Ein Freitag im August und ein großartiger Segeltag geht zu Ende. Mit dem letzten Abendwind segeln wir in den Hafen der kleinen Stadt, machen fest und starten gegen 20:00 Uhr unseren Stadtspaziergang. Ausser in einer kleinen Gaststätte, wo uns laut zugerufen wird, ist nicht viel los. Die Stadt ist menschenleer. Aber es ist Wahlkampf, und überall in der Stadt hängen Wahlplakate, auch Plakate einer Nazi-Partei. Wir sehen uns die eine oder andere Sehenswürdigkeit von außen an und wollen dann einen großen Bogen zurück zum Hafen machen. Uns fallen weiße unbeschriftete Lieferwagen auf, die langsam an uns vorbei fahren. Dann später sehen wir zwei dieser Lieferwagen parallel an der Bushaltestelle vor der Schule. Offensichtlich verständigen sich die Insassen der Fahrzeuge untereinander. Inzwischen ist es dunkel geworden und wir sind schon ausserhalb der Stadt, uns überholt langsam wieder ein weißer Lieferwagen.
Der Wagen hält kurz vor uns rechts an, ein großer weißer Mann kommt aus der Beifahrerseite heraus, packt mich an den Sachen, brüllt aggressiv: Wer bist Du, wo kommst Du her? Noch ehe ich antworten kann, schlägt er mit der Faust hart in mein Gesicht, brüllt erneut: Wer bist Du, wo kommst Du her? Ich rieche seine Alkoholfahne. Er packt mich brutal am Hals, reißt mich mit seinem Körpergewicht zu Boden, drückt mein Gesicht fest auf den Asphalt, brüllt weiter auf mich ein, würgt mich stark. Für zwei Sekunden, gefühlte Ewigkeiten, bekomme ich keine Luft mehr, habe Todesangst. Was wird jetzt noch kommen? Die Brille liegt unerreichbar neben mir.
Meine Begleiterin schreit auf ihn ein, verlangt, mich loszulassen. Sie wird weggestoßen. Plötzlich nähert sich ein Auto, meiner Begleiterin gelingt es, den Wagen anzuhalten und die Fahrerin, die die Fensterscheibe herunter kurbelt, eindringlich um Hilfe zu bitten.
Das bleibt nicht unbemerkt. Der Mensch, der mich würgt, läßt von mir ab. Die Frau im Fahrzeug ruft die Polizei. Der weiße unbeschriftete Lieferwagen ist inzwischen auf die linke Seite gefahren, zwei weitere Menschen steigen aus, halten sich aber aus allem raus. Der Angreifer kommt nochmal auf mich zu. Das macht mir große Angst, ich weiche zurück, schreie laut: Geh weg! Geh weg! Er kommt erneut näher. Ich greife nach meinem Mobiltelefon, will ebenfalls die Polizei anrufen und hoffe, dass ich während des Anrufs vor einem erneuten Angriff halbwegs sicher bin. Nach einigen Minuten – die uns wie Ewigkeiten vorkommen - triff eine Streife ein.
Die beiden Polizeimänner kümmern sich zunächst ausführlich um den Täter und seine Begleiter. Danach befragen sie uns. Ich fühle mich in meinem Anliegen, als Überfallener eine Anzeige gegen den Täter machen zu wollen, nicht ernst genommen. Ich muß ausdrücklich betonen, dass ich eine Straftat anzeigen will. Mein linkes Handgelenk schmerzt stark und ist angeschwollen, ich sehe noch den Schuhabdruck auf meiner linken Hand. Auch ist mein Brillenband abgerissen, meine Mütze beschädigt und meine Jacke stark verschmutzt. Meine Begleiterin sieht Abschürfungen am Hals und an meinem linken Ohr. Ich sehe Blutspuren und einen Bluterguß an ihrem Mund. Auch sie klagt über Schmerzen.
Vier weitere Fahrzeuge und ein Fahrradfahrer passieren die Straße, der Radfahrer grüßt den Täter und seine Begleiter und spricht kurz mit ihnen. Auch aus anderen Fahrzeugen heraus wird mit den Tätern gesprochen. Sind das die örtlichen Führer der Nazi-Partei, die sich vor Ort ein Bild von der Situation machen wollen? Wir wissen es nicht. Es verdichtet sich unser Eindruck, in dieser Stadt einem rechtsradikalen Netzwerk ausgesetzt zu sein. Wir haben große Angst, daß nach dem Abrücken der Polizei weitere Überfälle und gewalttätige Angriffe aus dem Hinterhalt auf uns erfolgen werden.
Unsere wiederholten Bitten an die Polizei, uns an einen anderen Ort zu bringen, werden abgelehnt mit dem Hinweis, es sei nicht erlaubt, Menschen im Polizeifahrzeug zu transportieren. Fakt oder Schutzbehauptung? Wir wissen es nicht. Dass wir mit dem Boot unterwegs sind und im Hafen liegen, verschweigen wir. Der Hafen ist winzig und zu groß die Gefahr, dort erneut aufgemischt zu werden. Die Idee, in die Notaufnahme eines Krankenhauses zur Untersuchung zu fahren, verwerfen wir mit Blick auf die großen Entfernungen und die fortgeschrittene Uhrzeit. Wenn die Schmerzen nicht nachlassen, können wir das am nächsten Tag nachholen. Uns geht es nur noch darum, die Stadt sicher zu verlassen.
Auf den dringenden Hinweis, wir haben große Angst, uns weiter in der Stadt aufzuhalten, schlagen die Polizeimänner uns vor, ein Taxi zu rufen. Erst auf erneutes Nachfragen erhalten wir eine Nummer von einem örtlichen Taxiunternehmen.
Nach gefühlten Ewigkeiten kommt ein Taxi, der Taxifahrer wirkt vertrauenswürdig. Sein Scheinwerferlicht leuchtet auf den Täter und seine Begleiter. Während der Fahrt schildern wir dem Taxifahrer den Vorgang. Der Taxifahrer kennt den Täter und nennt uns seinen Namen. Der Täter wäre vor einigen Jahren Stadtverordneter der Nazi-Partei gewesen, habe später sein Mandat wegen gewalttätiger Straftaten verloren und sei vorbestraft. Es sei richtig, die Polizei verständigt und ihn angezeigt zu haben.
Wir bitten den Taxifahrer, noch so lange am Hafen mit aufgeblendetem Scheinwerfer stehen zu bleiben, bis wir abgelegt und den Hafen verlassen haben. Wir ankern im naheliegenden Binnensee und liegen, aufgewühlt von diesem traumatischen Erlebnis und mit Schmerzen am Körper, noch die halbe Nacht wach. Eingeschüchtert, wie wir sind, treibt uns die Sorge um, daß der Täter oder seine Komplizen uns auch hier mit einem Boot nachstellen könnten, um sich an uns zu rächen.
Der hier geschilderte Vorfall ereignete sich am Freitag, dem 12.08.2016 in der Stadt Usedom auf Usedom, Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland. Die Schmöckwitzer Segler waren am selben Tag gegen 0930 MESZ bei Nieselregen im Hafen Wolgast gestartet, durchsegelten bei 3-2 Bf aus West und aufklarendem Himmel das Achterwasser, passierten die Zecheriner Brücke und die Hubbrücke Karnin in das Haff und segelten dann bei nur noch 1 Bf nordwärts an der Westklüne vorbei in den Usedomer See bis zum Hafen der Stadt Usedom, wo sie festmachten. Am Abend des 12.08.2016 wurden in der Stadt Usedom Wahlplakate der NPD zerstört. Sie hingen in friedlicher Eintracht zusammen mit Plakaten der CDUSPDFDPGRÜNELINKE. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Schmöckwitzer Segler wegen Zerstörung von Wahlplakaten wurde eingestellt. Bei der wenige Wochen später stattfindenden Landtagswahl am 03.09.2016 erhielt die NPD im Wahlkreis Vorpommern-Greifswald III, zu dem auch die Stadt Usedom gehört, 5,6% der abgegebenen Zweitstimmen, die Nazi-Partei AfD erhielt 32,3 % der abgegebenen Stimmen.
Der Name des Täters ist Daniel Ohm. Er ist wohnhaft in der Stadt Usedom und war 2012 für die NPD gewähltes Mitglied der Stadtvertretung der Stadt Usedom. Er wird am 21.11.2017 vom Amtsgericht Greifswald wegen vorsätzlicher Körperverletzung rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt und hat zudem die Kosten des Verfahrens und die Auslagen des Nebenklägers – des Überfallenen - zu tragen. Aber: Ermittelt wurde nur gegen den Täter, nicht gegen das rechtsradikale Netzwerk, mit dessen Hilfe der Überfall überhaupt erst möglich wurde.
Das Opfer erhielt aus Mitteln, die für Opfer extremistisch motivierter Übergriffe durch das Ministerium für Justiz bereit gestellt werden, am 07.06.2018 eine Härteleistung in Höhe von 600,00 € zugesprochen.
Wir danken der LOBBI e.V. Landesweite Opferberatung, Beistand und Information für betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern (www.lobbi-mv.de) sowie dem AKJ Arbeitskreis kritischer Jurist_innen Greifswald (www.recht-kritisch.de) für ihre Unterstützung.
Weiterführende Literatur:
Röpke, Andrea (2014): Gefährlich verankert – Rechtsextreme Graswurzelarbeit, Strategien und neue Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin. ISBN 978-3-00-048292-2
Robert Thiel (Pseudonym), WLS e.V.