Weltumsegler*in in 5 Etappen
Rezension zu: Martina Kleinert: Weltumsegler. Ethnographie eines mobilen Lebensstils zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung. Dezember 2014, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2882-1
Prolog
Scheiß doch auf die Seemannsromantik
Ein Tritt dem Trottel, der das erfunden hat
Niemand ist gern allein mitten im Atlantik
(Sven Regener/ Element Of Crime, Vier Stunden vor Elbe 1 von dem Album Damals hinterm Mond 1991)
1. Etappe: Wir träumen uns um die Welt
Die meisten Menschen, die Segeln, lesen auch Segelbücher und nicht wenige Bücher haben herausragende Segelleistungen von Einzelpersonen oder Kleinstgruppen (meistens: heterosexuelle Paare) zum Gegenstand. Also Bücher, die geschrieben sind aus der Ich- oder Wir- Perspektive. Ein häufiger Topos sind Weltumsegelungen. Geschildert wird dann meistens die Motivation und Planungsphase, die Aufregung beim Start und das Abschiednehmen für eine längere Zeit, die unterwegs erlebten Abenteuer und überstandenen Stürme, und meistens dann als Happy-End die glückliche Heimkehr. Diese Bücher enthalten meistens eine oder mehrere respekteinflößende Karten von der Route, eine Skizze vom Boot und eine Auflistung der Ausrüstung, manchmal sogar eine detailierte Übersicht der gesegelten Strecken und Tage und mehr oder weniger viele Schnappschüsse, die auf der Fahrt entstanden sind. Und es ist ja auch interessant und anregend, sich über anderer Menschen Taten und Leistungen zu informieren. Man kann sich entweder selbst in diese Welt hinein imaginieren und tagträumen, oder aber die Bücher als Anregung nehmen und es einmal selbst tun. Und schon ist die Idee einer eigenen Weltumsegelung geboren. Wahrscheinlich sind die Grenzen zwischen Träumen und Planen an dieser Stelle fließend. Gut, es gibt jede Menge tragischer Geschichten von geplanten Eigenbauten, die nie fertig wurden aus Mangel an Geld, Zeit, Gesundheit, Kompetenz oder einer Kombination aus diesen Faktoren. Und wer sich oft genug am Wasser, auf Schiffswerften und Seegrundstücken herumtreibt, wird das eine oder andere Objekt des Scheiterns zu Gesicht bekommen. Wobei, ist ein unfertiges Schiff wirklich eine Katastrophe? Oder müssen wir uns die prekären Bastler nicht vielmehr als friedliche Menschen vorstellen, die über Jahre hinweg ihre Träume träumen, statt Krieg zu führen, die Umwelt ausplündern und die Mitmenschen auszubeuten? Und schließlich: Wie viele Menschen sind wohl nur deswegen zu einer Weltreise gekommen, weil sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren und einen dieser bastelnden Menschen mit Geld und guten Worten von diesem Projekt erlöst haben? Fragen über Fragen.
Auf jeden Fall sind es lange nicht mehr nur einzelne Personen, die aussergewöhnliche seglerische Leistungen erbringen, sondern inzwischen eine ganze Population. Die Filmemacherin und Kulturanthropologin Martina Kleinert kommt eher aus Zufall dazu – für Dreharbeiten mit ihrem Partner Thorolf in der Südsee bietet sich ein Schiff als Wohn- und Reisemobil geradezu an. Sie ist verwundert, wie schnell sie Kontakt zur Szene der sog. „Yachties“ herstellen kann und von diesen als solche akzeptiert wird. So reift die Idee einer ethnographischen Studie über eben diese Gruppe von Menschen.
2. Etappe: Her mit den Gewürzen!
Ganz Europa ist scharf auf Gewürze. Die einen, weil ein paar Krümel davon jedes noch so fade Essen in ein leckeres Gericht verwandeln können, die anderen, weil sie sich enorme Heilkräfte von Safran, Muskatnuss und Co. versprechen. Und nicht wenige verdienen sich dumm und dämlich damit. Jedoch, es gibt da ein klitzekleines Problem gegen Ende des 15. Jahrhunderts und das sind die ständig steigenden Transportzölle der Osmanen. Sultan Bayezid II. ist ein an und für sich friedlicher Mann, aber was Steuern angeht, versteht er einfach keinen Spaß. Jeder noch so kleine Pfeffersack, der die legendäre Gewürzstraße passieren will, wird besteuert. Wer zu diesem alternativlosen Zwangsweg eine Alternative finden kann, wird ein gemachter Mann sein. Columbus schlägt den Spanischen Königen vor, es auf einem westlichen Seeweg zu versuchen, und tatsächlich findet er 1492 dort etwas, nur eben nicht die hinterindischen Gewürzinseln. Den Seeweg nach Indien schafft Vasco da Gama 1498 über das Kap der Stürme (heute: Kap der guten Hoffnung). Die Informationen über die neuen Welten und Wege fügen sich zusammen, und es war die Victoria, ein Schiff aus der Flotte des Portugiesen Ferdinand Magellan, der 1519–1522 die erste Weltumsegelung gelingt
Seitdem haben nicht wenige Menschen auf Schiffen die Welt umrundet. Ein Meilenstein dabei ist Fahrt von Joshua Slocum, der in den Jahren 1895 bis 1889 alleine auf einem Segelboot die Welt umfährt. Zu diesem Zeitpunkt ist schon längst abzusehen, dass die motorisierten Dampfschiffe das Zeitalter des Segelns beenden werden. Segeln im industriellen Zeitalter war mehr oder weniger zu einer Freizeitbeschäftigung geworden. Zahlreiche Yacht-Clubs wurden gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weltweit gegründet und schon um 1900 wurde Segeln als olympische Disziplin aufgenommen. Mit anderen Worten: Segeln als Mittel der Fortbewegung auf See ist überflüssig geworden, und eben deshalb kann sie als privates Hobby wieder entdeckt und betrieben werden. Zum persönlichen Vergnügen. Aber ist es das? Martina Kleinert interviewt in ihrem Buch die Besatzungen von insgesamt 44 Booten (Einzelpersonen, Paare oder andere Konstellationen), die seit 1972 bis heute Weltumseglungen durchführten bzw. durchführen und beleuchtet viele damit im Zusammenhang stehende Fragen: Wie ist es, wenn das Boot das einzige Zuhause ist? Wie gestalten sich Beziehungen? Wie ist das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, von Drinnen und Draußen, von unterwegs sein und ankommen, von wegfahren und bleiben, nach ökonomischer Basis und finanziellem Risiko, von Ausstieg auf Zeit und Lebensweise auf Dauer.
3. Etappe: Weil sie da ist!
Bei der Lektüre des Buches ist mir immer wieder das Thema der Everest - Besteigungen durch den Kopf gegangen. Im Winter 2006/07 war ich selbst mehrfach auf dem Everest (und dann wieder runter), natürlich nur virtuell. Jon Krakauer schrieb über das Unglück, dass sich im Jahr 1996 ereignet hatte und 8 Menschen das Leben kostete: Ein plötzlicher Wetterumschwung genau zu der Zeit, als mehrere Dutzend Menschen sich in der sogenannten Todeszone aufhielten, sei es, weil sie sich bereits im Abstieg befanden oder den Berg noch erklimmen wollten. Und natürlich haben auch andere Überlebende dieser Expedition es sich nicht nehmen lassen, ihre Version von dem Unglück zu Papier zu bringen, sei es, um ihre Sicht auf die Dinge darzulegen oder einfach nur, um ihren Teil des Profits daraus zu schlagen. Der Everest galt lange Zeit als der letzte unbezwungene Pol auf dieser Welt, und um den Besteigungsversuch von George Mallory im Jahr 1924 ranken sich viele Gerüchte und Spekulationen. Könnte er es geschafft haben? Sicher ist, dass er eine Höhe erreichte wie niemals zuvor ein Mensch vor ihm. "Bezwungen" wurde der Berg nachweislich erst im Jahr 1953 und lange Zeit wurde nur der Name des Neuseeländers genannt, doch inzwischen hat sich die Lesart durchgesetzt, dass die Erstbesteigung eine Gemeinschaftsleistung von Edmund Hillary und Tenzing Norgay gewesen ist und am 8. Mai 1978 bestiegen Reinhold Messner und Peter Habeler erstmalig den Giganten ohne Zuhilfename von Sauerstoff. Es war eben dieser Messner, der auf die Frage, warum er unbedingt auf diesen Berg hinauf wolle, die legendäre Antwort gab: Weil er da ist!
Weil sie rund ist! - Das könnte auch die Antwort auf die Frage sein, warum so viele Menschen die Welt umsegeln wollen. Inzwischen wird von Messner, aber auch von vielen anderen, kritisiert, daß die Mount-Everest-Tourismus-Industrie nichts mehr mit der eigentlichen Berg-Besteigung zu tun habe. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Menschen gegen viel Geld auf den Everest geführt werden, die aus eigener Kraft niemals eine Chance hätten, den Gipfel zu erreichen. In wochenlanger Knochenarbeit werden für zahlende Kunden Pisten präpariert, Brücken über Gletscherspalten gebaut, Reserveflaschen und Proviant hochgeschleppt, Seilsicherungen gespannt, Zelte errichtet, und Kletterhaken eingeschlagen, um den Weg zum Gipfel zu ebenen. Und was auch dazu gesagt werden muss: Wer heutzutage auf den Gipfel will, muss inzwischen an einem ganzen Haufen Müll vorbei und an zahlreichen Leichen.
Auch bei den Seglern sind die Pionierzeiten von Rollo Gebhard, Burghard Pieske und Wilfried Erdmann lange vorbei und mit den Jahren hat sich ein ganzer Wirtschaftszweig um die Weltumsegelei gebildet. Es sind moderne Marinas entstanden, Navigation eine Frage von GPS und Computer (Wehe, wenn der mal ausfällt), und die Atlantiküberquerung erfolgt im Schwarm. Smartphone und Satellitentelefon besorgen den Kontakt zur Heimat und die lieben Angehörigen kommen auch schon mal gerne in die Karibik, um ein paar Tage mitzusegeln. Die Welt ist in der Tat kleiner geworden und das Navigieren einfacher.
4. Etappe: Ist Welt umsegeln eine Leistung?
Für den bekannten Blauwassersegler[1] Bobby Schenk ist Weltumsegeln eine Angelegenheit, die ein durchschnittlicher Mensch mit hinreichendem Interesse an der Sache ohne große Schwierigkeiten meistern können sollte. Fast schon flapsig ist seine Herangehensweisen zu den üblichen damit verbundenen Fragen: Segelschein? Interessiert ausser in Deutschland eigentlich niemanden! Segelkenntnisse? Die Grundlage sind an einem Tag lernbar! An- und Ablegen? Sollte konzentriert erfolgen und geübt werden! Das richtige Schiff? Ab einer bestimmten Größe eigentlich fast jedes! Der richtige Zeitpunkt? Besser jetzt als nie! So oder so ähnlich lauten die Schenkschen Antworten auf tausende besorgter Fragen auf seinem Blog. Die Botschaft: Noch nie war eine Weltumseglung so einfach. Und wörtlich: Eine Weltumsegelung mit zahlreichen Stopps kann heutzutage zum Kinderspiel werden, was die bestens betreute Laura Decker bewiesen hat. Original Zitat aus dem Artikel Um die Welt segeln für Anfänger - Weltumseglung light von Bobby Schenk.[2]
Nun ist Bobby Schenk alles andere als ein Leichtfuß. Im Gegenteil, er ist mehrfacher Weltumsegler und dürfte seinen Lebensunterhalt nicht zuletzt aus zahlreichen Blauwasserseminaren und Büchern wie Navigation - nur zum Ankommen oder Ankern oder Hafenmanöver verdient haben und verdienen. Nun weiss Schenk natürlich aus jahrelanger Erfahrung, dass nur ein Bruchteil der Menschen, die sich Weltumsegler*innenbücher kaufen oder seine Seminare besuchen, tatsächlich den Schritt wagen und auf Langfahrt gehen. Oder anders herum, wer minimum 20T€ in die Hand nimmt, wird nicht völlig unbedarft in See stechen, denn dafür ist Segeln dann wirklich die teuerste Art, unbequem und langsam zu reisen. Es sind also offenbar weniger die objektiven Gefahren, die das eigentliche Problem darstellen, als vielmehr das Gefahrenbewußtsein, das Menschen hindert, die Idee auch umzusetzen. Deshalb ist der von ihm verbreitete Optimismus nichts weiter als ein Geschäftsmodell. Kommen Sie zu mir, ich zeig es Ihnen, nur: Machen müssen Sie es selbst!
Die Gemeinsamkeit von Schenk und Kleinert besteht wohl darin, dass beide den Mythos Weltumsegelung gründlich entzaubern. Schenk durch seine flapsige Herangehensweise an die Fragen, Kleinert durch die Fragen, die sie den weltumsegelnden Menschen, die die trifft, stellt. Wie kamst Du auf die Idee? Was habt ihr gelesen? Wie lief die Vorbereitung? Wie verläuft so ein Tag? Welche Erfahrungen konntet ihr machen? Wie sieht Euer Kontakt zu anderen Seglern aus? Was war im Nachhinein anders als geplant? Was würdet ihr anders machen? usw. Es sind die persönlichen, ehrlichen Antworten, die kritischen Rückblicke, die dahingesprochene Selbstvergewisserung, der zum Ausdruck gebrachte Zweifel, die tastende Erinnerung, die unsentimentale Abrechnung, die dieses Buch so charmant machen.
Es gibt und gab Passagen beim Lesen des Buches, da habe ich den Eindruck, ich sitze jetzt mitten in der Gesprächsrunde und erwische einen Moment des nachdenklichen Innehaltens, und bin in Situationen dabei, in denen Menschen wirklich etwas wichtiges Mitteilen und nicht nur Schwätzen. Ich habe selbst im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit Menschen zu persönlichen Dingen befragt und weiss daher sehr genau, dass genau hierin die zentrale Leistung besteht. Eine Atmosphäre des Vertrauens herzustellen bei der Menschen sich öffnen und von sich erzählen. Und das überraschende Ergebnis ist: Es sind Menschen wie Du und ich, die diesen Schritt gewagt haben, aus den konventionellen Mustern des Alltags auszusteigen und - für eine kürzere oder längere Zeit, einige für immer - sich auf ein Leben an Bord einzulassen. Wobei in der Arbeit von Kleinert auch sichtbar wird: Während die Pioniere in den 70ern bereit waren, ein tendenziell hohes persönliches Risiko für diese Lebensweise einzugehen, treten nunmehr vermehrt Menschen auf den Plan, für die das Projekt Weltumseglung eine mögliche Option ist. Die sich problemlos beurlauben oder vorzeitig pensionieren lassen können und die zudem auch häufig das finanzielle Potential mitbringen, um durch den Verkauf des Hauses oder aufgrund der Pensionsgelder sich einen solchen - insgesamt nicht gerade preisgünstigen - Lebensstil leisten zu können. Das fast schon massenhaften Weltumsegeln ist also auch ein Phänomen des demografischen Wandels (Menschen werden im Durchschnitt immer älter) und der ökonomischen Umverteilung (Reichtum auf Kosten der Armut nimmt weiterhin zu).
Exkurs: Welt umsegeln oder Welt erkunden?
Weltumsegler*innen waren und sind, so könnte eins meinen, Pioniere im Zeitalter der Globalisierung. Immerhin sind mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche von Wasser bedeckt und das wenige Land also sehr gut mit einem schwimmenden Mobil erreichbar. Menschen, die sich einlassen auf Land, Menschen und Kultur, Landschaften und Gebräuche. Menschen, die Vermittler*innen, Brückenbauer*innen sind zwischen den Welauffassungen, Lebensstilen und Eigenarten. Auch dieser Frage geht Martina Kleinert in ihrer wissenschaftlichen Erkundung nach. Ihr Bericht legt die Antwort nahe, dass dem eher nicht so ist. Nicht nur, dass mit der Ausweitung des Phänomens Weltumsegler eine technische und soziale Infrastruktur gewachsen ist, es scheint auch so, dass die Gruppe der Yachties gerne unter sich bleibt und untereinander kommuniziert. Die Spezies Weltumsegler ist häufig nichts weiter als eine Untergruppe der Touristen mit besonderen Bedarfen, was ihre Yacht angeht, die sich aber ansonsten kaum von den anderen, über die Airports eingereisten Gäste unterscheidet. Der Kontakt zum anderen erschöpft sich häufig in der folkloristischen Wahrnehmung und im Abhaken von Sehenswürdigkeiten. Nein, die Yachties sind keine besondere Spezies, ausser vielleicht, dass sie in der Regel reicher sind als die Mehrheit der Menschen auf dieser Welt und daher in der Regel aus Gegenden der Welt stammen, die insgesamt als wohlhabend gelten. Wobei Martina Kleinert sich in ihrer Studie - wohl aus pragmatischen Gründen - auf deutschsprachige Weltumsegler*innen konzentriert hat.
5. Etappe: Vom Ende aller Weltumsegelungen.
Es ist höchste Zeit, Abschied zu nehmen von der Idee der Weltumseglungen. Es gibt keine Weltumsegelungen mehr. Die sogenannten Weltumseglungen der letzten letzten fünfzehn, zwanzig Jahre waren in Wirklichkeit - von einigen Ausnahmen einmal abgesehen - Weltumsegelungs-Besichtigung-Fahrten. Fahrten, die dem Zweck dienten, sich davon zu überzeugen, wie Weltumsegelungen mit Sportbootenzu einem bestimmten Zeitpunkt aufgesehen haben und ob es noch immer so ist wie versprochen und berichtet. Weltumsegelungs-Sightseeing. Weltumsegelungen, bei denen die Touren der anderen mehr oder weniger nachgefahren und mehr oder weniger das gefunden wurde (oder gefunden werden sollte), was in den Berichten versprochen wurde. Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht nicht darum, die seglerische Leistung von einzelnen oder Kleinstgruppen zu diskreditieren oder in Abrede zu stellen. Jeder Ritt über einen Ozean mit einem kleinen Segelsportboot wird immer etwas besonderes sein und bleiben. Aber Weltumsegelungen im Sinne von Erkundungen waren dies in der Regel nicht. Weil den meisten dieser Reisen der Anspruch fehlte, die Fragestellung, die Bereitschaft zur Erkundung. Und zu Erkunden gäbe es jede Menge:
Wie ist der Zustand vom Prinz-William-Sund in Alaka gut 25 Jahre nach der Ölkatastrophe der Exxon Valdez? Wie navigiert es sich eigentlich durch einen der großen Plastikmüllgebiete der Weltmeere? Wie hoch genau ist die Radioaktivität eigentlich in Widjajewo bei Murmansk auf dem weltweit größten Schiffsfriedhof für Atom-Uboote? Fließt in Fukushima nach dem Unglück von 2011 eigentlich immer noch radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer? Wie viele Menschen sterben täglich am den sogenannten Werften am Strand von Alang am Golf von Khambhat in Indien bei den Abwrackarbeiten von Hochseeschiffen, wie unmenschlich sind die Arbeitsbedingen dort und wer steckt dahinter und wie schwer sind Strand und Hinterland mit Asbest, Schwermetallen, Ölen und anderen giftigen Stoffen vergiftet? Wie genau ist das mit den Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer und den Frontexschiffen, die diese in den sicheren Tod hinein von den Europäischen Küsten abdrängen? Die legendäre Nordwestpassage, an der einst John Franklin sich vergeblich versuchte, ist sie jetzt schon im Winter eisfrei? Und welche der Südseeparadiese verschwinden gerade von der Landkarte?
Fragen wie diese sind nur ein winziger Bruchteil von dem, wo es sich hinzusehen und hinzufahren lohnen würde. Weltumsegelungen, so meine These, müssten im Zeitalter der Globalierung politischer sein. Oder ökologischer. Nicht, dass sie jemals politisch waren. Slocum war es nicht, Rollo Gebhard, Winfried Erdmann und auch Gudrun Caligaro oder Laura Dekker waren im engeren Sinne nicht politisch- und doch hatte die Art, wie sie es machten und vor allem, unter welchen Umständen sie es machten, jeweils eine politische Wirkung. Beim Segeln über die Voraussetzungen und Folgen des eigenen Tuns nachzudenken und neue Orte, neue Perspektiven zu finden, das wäre im globalen Zeitalter die eigentliche Herausforderung und auch die eigentliche Leistung einer Weltumsegelung.
Ein gutes Beispiel für eine Weltumseglung, die in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts auch diesen Namen verdient ist die Fahrt die Sailing Conductors. ein Vorhaben von Benjamin Schaschek und Hannes Koch (Käptn und Matrose) unter dem Motto Entdecke das Unerhörte. Die beiden Toningenieure besorgen sich nach Ende des Studiums in Sydney ein Segelboot und wollen 1 Jahr lang Segeln und Musik einsammeln. Aus dem einen Jahr sind 4 ½ geworden und mit Hilfe von Mikrofon, Kamera und Laptop entsteht ein Stück Weltmusik, die Musiker aus unterschiedlichen Regionen und Kontinenten in echten und virtuellen Räumen miteinander verbindet. Ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Globalisierung auch laufen könnte: Menschen kommen zusammen, bereichern einander und haben vor allem eins: Viel Spaß!
Zusammenfassung Fazit
Die Druckkosten zu dem im Jahr 2015 erschienen Buch wurden anteilig vom Trans-Ocean e.V. Verein zur Förderung des Hochseesegelns gefördert. Das Buch hat einen Umfang von 364 Seiten und ist im Transcript Verlag Bielefeld erschienen. Der Preis von 29,99 € ist nicht ganz preisgünstig, aber gerade noch verhältnismäßig.
Das Buch ist in 7 Kapitel gegliedert:
1 Kapitel Hinführung, Theorie & Methode
2 Kapitel „Die Vorausfahrenden informieren die Hinterfahrenden“
3 Von See-Touristen, Seevögeln und echten Seglern
4 Vom Abenteuer zum Un-Ruhestand? Zu Kontinuität und Wandel
5 Die Fahrtenyacht als Gefährt(e) und Zuhause
6 Sailing in Solitude, Cruising in Company - Die soziale Praxis
7 Zwischen Traum und Realität: Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung
Mein erster Anlauf, dieses Buch zu lesen, scheiterte nach kaum 20 Seiten. Dieser schwurbelige wissenschaftliche Vorlauf zur Klärung der Fragestellung und zur Erläuterung Methodologie - warum muss das immer so dröge sein? Und wer sagt eine*m, dass damit angefangen werden muss? Hier hat der deutschsprachige Wissenschaftsbetrieb erheblichen Nachholbedarf, allein: Ich habe keine Hoffnung mehr. Als ich dann mitten im Buch begann, ging es deutlich besser, wobei dieses Buch seine Längen hat. Muss denn jedem Zitat nochmal eine Beschreibung, eine Nacherzählung des Gesagten folgen? Aber doch: Die Kurzweiligkeit stellt sich ein, weil eben nicht Weltumsegler*innen geschichten erzählt wird, sondern weil die Autorin das Phänomen mal etwas genauer unter die Lupe nimmt und versucht, herauszufinden, was das eigentlich ist, so ein Weltumsegler*in mit Fragen und Sichtweisen, die weit über persönlichlich Törnberichte hinausgehen. Ich wünschte mir mehr Bücher, die in dieser Weise gegen den Strich bürsten.
Das Buch ist sicher eine amüsante Lektüre für alle, die schon etwas gelangweilt sind von den sich ewig ähnelnden Weltumseglungsbüchern a la Gebhard, Piefke, Erdmann und Co. und Lust haben auf eine veränderte Perspektive. Und zum anderen zu empfehlen für alle, die über eine Weltumseglung nachdenken. Denn etweder werden sie es so machen, wie die meisten oder aber eben genau das nicht.
Berlin, 21.01.2016
Stefan Schneider
PS: Ein Film! Ein Dokumentarfilm! Ich möchte einen Dokumentarfilm anregen über die sog. Weltumsegler-Szene. Einen, der die Welt der Weltumsegler so beschreibt, wie sie ist. Sorgen um das Geld, ewiges Basteln am Schiff, nervendes Warten auf besseres Wetter, nicht passende Ersatzteile für defekte Motoren, Streit an Bord, Schwatz mit den Stegnachbarn, Sauf-Eskapaden in den Hafenbars, abfällige Bemerkungen über Einheimische ... eben den ganzen Alltagskram.
Weblinks
Anmerkungen
[1] "Blauwassersegeln ist eine Form des mobilen Lebens auf Segelbooten, bei dem sich lange Törns auf Hochsee fernab von Küsten, Häfen oder Yachthäfen (Marinas) mit Perioden des freien Vor-Anker-Liegens meist in Buchten oder vor Riffen ohne Anbindung an moderne Infrastruktur abwechseln." (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Blauwassersegeln)
[2] Ein Schlitzohr dieser Schenk. Er schreibt eben nicht, eine Weltumseglung ist ein Kinderspiel, sondern ... kann zum Kinderspiel werden. Er wird schon wissen, warum.
Fotonachweis
1. Schiffsfriedhof in Frankreich.
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Boat_cemetery,_Finistere,_France.jpg,
Urheber: Deep silence (Mikaël Restoux)
2. Detail der Karte des Ortelius 1590: Magellans Schiff Victoria.
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Detail_from_a_map_of_Ortelius_-_Magellan's_ship_Victoria.png
3. Green Boots - Dead man on Mount Everest.
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Green_Boots.jpg, Urheber: Maxwelljo40
4. Heißluftballon der Brüder Montgolfier 19.10.1783.
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Montgolfier_brothers_flight.jpg,
Urheber: Claude-Louis Desrais (1746–1816)
Exkurs: Palmen auf Corn Island.
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:PalmenCornIslands.jpg,
Urheber: Tabea Huth, Tabea_Huth*at*web.de
5. Sailing Conductors.
Quelle: http://sailingconductors.com/ueber-uns/
Zusammenfassung: Buchcover Martina Kleinert - Weltumsegler 2014.
Quelle: Transcript Verlag
http://www.transcript-verlag.de/media/image/thumbnail/9783837628821_720x720.jpg