Hans Klunkelfuß/ Stefan Schneider
Quo vadis strassenzeitungen? Skizzen für eine bundesweite Initiative.
Als die Idee der Straßenzeitungen - vordergründig betrachtet - anfang der 90er Jahre aus den USA über England (BIG ISSUE) und Frankreich nach Deutschland kam, gründeten sich in Hamburg (Hinz und Kunzt) und München (BISS) die ersten Projekte. Viele andere Städte folgten in den darauffolgenden Jahren, bis heute sind weitere Zeitungsprojekte in Gründung. Inzwischen haben wir im deutschsprachigem Raum eine Landschaft von etwa 40 regionalen, voneinander unabhängigen lokalen Zeitungsprojekten. Diese Vielfalt kann produktiv sein, hat aber auch einen hohen Preis: Diese Vielfalt bedeutet, daß etwa 40fach Mietkosten für Redaktionsräume, 40fach Redaktions-, Lay-Out-, Belichtungs- und Druckkosten anfallen, ganz zu schweigen von allen anderen noch anfallenden Kosten. Und daß diese Vielfalt tatsächlich produktiv sein kann, wurde als Beweis bisher noch nicht erbracht: Trotz gegenteiliger Bekundungen "wurschtelt" die Mehrzahl aller Zeitungsprojekte vor Ort herum oder ist sogar in seiner Existenz bedroht. Damit - so sagen einige Kritiker - werden die Wohnungslosen selbst um Einnahmen gebracht, über die sie unmittelbar oder in Form von Selbsthilfefonds verfügen könnten. Dem entgegen steht das Modell einer bundesweiten Zeitung, die auf regionalen (Selbsthilfe-) Strukturen beruht und das schon jetzt seine politische und ökonomische Effizienz unter Beweis stellt.
Das im wesentlichem von Hans Klunkelfuß und den "Looser"-Leuten aus dem Odenwald und Stefan Schneider sowie den "strassenfeger"-Leuten aus Berlin entwickelte Konzept geht davon aus, daß eine bundesweit verbreitete Straßenzeitung durchaus von mehreren regionalen Projekten herausgegeben werden kann. Das zentrale Argument für eine solche Idee jedoch war und ist die Kostenfrage und die sich daraus ergebenden organisatorischen und politischen Notwendigkeiten und Konsequenzen.
Es ist schlichtweg erheblich preisgünstiger, eine gemeinsame 100.000er Auflage 1x zu Lay-Outen, 1x zu Belichten und 1x zu Drucken als - getrennt voneinander - zwei 50.000er Auflagen 2x zu Lay-Outen, 2x zu Belichten und 2x zu Drucken. Eine solche Kostenkalkulation war auch der ausschlaggebende Grund dafür, auf die ursprüngliche Idee von Austauschseiten (etwa 24 Seiten gemeinsame Zeitung, jeweils 8 auszutauschende Seiten für jede Region) zu verzichten. Eine solche Lösung hätte kaum was an Kosten eingespart. Das Modell einer gemeinsamen Zeitung wird dabei um so effizienter, je mehr Zeitungen sich daran beteiligen. Die damit verbundenen Mehrkosten an Kommunikation (vor allem Telefon und Fax) und Transport (von der Druckerei zu Vertriebsort X im Bundesgebiet) sind demgegenüber verschwindend gering. Und von der Finanzierungs-Struktur aufgrund der Auflagenstärke ist das Modell durchaus auch in der Lage, unterschiedlich auflagenstarke Partner integrieren zu können: Die gemeinsamen Kosten für Lay-Out, Belichtung und Druck werden - so die Grundsatzvereinbarung zwischen "Looser" und "strassenfeger" - präzise nach Anteil der georderten Auflage berechnet (wer nur 1% der Auflage benötigt und in Auftrag gibt, zahlt auch nur 1% der mit der Produktion verbundenen Kosten). Auch die durch Werbung einnehmbaren Kosten werden quotiert aufgeteilt.
Vier wichtige Fragen allerdings wurden aus diesem auflagenorientierten Quotierungsmodell bewußt ausgeklammert und anderweitig gelöst:
Zum einen die Frage nach der redaktionellen Beteiligung. Es ist jedem der Partner freigestellt, wie stark er sich redaktionell einbringen will. So ist es im Extremfall vorstellbar, daß ein auflagenstarker Partner sich nahezu völlig aus der Redaktionsarbeit heraushält, ebenso könnte ein kleiner Partner sich sehr stark redaktionell einbringen. Die Kosten für redaktionelles Arbeiten hat jedes Projekt selbst zu tragen.
Und zum zweiten ist jedes Projekt, welches in dieses Modell mit einsteigt, selbstverständlich auch Herausgeber dieser gemeinsamen Zeitung. Daß damit das Impressum, welches die verschiedenen Herausgeber, Redaktionen und Vertriebsstandorte und Autoren kennzeichnet, im Laufe der Zeit immer länger wird, ist eher ein marginales Problem.
Auch drittens die Frage eines (gemeinsamen bzw. neuen) Namens dieser bundesweiten Zeitung wird im Laufe der Zeit einvernehmlich zu klären sein. Als Namensvorschlag liegt bisher vor: "die strassenzeitung". Um nichts anderes geht es dabei.
Viertens: Die (formale) Ausschlußklausel ist ebenso einfach wie einleuchtend: Wer innerhalb eines Monats nach Anfall der Produktionskosten seinen in Auftrag gegebenen Auflageanteil nicht bezahlt, ist draußen.
Die politischen Effekte und Konsequenzen eines solchen Kooperationsmodells sind auf mehreren Ebenen beschreibbar:
1) Formal sind die Herausgebervereine dazu gezwungen, Modalitäten zu entwickeln und zu beschreiben, wie diese gemeinsame Herausgeberschaft demokratisch, transparent und prinzipiell offen zu gestalten ist. Das beinhaltet Entscheidungsprozesse durch die Mitgliederversammlungen und Verfahrensregelungen zur Umsetzung. Ein Netzwerk regionaler Vereine und Projekte, verbunden durch die gemeinsame Herausgeberschaft, wird und muß entstehen, und damit eine neue Organisationsform von Selbsthilfeprojekten Wohnungsloser.
2) Inhaltlich hebt dieses Modell den latenten Widerspruch von lokalem Handeln und bundesweitem Anspruch auf. Indem jedes lokale bzw. regionale Straßenzeitungsprojekt sich an den Produktionskosten einer bundesweiten Zeitung beteiligen kann, bleibt ein Differenzbetrag zwischen den (anteiligen) realen Produktionskosten der Zeitung und den erzielbaren Einnahmen aufgrund des realen Abgabepreises vor Ort an die Verkäufer. Damit hätte jedes einzelne regionale Projekt die Chance, seine eigenen Vorstellungen und Konzepte ohne jede hegemoniale Bevormundung eigenständig, ungebunden und autonom entsprechend der jeweiligen finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten entwickeln zu können.
3) Redaktionell mag es zunächst als Bedeutungsverlust erscheinen, wenn regionale Themen zugunsten einer bundesweiten Ausgabe "zu opfern" wären. Andererseits erhält ein regionales Thema erst dann seine wahre politische Sprengkraft, insofern es im bundesweitem Rahmen und in einer bundesweiten Zeitungsausgabe bekannt gemacht werden kann. Insofern stehen regionaler Bezug und bundesweite Relevanz in einem produktiven Verhältnis. Aufgrund bestehender Erfahrungen gibt es sowieso in jeder Redaktion eine potentielle Konkurrenz über Themen, Schwerpunkte, redationelle Akzentsetzungen und politische Vorgaben. Insofern ist es keine neue Qualität, sondern einfach nur eine in andere Größenordnungen verlagerte Problematik, wenn sich die (potentiellen) Herausgebervereine einer bundesweiten Straßenzeitung darauf gefaßt machen müssen, daß inhaltlich und redaktionell ein um das andere Mal die Fetzen fliegen werden. Auch hier gilt das Prinzip, daß aufgrund des gemeinsamen Interesses an der Produktion einer gemeinsamen Zeitung Lösungen gefunden werden müssen - und sei es, daß man die Uhren anhält solange, bis eine Einigung erzielt ist. Niemand wird vernünftigerweise riskieren können, aufgrund redaktioneller Differenzen eine gemeinsame Ausgabe platzen zu lassen, schon allein in Rücksichtnahme auf die Verkäufer, die eine neue Ausgabe mit Recht von den Herausgebern erwarten können.
Es erfordert nicht zuletzt auch ein gewisses Maß an Größe der einzelnen Herausgeber(-vereine), kontroverse inhaltliche Positionen in EINER Zeitung zulassen zu können, weil genau dieses offene Austragen von Konflikten den zentralen Bestandteil eines notwendigen Diskurses darstellt.
4) Vertriebsmäßig wird mit der Idee einer gemeinsamen Zeitung das vielfach quälend diskutierte Konkurrenzproblem (zumindest partiell) außer Kraft gesetzt. Niemand aus A-Stadt wird in B-Stadt eine Konkurrenz etablieren wollen, wenn es dort ohnehin schon die gemeinsame Zeitung zu kaufen bzw. zu verkaufen gibt. Gemeinsamkeiten machen Konkurrenzen sinnlos. Zu klären wird allerdings sicherlich die Frage sein, wer baut wo neue Vertriebsstandpunkte und Strukturen auf. Diese Frage wird auf der Ebene der Zuordnung zu den einzelnen Herausgebervereinen lösbar sein. Zudem wird es im gemeinsamen Interesse sein, neue Vertriebsstandorte - unabhängig von der Frage: wer verdient daran? - aufzubauen, da die damit verbundene Steigerung der Auflage ohnehin die anteilsmäßig zu zahlenden Gesamtkosten weiter senken wird.
5) Dennoch wird die Frage der Konkurrenz weiterhin ein Problem bleiben. Projekte, die weiterhin auf ihre lokale Eigenständigkeit beharren, werden aufheulen, wenn sich in "ihrer" Stadt Vertriebsstrukturen einer "anderen" Zeitung etablieren - und sei es allein nur deshalb, weil Verkäufergruppen eine Alternative zur etablierten Zeitung suchen und finden und einfach ein paar hundert oder tausend Exemplare der bundesweiten Zeitung zum Anteilspreis bestellen und vor Ort verkaufen wollen. Damit ist aber auch klar, die Idee einer bundesweiten Zeitung beinhaltet einen klaren Wettbewerbsvorteil, vor allem wegen der besseren Rentabilität (Effektivität). Leider, oder vielleicht auch zum Glück, gibt es keine Instanz, die verhindern könnte, daß (potentielle) Verkäufer einer Straßenzeitung, an welchem Ort in Deutschland auch immer, genau die Straßenzeitung verkaufen, die sie verkaufen wollen.
Es wird selbstverständlich die Aufgabe aller an diesem Projekt einer gemeinsamen bundesweiten Straßenzeitung beteiligten gemeinnützigen Vereine sein, darzulegen, daß die Gelder ausschließlich und unmittelbar den in der jeweiligen Satzung definierten gemeinnützigen Zwecke zugute kommen.
6) Die Optimalform der Organisation ist sicherlich die Herausgeberschaft durch gemeinnützige Vereine, sodaß die Entscheidung über eine gemeinsame Herausgabe demokratisch von den einzelnen Vereinen entschieden und beschlossen werden muß, ebenso bedarf es sicher der Zustimmung der bestehenden Partner, ob neue Partner mit in Boot genommen werden sollen. Zwischen den Mitgliederversammlungen werden es sicher die Vorsitzenden der herausgebenden Vereine sein, die über Streitigkeiten und in Konfliktfällen zu entscheiden haben. Damit ist vom Modell her eine basisdemokratische Struktur zugrundegelegt, aufgrund des einfachen Arguments, daß, je mehr Projekte sich an der Idee einer bundesweiten Zeitung beteiligen, der Einfluß des einzelnen Projektes abnimmt, sodaß, ähnlich dem Modell der EU, in Zukunft ein "Rat der Herausgeber" vorstellbar ist, der einvernehmlich zu entscheiden hat und dessen Vorsitz (und die damit verbundenen Aufgaben der Koordination) turnusgemäß zu wechseln hätte. Die Effizienz eines solchen Gremiums ist schlichtweg gewährleistet durch gegenseitige Verpflichtung, eine solche Zeitung produzieren zu wollen bzw. zu müssen. Inhaltliche Differenzen wären dann solange zu diskutieren, bis eine konsensuale, einstimmmige Entscheidung gefunden ist. Andererseits wird es sich kaum ein Projekt leisten können, diesen Verbund aufgrund zweitrangiger Fragestellungen aufkündigen zu können.
7) Noch sehr viel bedeutsamer: Wachsen kann damit ebenso die Organisation der Obdachlosen und der Verkäufer selbst. So macht es Sinn, daß sich bundesweit Verkäufer und andere "Penner" treffen etwa zu der Love- oder zu der Hanf-Parade in Berlin, zu den Hessentagen im Odenwald, zum Katholikentag in Mainz oder zu anderen Massenveranstaltungen, nicht zu letzt deswegen, weil die Teilnahme bei einem solchen Treffen auch finanzielle Einnahmen verspricht. Aber auch unmittelbar politisch: Werden irgendwo in der Bundesrepublik Obdachlose durch Beamte, Behörden, Polizei oder Sicherheitsdienste oder wem auch immer malträtiert, ungerecht behandelt, bedroht, geschlagen oder schikaniert, muß damit gerechnet werden, daß schon wenige Stunden später hunderte oder tausende von "Penner" anreisen werden, die dann sehr eindrucksvoll und nachhaltig deutlich machen werden, daß so mit ihnen und ihresgleichen nicht umgesprungen werden kann. Kein Kommunikationsdienst ist schneller und effektiver als das "Berbertelefon".
Und übrigens gibt es feste Traditionen der Organisation von unten: So (unter anderem) Pfingsten 1929 das Treffen der Internatationalen Bruderschaft der Vagabunden in Stuttgart, 1981 der Erste Stuttgarter Berberkonkreß und 1991 das Treffen der Kunden, Berber, Obdach- und Besitzlosen in Uelzen und für 1999 und 2001 sind weitere Treffen in Planung. Auch unsere Idee einer Bettlerakademie kann auf jahrhundertealte Tradition zurückgreifen.
8) Ein solches Modell kann erfolgreich sein, wenn es von außen nach innen funktioniert: Kein Projekt muß mehr Geld herausschmeißen für teure und repräsentative Redaktionsräume und Leute, die hochbezahlt auf Telefonanrufe warten. Die Zeitung spricht für sich selbst, erzielbare Einkünfte sollten von den Wohnungslosen selbst verwaltet werden. Ein großes Fest für 450 Wohnungslose mit Gänsebraten, Bier bis zum Abwinken und guter Musik kostet eben mal - nach unseren Erfahrungen - mehr als 20.000 Mark - na und? Ein Holzhaus für 2 Obdachlose ("Häuser gegen die Kälte") kostet ebenfalls schlappe 16.000 Mark, wenn es in Eigenleistung errichtet wird. Armut läßt sich nur mit Geld bekämpfen! Da muß doch ein Telefon, ein Fax und ein Internetanschluß für eine bundesweite Zeitung allemal drin sein - über alles das muß nachgedacht werden.
9) Notwendig dazu ist die Gründung oder besser die Definition einer bundesweiten Redaktion. Dabei geht es im Einzelnen nicht so sehr darum, daß bei bundesweiten Redaktionstreffen die Gesamtzahl aller Redakteure bzw. jeder Artikellieferant anwesend sein muß, sondern im Vordergrund muß sicherlich die redaktionelle Koodination, die Zusammenstellung der Ausgabe (zur Übergabe an das Lay-Out) und die Diskussion und inhaltliche Planung der weiteren Ausgaben stehen. Redakteure und Herausgeber bedürfen einander und stehen darüber hinaus in einem dialektischen Verhältnis. Dies kann und wird Konflikte geben ohne Ende. Wir sagen dazu - nach allen unseren schmerzhaften Erfahrungen -, wer das nicht aushalten kann, sollte besser die Finger lassen vom Zeitungsgeschäft. Anders gesagt: Oftmals sind klar und eindeutig ausgetragene Konflikte "der Beginn einer langen Freundschaft". Auch dies stellt - umgekehrt - ein Ausschlußkriterium dar: Wer nicht fair und offen ist, der ist draußen.
Das Modell einer bundesweiten und auf regionalen Selbsthilfestrukturen basierenden Zeitung beinhaltet damit tendenziell Antworten auf bisher gestellte Fragen:
1) So ist die Frage nach einem Dachverband der Straßenzeitungen überflüssig geworden, wenn ohnehin jedes Projekt die Chance hat, sich in die gemeinsamen Strukturen einzubringen. Gleichzeitig werden durch das daraus resultierende effiziente Arbeiten finanzielle Mittel frei, um dachverbandsähnliche Strukturen einer Interessensvertretung, einer Lobbyarbeit und eines ständigen Aktionsbündnisses (aller beteiligten Projekte) realisieren zu können. Das Herz einer solchen Koordinationsstelle wird Berlin sein (müssen), allein schon aufgrund der räumlichen Nähe zur zukünftigen politischen Schaltzentrale (Bundesregierung etc.) Deutschlands.
2) Auch das Verhältnis zwischen dem politischen und Selbsthilfe-Anspruch der Strassenzeitungen und den etablierten Formen der konventionellen Wohnungslosenhilfe (etwa: repräsentiert durch die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. mit Sitz in Bielefeld) wird neu zu definieren sein. Hier hat das von Klunkelfuß, Schneider und anderen entwickelte Modellverhaben noch keine Lösungsmöglichkeiten beschrieben, denkbar und im Sinne der Erfinder jedoch wäre die Formulierung und Ausgestaltung eines Diskussionsprozesses: So sollte und muß die (über-)nächste Tagung der Strassenzeitungen im Herbst 1999 geöffnet werden gegenüber der Presse (was nach unserem Selbstverständnis eine Selbstverständlichkeit darstellen würde), vor allem aber auch gegenüber potentiellen Interessenten der konventionellen Wohnungslosenhilfe, um über die jeweils interne gedankliche Borniertheit hinaus neue Ideen- und Gestaltungsräume zu erschließen; auch wäre konkret verhandelbar, die nächste Bundestagung der BAG im Jahr 2000 als gemeinsame Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe und der bundesweiten Straßenzeitungsbewegung zu veranstalten und damit vor allem die Frage nach dem Verhältnis beider Strukturelemente der Wohnungslosenhilfe als Grundsatzfrage überhaupt erstmal - auf breiter Basis - diskutierbar zu machen.
Im Gegensatz dazu beinhalten die bisher vorgetragenen Vernetzungsideen zentrale Mißverständnisse:
Wenn es tatsächlich ein Bedürfnis regionaler Zeitungsprojekte nach der Vernetzung redaktioneller, anzeigenmäßiger, inhaltlicher, vertrieblicher, organisatorischer und formaler Arbeiten gegeben hätte, hätten diese es - entgegen aller verbaler Ankündigungen auf den Tagungen der Straßenzeitungen in Loccum 1995 und 1997 und Berlin 1996 - längst tun können. Das aber ist - noch nicht einmal in Ansätzen - passiert. Anders gesagt: Ein sogenannter "Dachverband" wird, wenn diese Bereitschaft nicht vorhanden ist, ohnehin das bestehende bornierte Denken der einzelnen regionalen Zeitungsprojekte nicht aufbrechen können, lediglich ein weiterer und funktionsloser "Wasserkopf" wäre geschaffen, der zunächst nur Geld kosten würde, ohne daß überhaupt die Frage nach der Finanzierung und der durch diese Stelle zu erbringenden Leistungen überhaupt hinreichend geklärt wäre.
Auch die von Werena Rosenke artikulierte Idee der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft Straßenzeitungen innerhalb der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. beinhaltet letztlich nur die unverbindliche Form einer Substruktur, ohne daß alle bisher auf den Straßenzeitungstagungen formulierten Dilemmata auch nur einen Schritt weit(er) einer Lösung zugeführt werden könnten. Bei aller Liebe und Sympathie könnte dieser freundliche Vorschlag der Gründung einer AG innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft auch dahingehend interpretiert werden, den offenbar zunehmenden Bedeutungsverlust der BAG durch die Integration neuer und interessanter Initiativen kompensiven zu wollen. Aber - wenn dies so sein sollte - dann lautet die Gegenfrage: Warum sollten Obdachlose und Selbsthilfeprojekte sich aufgrund einiger vordergründiger Vorteile zuliebe darauf einlassen? Es wäre doch Aufgabe der Wohnungslosenhilfe, sich nach den Interessen Ihrer Klienten zu richten und nicht umgekehrt? Umgekehrt spräche selbstverständlich nichts dagegen, eine Arbeitsgemeinschaft Straßenzeitungen als Treffpunkte für bundesweite Redaktions-, Herausgeber- und Verkäufertreffen zu instrumentalisieren und damit angebotene Strukturen effizient zu nutzen.
3) Das Modell einer bundesweiten Straßenzeitung hingegen schafft "Fakten, Fakten, Fakten" und erzwingt neue, von unten wachsende Organisationsstrukturen. Zugleich wird auch ein altes Problem auf einer neuen Qualitätsstufe virulent: Das vom "looser" und "strassenfeger" initierte Modell einer bundesweiten Zeitung ist zunächst nichts weiter als ein konsequentes und vielseitig entwickelbares Selbsthilfemodell. Aufgrund dieses Selbstverständnisses hebt es sich ab von vielen anderen sogenannten "Straßenzeitungsprojekten", die im weitesten Sinne als verlängerter Arm klassischer Obdachlosenhilfeeinrichtungen und -konzerne fungieren (wollen) und die tendenziell nichts weiter als eine Fortsetzung der Bevormundung, Entmündigung, Kontrolle, Disziplinierung Wohnungsloser der und Hilfe zur Unselbständigkeit beinhalten. Dieser zunächst unerhört anmutendende Vorwurf ist aufgrund umfassender Erfahrungen und Berichte über die Arbeit anderer Projekte konkret dokumentierbar: (Ehemals) Obdachlose und Straßenzeitungsverkäufer sind fast durchgehend nicht in der Projektleitung vertreten, haben (so gut wie) nichts in der Redaktion zu sagen (statt dessen werden Alibi-Seiten und sogenannte Schreibwerkstätten eingerichtet), die Redaktion ist mit sogenannten Zeitungsprofis besetzt, deren sogenannter "Professionalitätsanspruch" wird als Argument gegenüber Obdachlosen wiederholt zu Felde geführt, es gibt (nahezu) keine Mitwirkungsmöglichkeiten im Vertrieb, im Gegenteil, Verkäufer werden (in der Regel) durch sogenannte Verkäuferbetreuer beaufsichtigt, reglementiert, schikanisiert und gegängelt. (usw. usw. ) Das Ganze wird verkauft als sogenanntes Angebot der "Hilfe zur Selbsthilfe". Leider fallen immer noch genug Obdachlose und vor allem auch die Öffentlichkeit auf dieses sicherlich clevere Begriffsmanagement des "organisierten Terrors" herein. (Wer jetzt protestiert, möge im Duden vergegenwärtigen: Terror = rücksichtsloses Vorgehen! Nicht mehr oder weniger behaupten wir!)
Fazit: Das Entstehen von (bis zu 40) regionalen und unabhängig voneinander agierenden Straßenzeitungsprojekten in Deutschland war ein sicherlich historisch notwendiger und vor allem lehrhafter Entwicklungsprozeß, der aber - aus heutiger Sicht - an den Erfordernissen und Notwendigkeiten einer bundesweiten Vernetzung der finanziellen, politischen und sozialen Interessen Wohnungsloser vorbeigeht und den Bedürfnissen effizienter Strukturen nicht entspricht, sondern vielmehr eben wegen seiner Ineffizienz den Wohnungslosen Tag für Tag potentiell verfügbare Gelder vorenthält.
Demgegenüber wurde das Modell einer bundesweit zu entwickelnden und regional getragenen Struktur geschaffen, welches sowohl bundesweite als auch regionale Bedürfnisse und Ansprüche vereinen kann. Eine bundesweite Zeitung ist - ganz im Sinne von Uljanow - nichts anderes als ein "kollektiver Organisator" potentiell schon bestehender gemeinsamer Interessen. Dieses Modell ist keine Fiktion, sondern ein - bereits schon jetzt durch ZWEI Selbsthilfeprojekte in Deutschland getragenes und durch EINE Zeitung erfolgreich realisiertes - Anliegen, das - nicht zuletzt durch diesen Artikel - spätestens aber auf der nächsten Tagung der Straßenzeitungen im Herbst 1998 in Loccum auf breiter Basis diskutiert werden soll und - dessen ungeachtet - sowieso schon jetzt praktiziert wird.
Autor:
Stefan Schneider & Hans Klunkelfuß
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