2 Stunden, im Anschluss Suppenküche und mehr
- Premiere am 23. Januar 2009, Kleines Haus, Theater Freiburg
8. Die CD Bettleroper
Eine limitierte CD mit allen Musikstücken der Freiburger Bettleroper ist auf Bestellung bei Bernadette La Hengst (lahengst at gmx.de) zum Preis von 12,00 € erhältlich. Von jeder verkauften CD werden 2,50 € an Freiburger Beratungsstellen für Wohnungslose abgegeben.
Die Stücke auf der CD sind: Wer hat das Geld versteckt (2:25), Abstieg (3:06), Mitleid (4:07), Angst als Antrieb (2:16); Flaschenfolk (3:10), Avantgarde Bettler (3:29); Grundeinkommen Liebe (3:26) Die Musik wurde im Januar 2009 von Markus Heinzel im Theater Freiburg aufgenommen und im Liquidstudio Freiburg abgemischt.
Die Musiker sind: Bernadette La Hengst (voc, g), Hannes Moritz (dr) sowie der Bettlerchor (Frank Albrecht, Christine-Sophie Arnold, André Benndorff, Anna Böger, Nicola Fritzen Bettina Grahs, Dietrun Jochim, Jeannette Joseph, Bernadette la Hengst, Melanie Lüninghöner, Johanna Krause, Sonja Seelig; Falko Gottsberg-Jakobs, Hannes Gotzes, Uli Hermann, Georg Kaiser, Hannes Moritz, Wolfgang Steidel).
Die Songtexte sind im Programmheft sowie unter www.lahengst.com/bettleroper.html zu finden.
9. Weblinks
- Theater Freiburg www.theater.freiburg.de
- Bernadette La Hengst www.lahengst.com
- Programmheft der Bettleroper Freiburg (PDF) www.lahengst.com/downloads/Programmheft_Bettleroper.pdf
- Der Frei-e Bürger www.frei-e-buerger.de
- Ferdinand-Weiss-Haus, Freiburg www.diakonie-freiburg.de/html/body_ferd__weiss_haus.html
- Ratten 07, Berlin www.ratten07.de
- Obdach-Fertig-Los, Hamburg www.obdach-fertig-los.de
- Unter Druck - Kultur von der Straße, Berlin www.unter-druck.de
10. Rezensionen & Berichte
- Carsten: Avantgarde Bettler. In: Der Frei-e Bürger, Ausgabe November 2008. (www.frei-e-buerger.de/betteloper.php)
- Carsten: Avantgarde Bettler (2). In: Der Frei-e Bürger, Ausgabe Dezember 2008. (www.frei-e-buerger.de/betteloper2.php)
- Carsten: Avantgarde Bettler (3). In: Der Frei-e Bürger, Ausgabe Januar 2009. (www.frei-e-buerger.de/betteloper3.php)
- Carsten: Vorhang auf für unsere Stars. In: Der Frei-e Bürger, Homepage. (www.frei-e-buerger.de/stars1.php)
- Carsten: Ehrlichkeit statt Mitleid. In: Der Frei-e Bürger, Homepage. (www.frei-e-buerger.de/stars2.php)
- Hoffmann, Annette: Später gibt es Suppe. In: taz vom 25.01.2009 (www.taz.de/1/leben/kuenste/artikel/1/spaeter-gibt-es-suppe/)
- Kirk, Gerhard M.: Hier wird der Bettler-Chor nicht gespielt, hier ist er richtig echt. In: Badische Zeitung vom 24.01.2009 (www.badische-zeitung.de/freiburg/hier-wird-der-bettler-chor-nicht-gespielt-hier-ist-er-richtig-echt)
- Kopp, Siegbert: Für alte Reiche und neue Arme. In: Südkurier vom 26.01.2009 (www.suedkurier.de/news/kultur/kultur/art410935,3608498)
- Reichart, Johannes: „Hoppla, die haben ja eine Stimme“. In: Soziale Manieren (Online-Portal) (www.soziale-manieren.de/57140.asp)
- Reuss, Jürgen: Phänomenologie eines sozialen Zustands. In: nachtkritik.de vom 23.01.2009 (www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=2324)
- Bettina Schulte: Schon mal Hartz IV gehabt? In: Badensche Rundschau vom 25.01.2009 (www.badische-zeitung.de/schon-mal-hartz-iv-gehabt)
- Vogelmann, Maximilian: Rezension: Betteloper. In: Fudder. Neuigkeiten aus Freiburg vom 10.03.2009 (fudder.de/artikel/2009/03/10/rezension-die-bettleroper/)
11. Anmerkungen
- 1 Gut dokumentiert in dem Video "Der Utopist", siehe www.youtube.com/watch?v=wpteO3BmGYc
- 2 Von lateinisch pastor = Hirte abgeleitet. Eine Pastorale ist ein während der europäischen Renaissance und im Barock beliebtes Schäferspiel mit Musik.
- 3 Leider sind die Kompositionen und Arrangements von Pepusch für die Bettleroper verloren gegangen. Lediglich die Harmonisierungen für die Generalbasslinie der Melodien sind erhalten (aus der 3. Ausgabe der Oper von 1729), alles andere gilt als verschollen.
- 4 Eine Darstellung der Angebote des Ferdinand-Weiss-Hauses ist im Internet zu finden. Siehe www.diakonie-freiburg.de/html/body_ferd__weiss_haus.html
- 5 Siehe www.kirchenbezirk-freiburg.de/aktuelles_f_weiss08.html
- 6 Gelegentlich wird behauptet, die Bettleroper ruinierte mit seinem großen Erfolg die Händelschen Opern. Tatsächlich gibt es aber keine Belege für diese These, obwohl insgesamt mit dem Erfolgen der englischsprachigen Ballad Operas der Niedergang der italienischen Opera seria, wie sie von Händel vertreten wurde, einher ging. Hintergrund waren die Bestrebungen jener Zeit, sich von den italienischen Importen zu lösen und eine englischsprachige Oper zu schaffen. Der wirtschaftliche Niedergang Händels als Opernkomponist erfolgte erst 1737 mit dem Bankrott seines Opernbetriebs, also ganze 9 Jahre nach der Bettleroper.
- 7 Hier: Obama, Barack: Mit dem heutigen Tag stehen wir wieder auf, Antrittsrede als Präsident der USA vom 20.1.2009.
- 8 Eine Übersicht über die Formulare zum Arbeitslosengeld II ist auf den Seiten der Arbeitsagentur zu finden. Siehe http://www.arbeitsagentur.de/nn_26642/zentraler-Content/Vordrucke/A07-Geldleistung/Allgemein/Formulare-Arbeitslosengeld-II.html
- 9 Eine sehr genaue Beobachtung zu den verschiedenen Strategien, Erfolgsausichtungen und Wirkungen des Bettelns ein Aufsatz von Wilhelm Genazino im Programmheft. Vgl. Genazino, Wilhelm: Momentweise betäubt. Über das Betteln. Zuerst erschienen in: »Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit« im Suhrkamp Verlag, herausgegeben von Johannes Ullmaier, initiiert und gefördert im Programm »Arbeit in Zukunft« der Kulturstiftung des Bundes, Copyright: Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007.
- 10 Brecht und Hauptmann erarbeiten von März bis Mai 1928 gemeinsam eine erste Textfassung, einen großen Teil des Theaterstücks schrieb Hauptmann dann selbst. Im Programmheft der Uraufführung wird Elisabeth Hauptmann noch genannt: Die Dreigroschenoper von John Gay, übersetzt von Elisabeth Hauptmann in der Bearbeitung von Bert Brecht. Später aber im Zuge der weltweiten Erfolgsgeschichte wird Elisabeth Hauptmann nicht mehr genannt oder gewürdigt. Das Stück wird umfangreich multimedial ausgeschlachtet (Der Dreigroschenroman, sowie ein Film und auch Schallplattenaufnahmen entstehen) und kommerziell verwertet, aber auch hier sind die Gewinne ungleich verteilt. Brecht 62,5 Prozent, Weill 25 und Elisabeth Hauptmann lediglich 12,5 Prozent.
- 11 Vergleiche O'Flaherty, Brendan: Making Room: The Economics of Homelessness. Cambridge: Harvard University Press, 1996, S. 269
- 12 Ein flashmob ist ein kurzer, scheinbar spontaner Menschenauflauf auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen, bei denen sich die Teilnehmer persönlich nicht kennen. Flashmobs werden über Email, per Mobiltelefon, Weblogs oder Online-Communitys organisert. Obwohl die Ursprungsidee explizit unpolitisch ist, gibt es mittlerweile auch Flashmobs mit politischem Hintergrund.
- 13 Siehe www.guardian.co.uk/world/2008/sep/22/religion.socialexclusion
- 14 Vgl. dazu ausführlich: Katlewski, Bruno: Dreigroschenoper? Die ist bei mir jeden Tag!" Wie sf-Verkäufer Bruno Katlewski aus Brechts Dreigroschenoper seinen Nutzen zieht. In: strassenfeger, Ausgabe 21/2006, Seite 15. Siehe: www.strassenfeger.org/article/1584.0015.html
- 15 Theodor W. Adorno: Zur Musik der Dreigroschenoper. In: Unseld, Siegfried (Hrsg.): Bertolt Brechts Dreigroschenbuch. Texte, Materialien, Dokumente, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986