Sonja Kemnitz/ Stefan Schneider

Ein Armenhaus in der Mitte der Stadt

Konzeptionelle Vorüberlegungen und erste Skizzen für eine Projektbeschreibung

Berlin, Februar 1995 


1.    Örtliche und räumliche Voraussetzungen
1.1.   Ideelle Gründe
1.2.   Praktische Gründe
2.    Arbeitsbereiche und Nutzungsmöglichkeiten
2.1.   Notübernachtung, Unterbringung und Wohnen
2.2.   Hilfen, Angebote und Dienste 
2.3.   Selbstbetätigung und Projektarbeit
3.    Umsetzung
3.1.   Stufenkonzept
3.2.   Kooperation und Selbstorganisation
3.3.   Handlungskonzept
4.    Finanzierung
4.1.   Grundsatz der Mischfinanzierung
4.2.   Finanzplanung
4.3.   Geschäftsführung
4.4.   Startphase
4.5.   Finanzquellen
5.    Strukturen
5.1.   Binnenstruktur (Basisgruppen)
5.2.   Träger
5.3.   Schirmherrschaft/ "Kuratorium"
6.    Schlußbemerkung

 


1.    Örtliche und räumliche Voraussetzungen

Aus ideellen und praktischen Gründen scheint uns das Gebäude des ehemaligen St.-Josef-Krankenhauses in der Niederwallstr. in Berlin-Mitte geeignet, im Leben mit Wohnungslosen und für sie ein Zeichen in der Öffentlichkeit zu setzen.

1.1. Ideelle Gründe

Das Gebäude, das von uns in die Diskussion eingebracht wird, steht auf historischem Grund, am Spittelmarkt, dort, wo eines der ersten Berliner Armenhospitale stand. Früher als Krankenhaus genutzt, nun leerstehend, wirkten darin nicht zufällig die Grauen Schwestern im Geist der Heiligen Elisabeth von Thüringen. Nicht weit davon entfernt steht das Denkmal der heiligen Gertraude, seit jeher Schutzheilige der (armen) Reisenden.

1.2. Praktische Gründe 

Wohnungslose halten sich in den Zentren der Metropolen auf und sind nicht an den Rand zu drängen. Dem müssen auch die Angebote für Wohnungslose und Arme Rechnung tragen, sie müssen in der Nähe der Zentren gelegen sein, wo Wohnungslose sich auch aufhalten und einfach erreichbar sein. Das ist durch die Lage des Hauses gegeben. Gleichzeitig wäre die zentrale Lage eines solchen Hauses ein Signal an alle politisch und sozial Verantwortlichen, ein Ärgernis, ein Stein des Anstoßes, ein nicht zu übersehender Hinweis, daß arme, wohnungs- und heimatlose Menschen mitten unter uns sind.


2. Arbeitsbereiche und Nutzungsmöglichkeiten

Ein Haus ist mehr als nur "Behausung", es bietet Heimat und Schutz, es ist Anlaufstelle und Treffpunkt, Ort für Angebote, Dienstleistungen und Seelsorge, für das tagtägliche Leben und Arbeiten. Obwohl die einzelnen Funktionen eines solchen Hauses sich sicher überschneiden, können in einer ersten Differenzierung drei zentrale Funktionen benannt werden: 

  • Notübernachtung, Unterbringung und Wohnen,
  • Hilfen, Angebote und Dienste,
  • Selbstbetätigung und Projektarbeit.

Dazu im Einzelnen:

2.1. Notübernachtung, Unterbringung und Wohnen

In seiner grundlegenden Bedeutung als "Behausung" bietet ein solches Haus Möglichkeiten der Unterbringung von Wohnungslosen in allen bekannten Formen: 

  • Wärmestube als Tagesaufenthalt,
  • Notübernachtungsstelle, insbesondere während der Winterzeit,
  • betreute und/oder begleitete Wohnprojekte,
  • befriste Übergangswohnungen für Wohnungslose.

Ein Haus bietet darüber hinaus die Möglichkeit zur Erlangung einer polizeilichen Meldeadresse, die den Weg zu sozialer Kommunikation (etwa: postalische Erreichbarkeit) und die Inanspruchnahme von staatlichen Hilfen (Sozialamt, Arbeitsamt etc.) wieder eröffnet.

2.2. Hilfen, Angebote und Dienste

Ein besonderes Problem der Lebenslage Wohnungsloser ist, zur Erledigung (über-) lebensnotwendiger Besorgungen weite Wege gehen zu müssen. Dagegen eröffnet ein integriertes Angebot die Chance, Zeit und Kraft dafür zu gewinnen, an einer Veränderung der Lebenslage zu arbeiten. Aspekte eines solchen integrierten Angebots könnten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) sein: 

  • Nahrungsversorgung in jeder Form,
  • eine umfangreiche Kleiderkammer und Ausgabestelle sonstiger notwendiger Dinge (Schlafsäcke, Rasierer etc.),
  • Kleiderreinigung und -ausbesserung in eigener Wäscherei,
  • Möglichkeiten zur Körperpflege (Duschen, Rasur, Frisur, Waschräume etc.)
  • medizinische Versorgung, sowohl ambulant als auch stationär (Krankenwohnungen), sowohl anonym (Akutversorgung) als auch mit Krankenschein,
  • Schreib- und Arbeitsraum (mit Beratung) für Korrespondenz gegenüber Ämtern und Behörden und in privaten Angelegenheiten,
  • Suchtberatung und Entzugstherapien,
  • soziale Beratung von Wohnungslosen und von Wohnungslosigkeit bedrohten, wie
    • Schuldenberatung,
    • Ämterhilfe,
    • Rechtsberatung,
    • Familienberatung.
    • psychologische Beratung

2.3. Selbstbetätigung und Projektarbeit

Insbesondere bietet ein solches Haus Möglichkeiten der praktischen Selbstbetätigung, kulturellen, sozialen und spirituellen Entfaltung und der Qualifikation. Bezugnehmend auf bereits bestehende Gruppen und Projekte im Obdachlosenbereich können wir uns unter anderem folgende Nutzungsmöglichkeiten vorstellen: 

  • Redaktions- und Arbeitsräume für Obdachlosenzeitungen,
  • eine Handbibliothek des Straßenslebens,
  • Kapelle zur geistigen Besinnung, Ruhe- Gesprächs- und Meditationsräume,
  • Räume für handwerkliche Ausbildung und Tätigkeiten, Fortbildungsmaßnahmen (Alfabetisierungs-, Computer- und Schreibmaschinenkurse u.ä.),
  • Probenraum/bühne für Theaterprojekte,
  • Ausstellungsraum für kulturelle und künstlerische Projekte,
  • Einrichtung eines größeren Multifunktionsraumes zu Zwecken wie
    • Vorträge,
    • Tagungen,
    • Veranstaltungen,
    • Kino,
    • Kultur.

3. Umsetzung

3.1. Stufenkonzept

Die Realisierung eines solchen Projektes kann sinnvollerweise nur in Stufen erfolgen. Die oben beschriebenen Nutzungsformen und -dimensionen beschreiben eine (vorläufige) Entwicklungsperspektive, die es Schritt für Schritt anzugehen gilt.

3.2. Kooperation und Selbstorganisation

Für die Umsetzung bedeutet dies: Im Zusammenleben und in der Zusammenarbeit mit Wohnungslosen und Armen und ehrenamtlichen wie professionellen Partnern sollen und können Möglichkeiten wachsen, die Heimat geben. Damit meinen wir, beginnend mit der Öffnung des Hauses für traditionelle Hilfeangebote wird sich eine Selbstorganisationsstruktur für weitergehende und anspruchsvollere Aufgaben entwickeln.

Die Basis für einen solchen Ansatz ist das Konzept der verantwortlichen Gruppenarbeit. Wir sind der Auffassung, daß es schon jetzt eine Reihe von Partnern gibt, die mit hohem Engagement bereit sind, ein solches Konzept auch praktisch mitzutragen. Wir denken insbesondere an die Unterstützung von Kirchengemeinden, an Studenten der Sozialarbeit, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, Menschen aus anderen Berufsgruppen (Hauswirtschaft, Buchhaltung, Management, Kunst, Kultur und Journalismus, Seelsorge) und weiteren ehrenamtlichen Kräften aus Gemeinden und Nachbarschaft und allen Teilen der Stadt.

3.3. Handlungskonzept

Mit anderen Worten, wir sind der Auffassung, daß es nicht darum gehen kann, ein solches Haus prinzipiell zu öffnen, sondern daß vielmehr ein schrittweises Handlungskonzept zu erarbeiten ist, welches beschreibt, welche Gruppen in ein solches Haus einziehen/ bzw. es nutzen und welche Aufgaben mit welcher Form von Unterstützung bzw. Kooperation zu bewältigen/zu gewährleisten sind. 


4. Finanzierung

Abgesehen von der notwendigen Klärung der Eigentums- und Besitz- und Nutzungsverhältnisse entstehen allein schon aus dem Betrieb und der Nutzung eines solches Projekts regelmäßig anfallende erhebliche Kosten. Dabei wird unter den gegebenen sozial- und finanzpolitischen Voraussetzungen folgendes deutlich:

4.1. Grundsatz der Mischfinanzierung

Die Nutzung eines Hauses in einer solchen Größenordnung wie das von uns ins Gespräch gebrachte Objekt ist durch eine Finanzquelle bzw. einen Träger allein nicht finanzierbar. Viele verschiedenen Einnahme- bzw. Unterstützungsformen müssen von daher erschlossen werden (siehe auch 4.5.).

4.2. Finanzplanung

Allein die Kosten für die Nutzung und Instandhaltung des Hauses, die zu erbringenden Versicherungsleistungen und zu erwirtschaftenden Rücklagen erfordern eine solide Einnahmen- und Finanzplanung; dies kann nur professionell (also von Experten in diesem Gebiet, aber ggf. durchaus ehrenamtlich oder auf Honorarbasis) gewährleistet werden.

4.3. Geschäftsführung

Eine kontinuierliche und dauerhaft präsente Geschäftsleitung (Geschäftsführung, Verwaltung, Buchhaltung, Aktenführung, Finanzwirtschaft, -aufsicht und -kontrolle, Hauswartstätigkeit etc.) eines solchen Hauses, die einer Leitung untersteht, ist ebenso unverzichtbar (und kann, wie auch die Finanzplanung - s.o. -, nur mit professionellen Kräften gewährleistet werden). 

4.4. Startphase

Insbesondere die Startphase eines solchen Projektes wirft besondere finanzielle Schwierigkeiten und Risiken auf. Ausgehend von der Überlegung, daß allein schon durch den Leerstand des Hauses Kosten entstehen, könnten wir uns vorstellen, daß die derzeit laufenden bzw. anfallenden Kosten in einer zeitlich begrenzten Startphase vom bisherigen Träger weiterhin übernommen werden können.

4.5. Finanzquellen

Unter Bezug auf die in 4.1. dargestellte Notwendigkeit einer aus mehreren Quellen gespeisten Finanzierung der laufenden Kosten können wir uns folgende mögliche Finanzierungsquellen vorstellen: 

a) Einnahmen aus dem Verkaufserlös der Wohungslosenzeitungen,
b) Spenden aus der Öffentlichkeit,
c) Einnahmen aus Mietverhältnissen,

  • gegenüber Wohnungslosen, denen in diesem Haus (betreute und/oder befristete) Wohnmöglichkeiten erschlossen werden,
  • gegenüber Obdachlosenprojekten, die Räumlichkeiten für Ihre Zwecke nutzen (Zeitungs-, Theater-, Kultur-, Ausstellungsprojekte),
  • gegenüber Veranstaltern aus dem sozialen und kulturellen Bereich, die Räumlichkeiten für punktuelle Veranstaltungen nutzen (Konferenzen, Tagungen, Fortbildungen),

d) Kultursponsering von lokalen, nationalen und internationalen Firmen, Konzernen und Unternehmerverbänden und anderen Organisationen, die gezielt beispielsweise einzelne Teilbereiche des Projekts in einem größerem Umfang fördern und damit zu einer spürbaren Entlastung des Gesamtetats beitragen,
e) gezielte Inanspruchnahme von lokalen, bezirklichen, landes-, bundes-, EU- oder UN-weiten Förderungsmöglichkeiten,
f) weitere zu erschließende Finanzquellen und Fördermöglichkeiten.


5. Strukturen

Prinzipielle Voraussetzung für das Funktionieren eines solchen Modells eines "Armenhauses in der Mitte der Stadt" ist der Grundsatz, daß eine Struktur von "unten" wachsen und von "oben" abgesichert werden muß.

(Es kann u.E. nicht Zielsetzung sein, ein weiteres -konventionelles- Angebot "für" Wohnungslose einzurichten, vielmehr muß es u.E. darum gehen, neue Formen der Kooperation von Wohnungslosen und Menschen, die mit ihnen "gemeinsame Sache machen" und sich für sie engagieren, zu etablieren. Bereits jetzt existiert eine Reihe von - erfolgreichen - Modellen, die ein solches Anliegen plausibel machen.)

Im Einzelnen:

5.1. Binnenstruktur (Basisgruppen)

Bisweilen ist die Not der Notleidenden so groß, daß "jeder sich selbst der Nächste" ist. Aus dieser Wahrnehmung heraus entstand der Begriff "alleinstehende Wohnungslose". Er ist irreführend, Wohnungslose sind auf der Suche nach sozialen Kontakten und Beziehungen, es gibt Freundschaften und Gruppen untereinander (weil sonst kaum jemand ihr Freund sein will), es gibt Projekte erfolgreicher Kooperation Wohnungsloser untereinander und mit Partnern. Solche Gruppen, die auch in Berlin bestehen, und die wissen, was sie wollen und zu leisten vermögen, können Basiseinheiten sein für die Nutzung und Inbetriebnahme eines Hausprojektes. Das wird - wie Erfahrungen zeigen - nicht ohne Reibungen und Konflikte gehen können und alle Beteiligten vor erhebliche Belastungsproben und Krisen stellen. Trotzdem ist eine große Bereitschaft, Belastungsfähigkeit und Motivation der "Betroffenen" vorauszusetzen, wie verschiedenste Erfahrungen in Berlin ("Plattengruppe Köpenick", Hegelplatzbesetzung, "Unter Druck" - Kultur von der Straße e.V., mob - obdachlose machen mobil e.V., Zeitungsgruppe Seeling Kurier, Theatergruppe "Die Ratten", ehrenamtliche Küchengruppen in verschiedenen Wohnungslosentagesstätten u.v.m.) eindrucksvoll belegen. Darauf können wir bauen und darauf vertrauen wir. Wir halten es auch für möglich, verschiedene solcher Gruppen in einem Projekt zusammenzufassen und unter diesen Gruppen eine lebensnahe, partnerschaftlicher und konkurrenzlose Kooperation zu realisieren. Auch für ein solches Vorhaben gibt es funktionierende Vorbilder und Modelle.

5.2. Träger

Träger könnte ein eigenständiger eingetragener gemeinnütziger Verein (oder eine andere geeignete Rechtsform) sein, dem alle am Projekt beteiligten Gruppen, Gruppierungen, Partner, Unterstützer, Vereine und weitere Einzelpersonen angehören.

In einer solchen Perspektive wäre ein solcher Träger

a) eine demokratische und verbindliche Vertretung aller Nutzer, Beteiligten und Verantwortlichen,

b) er bestimmt die politisch und finanziell Verantwortlichen des Projekts (Leitung),

c) er bestellt die Verantwortlichen für die Aufgaben der Geschäftsführung und Finanzplanung etc.,

d) er stellt verbindlich Regelungen und eine Haus- bzw. Nutzungsordnung auf, beschließt über Verträge und ist weisungsbefugt in allen internen Angelegenheiten,

e) er achtet auf die Durchführung und Einhaltung aller internen Vereinbarungen und Regelungen,

f) er definiert, plant, entwickelt und konkretisiert (in vertrauensvoller Kooperation mit dem "Kuratorium" -Arbeitstitel-, siehe 5.3. ) die gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben, Maßnahmen, Entschlüsse und Perspektiven.

5.3. Schirmherrschaft/ "Kuratorium"

Die Schirmherrschaft, die begleitende kritische Beratung und Aufsicht, sowie die unverzichtbare Lobbyarbeit eines solchen Unternehmens könnte/sollte eine Art "Kuratorium" übernehmen, dem wichtige Persönlichkeiten der öffentlichen Lebens in Berlin aus den Kirchen, aus Politik, Wirtschaft, Verbänden und Gewerkschaften, Kunst und Kultur angehören und dessen Ehrenvorsitzende der Erzbischof von Berlin sein könnte.


6. Schlußbemerkung

Bereits im Jahr 1929 gab es im Kreis der "Bruderschaft der Vagabunden" um Gregor Gog die Idee und Forderung nach einer "selbstverwalteten Kundenherberge", die allerdings nie konkretisiert wurde, weil es dafür keine Konzepte gab und die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlten. 

Wir wollen einen Schritt weitergehen: Die hier von uns hier beschriebenen konzeptionellen Vorüberlegungen und Skizzen für das Projekt "Ein Armenhaus in der Mitte der Stadt" sind mit Sicherheit nicht der Weisheit letzter Schluß, und doch sind wir der Überzeugung, daß es an der Zeit ist, die konkrete Umsetzung einer solchen Idee ernsthaft zu prüfen, in die Wege zu leiten und verantwortungsvoll zu übernehmen. Unseres Erachtens sind eine Reihe von Voraussetzungen gegeben, die ein solches Vorhaben als möglich, plausibel und sinnvoll erscheinen lassen.

Abschließend möchten wir betonen: Jeder Mensch braucht eine Wohnung! Eine Wohnung ist nichts alles, aber ohne Wohnung ist alles nichts! Ein Haus der Armen in der Mitte der Stadt ist nicht die Lösung aller dieser Probleme, aber damit wäre ein wichtiges Zeichen gesetzt! Daran wollen wir arbeiten.

Sonja Kemnitz & Stefan Schneider

Berlin, Februar 1995

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