Ein ordinäres Gedicht

so wie süffige Küsse
schweißnasse Körper
der Tau des Morgen
und die Erfahrung von Auferstehung ordinär sind

Irgendwo zwischen Göttingen und Eschwege
eine herbstsüffige Nebelwand
im Samstagabendneonlicht
bei Nachrichten und kurz vor der Sportschau.
Außer mir ist nur noch der erotomane Cassettenrecorder
im bierkalten Raum,
und zwischen Chips und 'ner Zigarette, die nicht mal schmeckt,
hängen noch die letzten beiden versoffenen Nächte
wie das Bild von Dir in meinem Kopf.
Ich denke, ob ich nicht noch zu allem Überfluss eine
Kaffeetasse auf den Boden schmeißen soll,
und weil das eh schon egal ist, mach ich das auch.
Und es steht fest, daß auch dies ab jetzt und sofort
wie selbstverständlich zum Gedicht gehört.
Klirr.
Worum es geht, ist klar.
Ab jetzt wird nichts mehr so sein, wie es war.
Und während ihr die Scherben NICHT aufsammelt,
erzähle ich von der traurigen 15-tausend-Leute-Demo
des 3. November 1984 in Bonn,
auf der diese erbärmliche Handvoll Leute
sich um des Friedens willen selbst bekriegten.
Atemlose Parodie des noch immer noch 5 Minuten bis Tilt Desasters
auf der Erde,
dieser gottverdammten Hure.
Konstantin hat recht, wenn er sagt,
ich liebe diese Hure. Gottverdammt,
ich liebe diese Hure.
Es gibt keine tragischen Lieder, keine tragischen Szenen,
es ist alles nur unser Bild im Spiegel
und ansonsten gibt es nichts tragisches mehr auf dieser Welt.

Das sind die Momente, in denen ich Hiob gleich auf dem
Scherbenhaufen sitze,
weil nichts mehr so ist, wie es war,
und weil ich das endlich mal zu kapieren habe, daß ich in der
Scheiße stecke, daß wir in der Scheiße stecken.
Wir alle.
Und Gott ist so weit wegl
Und dies ist der Moment, wo ich mir meinen abgewixten
Masturbationskatholizismus in mein Arschloch schieben kann
bis zum Anschlag. Bis zum Anschlag.
Und dann Taste drücken und abschießen.
Anschließend mich mit Rhizinus ersäufen bis er aus den Ohren kommt
meinetwegen ne Dröhnung Alk hinterherkippen,
rauf auf Klo.
Dort wird drei Tage und drei Nächte fürchterlich gebüßt.
Es ward Abend und es ward Morgen: Erster Tag.
Es ward Abend und es ward Morgen: Zweiter Tag.
Und es ward Abend und es ward Morgen: Dritter Tag.
Und wenn dann alles ausgeschissen ist,
ist die Zeit zum Aufstand, zur Auferstehung da.

Der Körper, meine Geliebte, ist frei für die Leidenschaft.
Für die Leidenschaft meines Geliebten.
Sein Name ist: Leidenschaft, wahnsinnige Liebe.
Und ich liebe sie, die nassen, wilden, zärtlichheftigen
sanften und trunkenmachenden Küsse.

Ich sage hiermit öffentlich:
Ich habe nur eine Liebe; die Welt.
Und ich kenne nur die eine Welt; die Liebe.
Und ich möchte mit Andre Heller, mit Bukowski, Ezechiel,
Mit Susanne, der irren Heiligen, und Abraham,
mit Jahis Joplin, Claudia Maria, Sam,
Schimanski, Lemmi, Clemi, Siggi, Higgi
und allen meinen irren Freunden, Freundinnen und Geliebten
auf die Straßen gehen
und verkünden, daß der Frieden
ausgebrochen ist, hemmungslos, endgültig,
unwiederruflich und für alle.

Und noch an diesem Abend, noch in dieser Nacht,
wird auf den Straßen der Welt ein Fest gefeiert
zu dem niemand eingeladen hat, das niemand
vorbereitet, geplant und organisiert hat.
Es wird ein Fest sein der nassen Küsse,
der Freudentränen, des roten Weins und des
Biers, ein Fest der Gitarren, Tänze und
Extasen, ein Fest des Wiedersehens des Verlorenen,
ein Fest der Befreiung der Einsamen und der
Mächtigen, ein Fest des satt-werdens-für-alle,
ein Fest der Eine-Wohnung-für-alle,
ein Fest des Jeder-hat-was-er-braucht-und-noch-viel-dazu.
Und das Wasser wird vor Freude fluten,
die Sonne wird mitten in der Nacht
aufgehen, der Mond wird plötzlich voll
und die Bäume ergrünen.

Und wenn der Morgen kommt, nach einer
Nacht ohne Ende, stürzt der Turm ein.
Der Turm, gebaut aus Tod, Leid, Einsamkeit,
Ausbeutung, Kapitalismus, Vergewaltigung, Macht
und noch vielen anderen schweren Steinen.
Dieser Turm wird einstürzen.
Halleleja und der Turm stürzt ein.

Und ein letztes muß ich euch sagen:
Dies ist kein Traum, kein Alptraum,
kein ordinäres Gedicht und wilde Utopie:
Nein, so wahr ich hier bin,
ich glaube, daß dies Wirklichkeit sein kann, sein wird,
hier und jetzt, heute nacht.
Und darum gehts, und das ist entscheidend.
Ich liebe euch.

Stefan Schneider, 3. November 84

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