Flattr thisEine der großen Überraschungen meiner Reise nach Weingarten/ Ravensburg Anfang 2009 war die Entdeckung von Elfriede Lohse-Wächtler im Rahmen einer Ausstellung im nahegelegenen Friedrichshafen. Das Poster mit diesen Farben, diesem Ausdruck und dieser Haltung, es sprach mich unvermittelt an und der nachfolgende Besuch im Zeppelin-Museum Friedrichshafen war absolut lohnenswert und eindrucksvoll. Wenn ich im folgenden überwiegend ihre (Selbst-)portraits dokumentiere, dann zeige damit auch, was mich bewegt: Wer ist diese Frau, die sich so erschütternd, dramatisch und bewegend inszeniert? Der nachstehende Text ist das Resultat einer ersten Auseinandersetzung.

Stefan Schneider, Berlin 12.01.2009

PDF Schneider, Stefan: Ich allein weiss, was ich bin. Elfriede Lohse-Wächtler (1899-1940). Berlin 2009.pdf


Unter den Wohnungslosen treffen wir immer wieder auf herausragende Schriftsteller und Künstler, die zumindest phasenweise obdachlos waren oder zeitweise auf der Straße lebten. Zu ihnen gehören Persönlichkeiten wie Hans Ostwald, Jo Mihaly, Jonny G. Rieger, Hans Tombrock, Sebastian Blei oder Karin Powser. Eine grossartige Künstlerin, die erst in den letzten Jahren wieder entdeckt und mit Einzelausstellungen gewürdigt worden ist, ist Elfriede Lohse–Wächtler (1899 – 1940). Sie war hochbegabt und hochsensibel, unangepasst und mutig und ein vielseitiges künstlerisches Talent. Sie wurde psychisch krank, wohnungslos, später Opfer der NS-Euthanasie: entmündigt, zwangssterilisiert und schliesslich vergast. Es ist hypothetisch zu diskutieren, welchen Verlauf ihr Leben und ihre künstlerische Karriere hätte nehmen können, hätte sie damals in Hamburg adäquate Angebote der Wohnungslosenhilfe finden können, die auf ihre psychosoziale Notlage angemessen reagiert hätten. Aber ihr Lebensweg ist eine sehr deutliche Aufforderung, wohnunglose Menschen von ihren Stärken, Fähigkeiten und Kompetenzen her zu verstehen und nicht nur mit dem Blick auf Defizite und Schwächen.

Elfriede Lohse-Wächtler, Selbstbildnis mit Zigarette

Kindheit, Jugend

Elfriede Lohse-Wächtler wird als Anna Frieda Wächtler am 4. Dezember 1899 in Löbtau bei Dresden geboren. Sie will Elfriede genannt werden, da sie ihre Taufnamen nicht mag. Nach Abschluss der Bürgerschule beginnt sie im Herbst 1915 ein Studium an der Dresdner Königlichen Kunstgewerbeschule und belegt die Fachklasse Mode bei Margarete Jung. Gegen den Willen ihres Vaters, der für sie eine Ausbildung zur Bühnenbildnerin und Kostümschneiderin ins Auge gefasst hat, wechselt sie in die Fachklasse Angewandte Graphik bei Oskar Georg Erler. Im Alter von 16 Jahren zieht sie bei ihren Eltern aus, beginnt ein Leben als freie Künstlerin und verdient ihren Lebensunterhalt mit Batik-, Postkarten- und Illustrationsarbeiten sowie Lithographien. Sie bricht radikal mit dem herrschenden Weiblichkeitsideal, nennt sich Nikolaus Wächtler, schneidet sich die Haare ab, trägt fortan ungewöhnliche, selbstgeschneiderte Kleidung, raucht Pfeife und steht revolutionären Veränderungen in der Gesellschaft aufgeschlossen gegenüber. Ab 1919 studiert sie an der Hochschule für Bildende Künste bei Otto Gussmann. Sie wohnt im Atelier von Conrad Felixmüller im Dresdener Zentrum, das schnell zum Treffpunkt eines illustren Künstlerkreises wird.

"Laus", wie die Freunde sie nennen, ist begeistert von Dada und sucht Kontakt zu dem Berliner Oberdadaisten Johannes Baader, besucht Veranstaltungen des Spartakusbundes. verkehrt in der Dresdener Boheme, so der Sezession Gruppe 1919 mit Otto Dix, Conrad Felixmüller, Pol Cassel und Otto Griebel. Letzter berichtet noch Jahre später:

"Plötzlich zog Laus alle Sachen runter und tanzte splitternackt mit der Tabakspfeife zwischen den Zähnen vor uns. Laus konnte sich so etwas unbeschadet leisten, sie war exzentrisch, ihr gefiel alles aussergewöhnliche, aber nie das Gemeine, und dieser Nackttanz war grossartig und gar nicht ordinär."

Lohse_Waechtler_Elfriede/Lohse_Wächtler, Elfriede - Mülleimerdurchsicht 1930 - Foto: Stefan Schneider

Ehe - Psychiatrie - Erfolg - Obdachlosigkeit

1919 verliebt sie sich in den Maler und Opernsänger Kurt Lohse, einem Freund von Dix. Die Verbindung  steht von Anfang an unter keinem guten Stern, zu verschieden sind ihre Charaktere. Lohse ist rücksichtslos, verschwenderisch und lebt von Gelegenheitsarbeiten. Dennoch heiraten beide am 6. Juni 1921 in Dresden und ziehen in die Sächsische Schweiz oberhalb von Wehlen, wo sie ein freies und ungebundenes Leben leben - hauptsächlich auf Pump. Die künstlerische Arbeit gedeiht, die Partnerschaft, von heftigen, zum Teil gewalttätigen Auseinderandersetzungen bedroht, leidet jedoch. Als der Gerichtsvollzieher diese Episode beendet, nimmt. Lohse verschiedene Engagements an kleinen Stadttheatern an, Elfriede Lohse-Wächtler zieht vorübergehend sogar in ihr Elternhaus.

1925 folgt Elfriede Lohse-Wächtler ihrem Mann, der nun Chorsänger am Stadttheater Hamburg ist, in die Hansestadt. Dort schliesst sie sich dem von Ida Dehmel gegründeten Bund Hamburgischer Künstlerinnen an. Die Ehe ist bald wieder in einer Krise, die Zeit ist geprägt von wirtschaftlicher Not und  Lohses Seitensprüngen. Sie verdient mit ihrer Kunst schlecht und beantragt beim Hamburger Senat finanzielle Unterstützung. Das Paar trennt sich 1926 erneut und Lohse zieht mit seiner Geliebten zusammen, die im Februar 1927 von ihm ein Kind bekommt, das erste von insgesamt fünf. Ein tiefer Schock für Elfriede Lohse-Wächtler, die wegen ihrer geringen finanziellen Mittel mehrfach abgetrieben und bereits eine Fehlgeburt erlitten hat. Erste Symptome einer psychischen Erkrankung zeigen sich im Januar 1929. Übersteigerte Nervosität und Vervolgungswahn. Ihr jüngerer Bruder Hubert besucht sie in Hamburg und stellt fest, dass sie zu keinem Menschen vernünftig sprechen kann und keine vernünftigen Gedanken mehr hat. Zusammen mit dem Künstlerfreund Johannes Baader bringt er sie am 4. Februar 1929 in die Staatskrankenanstalt Hamburg-Friedrichsberg. Baader hält dazu in einem Brief an Otto Dix fest:

Elfriede Lohse-Wächtler, Selbstzeichnung mit Zigarette - Foto: Stefan Schneider"Wären Geld und Haus und Menschen, die sich ihr ausschliesslich widmen konnten, vorhanden gewesen, so hätte sich die Einweisung in die Psychiatrische Klinik (vielleicht) erübrigt. Das Einschnappen in die pathologische Situation ist ausgelöst worden durch das allmählich eingetretene völlige Versagen jeder Existenzmöglichkeit; dazu kam das Ringen zwischen Kurt Lohse und ihr, und die Notwendigkeit, den Besitz von K.L. (dem sie zutiefst und unauflöslich verknüpft ist) mit einer anderen Frau zu teilen. So rettete sie sich, wie der psychologische Terminus lautet, in die Krankheit."

Nach der Aufnahmeuntersuchung wird sie zunächst in einem grossen Saal untergebracht. Gegen ihren Willen muss sie in der ersten Zeit im Bett bleiben. In der erhalten gebliebenen Patientenakte finden sich Hinweise über ihren Zustand. Sie ist unruhig, läuft viel im Saal umh

er, ist unbeständig in ihren Stimmungen, zerstreut, weinerlich und leidet unter Entzugserscheinungen, da sie nicht rauchen darf. Den Aufenthalt empfindet sie als Qual, gleichzeitig entwickelt sie schon bald einen enormen Schaffensdrang. Bereits drei Tage nach ihrer Einweisung beginnt sie wieder zu zeichnen, es entstehen 60 Zeichnungen und Pastelle,  Porträts ihrer Mitpatientinnen, die sogenannten “Friedrichsberger Köpfe". Sie werden später von der Kunstkritik enthusiastisch gelobt. Die Kopf- und Halbkörperporträts zeigen verwirrte, debile und leidende Menschen. Nach einem siebenwöchigen Aufenthalt wird  Elfriede Lohse-Wächtler stabilisiert entlassen. Jedoch ist der Stationsarzt unsicher über die Diagnose: "Schizophrenie? Transitorische Psychose einer Instabilen?"

Elfriede Lohse-Wächtler - Bild - Foto: Stefan Schneider

Mit einer Ausstellung der "Friedrichsberger Köpfe" im Hamburger Kunstsalon Maria Kunde wird sie über Nacht bekannt und erhält gute Kritiken.  Weitere Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen folgen. Doch der geringe Erlös aus den wenigen Verkäufen reicht nicht aus, um die Existenz zu sichern. Sie beginnt, innerlich unruhig, durch St. Pauli zu ziehen. Leidenschaftlich malt sie gegen die materielle Verelendung an. Es ist ihre produktivste Zeit. Sie lebt, liebt, hungert und malt mit den Randfiguren der Gesellschaft zwischen Hafen und Herbertstrasse. Sie zeichnet in Amüsierlokalen und Bordellen, porträtiert treffsicher das Milieu der Huren. Doch das Leben am gesellschaftlichen Rand verstärkt auch ihre Isolation und Vereinsamung. Psychisch geht es ihr immer schlechter, Selbstporträts zeigen ihren Verfall. Ohne jegliche "Wohlfahrtsunterstützung" verliert sie 1931 ihre Wohnung, wird obdachlos und übernachtet mehrere Monate auf der Strasse und in Bahnhofswartehallen.

Dresden, Arnsdorf und Euthanasie

Physisch und psychisch am Boden und mittellos kehrt sie im Sommer des Jahres 1931 zu ihren Eltern nach Dresden zurück. Im März 1932 muss sie wegen einer Fussverletzung in das Stadtkrankenhaus. Weil sich ihr seelischer Zustand weiter verschlechtert, liefert sie ihr Vater am 17. Juni 1932 in die Landesanstalt Arnsdorf ein. Offenbar ohne weitere Prüfung wird vom zuständigen Stationsarzt  Schizophrenie diagnostiziert. Zunächst, in den ersten drei Jahren, bleibt sie künstlerisch aktiv - sie fertigt Porträts von Ärzten, Krankenschwestern und Patienten, schneidert nach eigenen Entwürfen und Schnitten Kleider und Kostüme. Sie hat auch Freigang, die Anstalt erlaubt ihr Ausflüge mit den Eltern und mehrwöchige Sommerurlaube.

Im Jahr 1935 trifft sie das Gesetz zur Verhütung genetisch erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, dass die Zwangssterilisation von vermeintlich genetisch Kranken (Schizophrenie, Manisch-depressive Krankheit, Chorea Huntington, erbliche Blindheit und Taubheit, schwerer Alkoholismus) gestattete: Elfriede Lohse-Wächtler wird entmündigt,  am 10. Mai 1935 wird Kurt Lohses Antrag, die Ehe "wegen unheilbarer Geisteskrankheit" zu scheiden, vom Preussischen Landgericht Altona stattgegeben. Sie wird am 20. Dezember 1935 zwangssterilisiert.  Ihre Persönlichkeit ist gebrochen, künstlerisch fühlt sie sich zerstört.  Es folgt die physische Vernichtung, die Rationen in der Anstalt werden reduziert, der Hungertod ist die erwünschte Konsequenz. Elfriede Lohse-Wächtler überlebt dies mehrere Jahre. 1937 werden ihre Arnsdorfer Bilder als Entartete Kunst zerstört. Am Vormittag des 31. Jui 1940 besteigt sie einen graugrünen Bus mit zugeklebten Fensterscheiben. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein ist ihre letzte Station. Noch am selben Tag wird sie zusammen mit 25 anderen Frauen vergast und danach eingeäschert. Noch kurz zuvor bemühte sich ihre Mutter vergeblich um die Entlassung der Tochter. Laut Todesanzeige vom 12. August 1940 verstarb Elfriede Lohse-Wächtler an einer Lungenentzündung mit Muskelschwäche, "trotz aller Mühen der Ärzte, die Patientin am Leben zu erhalten". 

Elfriede Lohse-Wächtler, Ostergrüsse - Foto: Stefan Schneider

In den Jahren 1940 und 1941 ermordeten die Nationalsozialisten allein in der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein 13.720 vorwiegend psychisch kranke und geistig behinderte Menschen in einer Gaskammer. Insgesamt wurden im Rahmen der Aktion T4 unter Leitung von Dienststellen der NSDAP und einer speziell geschaffenen Zentrale der Vernichtungsaktion in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin in den Jahren 1940 und 1941 mehr als 70.000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen, Alters- und Pflegeheimen und Krankenhäusern vergast.

Im Jahr 1999 wird zum Gedenken an sie im Sächsischen Krankenhaus Arnsdorf eine Stele errichtet und ein Stationshaus nach ihr benannt. In Pirna-Sonnenstein wird ihr 2005 eine Straße gewidmet, seit Februar 2008 trägt auch in Arnsdorf eine Straße ihren Namen.


Ausstellungen


Webseiten


Elfriede Lohse-Wächter Plakat - Foto: Stefan Schneider

Literatur

  • Elfriede Lohse-Wächtler.1899-1940. Von Doris Blübaum, Bettina Brand-Claussen, Thomas Röske, Rainer Stamm, Daniela Weinstock. Katalog zur Ausstellung in Friedrichshafen und Bremen. Tübingen, Berlin: Wasmuth Verlag 2008
  • Duda, Sibylle. 1999. “Elfriede Lohse-Wächtler”, in: Duda, Sibylle & Luise F. Pusch. Hg. 1999. WahnsinnsFrauen. Dritter Band. Frankfurt/M. suhrkamp TB 2493. S. 139-171.
  • Heilemann, Hubert: Elfriede Lohse-Wächtler – Dresdener Künstlerin, Arnsdorfer Patientin, ermordet auf dem Sonnenstein. In: W. Weig, H. Heilemann (Hrsg.): Gewalt gegen psychisch Kranke: gestern – heute – und morgen? Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus unter den psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Regensburg: Roderer, 2001,13-23 (Schriftenreihe der Bundesdirektorenkonferenz Psychiatrischer Krankenhäuser. Band 5)
  • Küster, Bernd (Hrsg.): Malerinnen des XX. Jahrhunderts: Dora Bromberger, Maria von Heider–Schweinitz, Elfriede Lohse–Wächtler, Erna Schmidt–Caroli, Ursula Schuh, Rose Sommer–Leypold. Bremen 1995.
  • Peters, Anne/ Smitmans, Adolf (Hrsg.): Paula Lauenstein, Elfriede Lohse-Wächtler, Alice Sommer: Drei Dresdener Künstlerinnen in den zwanziger Jahren. Städtische Galerie Albstadt, 24. November 1996 bis 19. Januar 1997. Albstadt. Städtische Galerie 1996.
  • Reinhardt, Georg: Im Malstrom des Lebens verweht. Elfriede Lohse-Wächtler 1899 - 1940. Wienand-Verlag, Köln 1996
  • Sondermann, Regine: Kunst ohne Kompromiss. Die Malerin Elfriede Lohse-Wächtler. 1899 - 1940. 2. überarb. Auflage, Weissensee Verlag, Berlin 2008
  • Stadler, Siegfried: Würgende Angst. Krankenmord: Letzte Bilder von Elfriede Lohse-Wächtler. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.209, 8.9.2000, S.51
  • Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer Politischer Gewaltherrschaft (Hrsg.): ”… das oft aufsteigende Gefühl des Verlassenseins”: Arbeiten der Malerin Elfriede Lohse-Wächtler in den Psychiatrien von Hamburg-Friedrichsberg (1929) und Arnsdorf (1932 - 1940). Hg. von der S Dresden: Verlag der Kunst 2000

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