GEBET

 

Mitten in der Nacht

gottverlassen in einer gottverlassenen Zeit

bin ich unvernünftig vernünftig und schreie

- trotz alledem und alledem -

zu dir.

Was quälst du mich, schlägst mich

mit der lange nicht gekannten

Schlaflosigkeit, Schlaflosigkeit ob meines

eigenen Lebens.

Ich bin ins Nachdenken gekommen

- wieder -, über mich

und kann angesichts der Situation

nicht einschlafen vor mir.

Mich quält die Machtlosigkeit gegenüber

der politischen Wahnwirklichkeit,

mich quält die momentane Stimmung

in der Gruppe

mich quält die Ohnmacht gegenüber

meinem eigenen,

lauten, aufdringlichen, machtbesessenen,

launischen, arroganten, gefühllosen,

egoistischen Gehabe.

Ich, der ich doch so gern ein anderes

Bild von mir hätte.

 

Ich wünschte, du würdest mir

das Rückrat brechen, damit ich

lernte - und ich nehme das große

alte Wort sehr bewußt in den Mund -

damit ich lernte demütig zu sein,

leise, liebevoll, zärtlich, gefühlvoll,

liebend, ja voller Liebe - selbstlos -

und wenn auch nur für einen

einzigen Menschen!

Jedoch: Auch Niederlagen, weiterbringende

Niederlagen werden nicht verschenkt.

Ich beginne zu glauben:

Ich beginne zu glauben, daß meine

Armut in meinem Reichtum liegt

und daß mein Reichtum in der

Armut liegen könnte.

Dom Helder, mein Gefährte in dieser Nacht
schreibt:

Teilst du dein Brot ängstlich,
ohne Vertrauen,
ohne Wagemut,
überstürzt,
wird es dir fehlen.
Versuch es zu teilen,
ohne in die Zukunft zu denken,
ohne zu rechnen,
ohne zu sparen,
als ein Sohn
des Herrn über alle Enten der Welt.

Ich weiß nicht, ob einer dies besser
erklären könnte.
Wie ein Mönch sollte ich werden,
nichts - und doch alles besitzend.
Wie soll ich es sagen:
Ich glaube nicht, daß ich frei
bin,
ich glaube, daß ich - letztlich -
sehr einsam bin.
Schon morgen wird vieles ganz anders
sein, werde ich vieles ganz anders
sehen und sagen.
Aber auch die leisen Stunden sollen
zu Wort kommen,
und die anderen Seiten
müssen gehört werden.
Nicht Wanderer zwischen den Welten;
die Welten zwischen dem Wanderer
sind ausschlaggebend.
Ich möchte in den Kirchen und Tempeln
laut und ehrlich von meiner Gottverlassenheit
sprechen,
hierhin, zumindest hierhin gehört unsere Klage.

28.08.1985

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