Christiane Molkenbuhr zum 50. Geburtstag am 15.06.2008
Der Prozeß, bei dem ein externer Reiz mit einer bestimmten Reaktion so verbunden wird, daß eine spätere Reaktivierung dieses Reizes wiederum zu dieser Reaktion (auch in einer abgeschwächten Weise) führt. Beim Ankern wird eine absichtliche Assoziation zwischen einem Reiz und einem bestimmten Erlebnis hergestellt. (Cameron-Bandler 1978, 95). Ankern macht einen bestimmten Reiz zum Anker.
Die beste Zeit des Hochschulring war vorbei. Wir wussten es nicht, aber spürten es. Nach Straßburg und Moskau konnte es nichts größeres mehr geben. Albanien murmelten die einen, Cuba die anderen. Niemand hatte mehr Kraft, das zu wollen. Weil die Älteren schon an den Beruf denken mussten, oder an Familie, oder weil das zunehmende Alter erste Abnutzungserscheinungen zeitigte? Oder weil die jüngeren nicht genug Initiative hatten? Weil erst eine neue Generation kommen mußte? Egal. An diesen Abenden, wo wir uns trafen, tranken, rauchten und redeten, was es Chrissi, die mit diesem Vorschlag kam. Keine Ahnung, wo sie den Tip her hatte, aber Chrissi hatte immer noch den einen oder anderen Kontakt, von dem ich keine Ahnung hatte. Es gäbe dort ein Segelschiff und wir könnten doch. Der Vorschlag war schwer mehrheitsfähig, wohl deshalb, weil er kein Übermäß an politischer Theologie verlangte und offenbar einen archaischen Nerv trav, der bisher nicht bedient wurde. Immerhin war es ein Oldtimer aus Holz, ein Schiff mit zwei Masten und Einzelkojen. Von Kiel sollte es losgehen, über ein langes Wochenende, irgendwo auf der Ostsee. Der Preis war verträglich, und dass Shorty, der sich mit Segeln offenbar auskannte, auch schwer dafür war, gab wohl den letzten Ausschlag.
Die Überfahrt nach Bagenkop auf Langeland hat mein Leben verändert, weil hier meine Gewißheit entstand, Segeln zu lernen und damit: Ankern zu können. Der halbe Hochschulring lag seekrank danieder, und wer nicht seekrank war, war wie berauscht von der Gewalt des Seegangs, den korkenziehergleichen Bewegungen der Colin Archer namens Rakel im Seegang, der Gischt und den abfließendenden Wellenkronen auf dem Vordeck. Den Rest besorgte das Bier. Nicht wenige haben sicher mitten auf der Ostsee, und Land war nicht in Sicht, bereut, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben. Wie es Chrissi dabei ging, keine Ahnung, aber ich weiß, dass es ihr auch gut ging auf dieser Reise. Die nächsten Tage entschädigten mit moderaten Winden und schönem Wetter: Sonnenschein in jeder Hinsicht. Falk war der Skipper, der eine leere Zigarettenschachtel über Bord schmiss und sagte: „Guck mal, wie lange Du das beobachten kannst!“ Nicht lange. „Viel mehr ragt auch nicht aus dem Wasser heraus, wenn Du über Bord gehst.“
Es war gar nicht lange, als Chrissi und ich uns wieder begegneten, und - nicht nur, aber auch - eine Urlaubsreise planten. Die Masurische Seenplatte war aus vielen Gründen wichtig. Endlose Fahrten durch endlose Alleen, einen Anker im Gepäck. Tycho Brahe und ein Boot, das Heimat war und uns zwischenzeitlich zur Verzweiflung brachte, rauschende Regenfahrten und der Gang mit Kombizange und Schraubenzieher aufs Vordeck, weil das Vorstag plötzlich lose war, ein geklauter Motor in Krzyze und weitaus weniger Probleme auf der motorlosen Rückreise als gedacht, B-Noten bei Hafenmanöver (anderer) in Gizycko, Heckanker und Anlegemanöver unter Segeln, Besuche von Thomas und Carmen, Insel- und Kneipenerkundungen, Seebeine beim Landgang und bestes polnisches Zywiec, der Stinthengst bei Mikolaiky und Treidelfahrten mit einer bunten Leine, die jetzt noch zum Einsatz kommt, Manöver und deren Absprache vor Landfall, Flauten und leichte Winde und eine ganze Gruppe zu Gast in unserer Koje, die für andere wie eine luxuriöse Halle wirkte. Auch NLP und Rheuma. Und auch, eine zweite Fahrt, die offenbarte, was uns trennte. Klar und unmißverständlich.
Was bleibt ist eines, die Erfahrung, zu ankern, sicher ankern zu können. Die Voraussetzung, um aufbrechen zu können. Die Gewißheit, dass ein Ziel sich zeigen, ein Weg sich finden wird. Dass ein Ankommen möglich ist, ein sicheres Bleiben, oft nur für eine Nacht, und das alles in Ordnung ist. Dass Respekt, und manchmal Angst, aber fast immer ein flaues Gefühl im Bauch notwendig ist, um weiter zu kommen, um den Weg zu finden. Wir haben oft geankert in jenen Tagen, und es hat uns weiter gebracht, sehr weit. Das Zentrum der Kraft haben wir auch gefunden in jenen Tagen, das ist dort, wo der Baum den Mast trifft und wo alle Fallen zusammen kommen, mit denen wir tags die Segel setzten. Wir fanden diesen Punkt, und wir liebten ihn, wenn wir ihn abends betrachteten, im letzten Licht des Tages, sicher vor Anker liegend.
Berlin, 22.04.2008
Stefan Schneider