Alles verändert sich, wenn wir es verändern?
Bilanz 2015 - 2022 & Ausblick:
Wohnungslosentreffen – Selbstvertretung wohnungsloser Menschen – Koordinierungsstelle – Wohnungslosen_Stiftung ...
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Link zur PDF-Datei: Presseerklärung Bilanz Wohnungslosentreffen 2015-2022.pdf
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Guten Tag,
gestern, am 28.02.2022 war mein letzter Arbeitstag als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Bethel im Bereich Wohnungslosenhilfe am Standort Freistatt und zugleich mein letzter Arbeitstag im vom Land Niedersachsen geförderten Modellprojekt Aufbau einer Koordinierungsstelle der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen (Link: Präsentation Modellprojekt).
Dazu möchte ich folgendes mitteilen:
- Sommercamps. Im Jahr 2015 bin ich zusammen mit Dr. Peter Szynka (damals bei der Diakonie Niedersachsen) und Jürgen Schneider (Armutsnetzwerk e.V.) nach Freistatt zur Stiftung Bethel gekommen mit der Idee, über einen Zeitraum von drei Jahren regelmäßige Sommercamps für wohnungslose Menschen durchzuführen. Wir wussten alle damals noch nicht, worauf wir uns einlassen, waren uns aber einig, dass das Projekt ergebnisoffen sein müsste. (Link: Antrag Aktion Mensch) Im Nachhinein müssen wir alle sehr dankbar sein, dass die Wohnungslosenhilfe der Stiftung Bethel an Standort Freistatt bereit war, sich dieser Herausforderung zu stellen und das Wagnis anzunehmen. Das war bei weitem keine Selbstverständlichkeit.
- Selbstvertretung. Die Wohnungslosentreffen 2016, 2017 und 2018 in Freistatt brachten tatsächlich eine große Zahl wohnungsloser, ehemals wohnungsloser und von Wohnungsnot bedrohter Menschen und viele Unterstützer:innen zusammen. Aus den vielen Diskussion ist dann das Netzwerk Selbstvertretung wohnungsloser Menschen entstanden. Ein Leitbild (Link: Leitbild) und 10 Goldene Prinzipien der Zusammenarbeit (Link: Goldene Prinzipien) konnten entwickelt werden. Vor allem das auf dem Wohnungslosentreffen 2019 erarbeitete 5-Punkte-Programm (Link: 5-Punkte-Programm) ist ein wichtiger inhaltlicher Meilenstein.
- Modellprojekt. Im Nachfolgeprojekt Koordinierungsstelle der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, zugleich ein Modellprojekt des Landes Niedersachsen, konnte auf dieser Basis zunächst gut weiter gearbeitet werden. Das Konzept beschrieb als zentrale Ziele die Fortsetzung der Arbeit, den Aufbau von Gruppen, den Wissenstransfer und die Klärung der Rechtsform (Link: Konzept Koordinierungsstelle).
Das Wohnungslosentreffen 2019 in Herzogsägmühle zeigte, dass Wohnungslosentreffen überall möglich sind, wenn die Bedingungen stimmen. Die Online-Wohnungslosentreffen 2020 und 2021 stellten unter Beweis, dass es trotz der massiven Einschränkungen der Corona-Pandemie möglich ist, wenigstens ansatzweise das Netzwerk aufrecht zu erhalten und auf dieser Basis in Verbindung zu bleiben und sich in politische Debatten einzumischen. - Aktionen. Die Liste der verschiedenen Aktionen, Projekte, Auftritte im Rahmen des Projekts Wohnungslosentreffen/ Selbstvertretung wohnungsloser Menschen ist beeindruckend (Link: Termine). Höhepunkte waren sicherlich die Beteiligung der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen auf dem Kirchentag in Dortmund im Juni 2019 (Link: Berichterstattung Onlinezeitung), die Protestkundgebung anlässlich der Obdachlosenzählung 29.01.2020 in Berlin unter dem Motto "Wohnungen statt Zählungen" (Link: Berichterstattung Abendschau 07.02.2020) und der sehr beeindruckende Auftritt der Theatergruppe der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen am 11.07.2021 auf dem Festival Theaterformen in Hannover (Link: Video Theaterauftritt).
- HomelessTalk. Hervorzuheben ist auch die Beteiligung an dem europäischen Erasmus+-Projekt: Let's Talk About Homelessness: Learning as a Tool for Social Integration of Homeless People, kurz #HomelessTalk (Link: HomelessTalk). Neben der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen sind weitere Akteure in diesem Erasmus+ Projekt die Stiftung Menhely, Budapest, Ungarn; das Obdachlosentheaterprojkt Divadlo bez domova, Bratislava, Slowakei; die Stiftung Arrels, Barcelona, Spanien. Die Zusammenarbeit wohnungsloser Menschen auf europäischer Ebene ist ohnehin anspruchsvoll und hinzu kamen die erschwerenden Covid-19-Pandemie-Bedingungen. Dennoch war es möglich, unter den Mitwirkenden ein gutes, vertrauensvolles Netzwerk aufzubauen.
Die beiden Ergebnisse, ein Handbuch von guten Beispielen für eine Öffentlichkeitsarbeit unter Beteiligung wohnungsloser Menschen (Link: Toolkit englisch) und eine Kunstsammlung, die dazu beitragen möchte, die gängigen Vorurteile gegenüber obdachlosen Menschen zu korrigieren (Video: LookTalkAct), werden in den nächsten Wochen öffentlich vorgestellt.
Eine Auswertung der Arbeit in der Koordinierungsstelle zeigt ein gemischtes Bild:
- Gruppenbildung. Es nicht gelungen, stabile Gruppen aufzubauen, was sicherlich daran liegt, dass wohnungslose Menschen viel zu vielfältig und unterschiedlich sind, um sich auf Dauer aufeinander einzulassen. Was allerdings sehr gut funktioniert, ist, dass Menschen aus dem Netzwerk sich zu Anlässen und Projekten treffen und gemeinsam an konkreten Vorhaben arbeiten und sich dabei gegenseitig im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen.
Gegen die Tendenz, sich einzelne wohnungslose Menschen als "Betroffene" herauszupicken und für eigene Zwecke zu Instrumentalisieren, wie es häufig in den Medien aber auch von den Fach- und Wohlfahrtsverbänden insbesondere der Wohnungslosenhilfe immer noch praktiziert wird, ist das gemeinsame und inhaltlich selbstbestimmte Auftreten als Gruppe oder Netzwerk das einzig wirksame Mittel, um eigene Positionen und Sichtweisen zu artikulieren und durchzusetzen. Und auch nur so wird das breite Spektrum des Problems Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot sichtbar. - Wissenstransfer. Angebote zu Qualifikationen und Fortbildungen werden sehr gut angenommen und bewertet, und auch Veranstaltungen, zu denen wohnungslose Menschen als Expert:innen eingeladen und angehört werden. Die Strategie, Einladungen und Anfragen offen auszuschreiben und nach Möglichkeit alle daran teilnehmen zu lassen, die Interesse haben, hat sich bewährt - auch wenn es immer wieder Neid- und Missgunstdebatten darum gab. Dabei gab es fast niemals eine Knappheit von Plätzen. Durch vielfache Gelegenheiten, sich zu unterschiedlichen Themen in unterschiedlichen Konstellationen zu Wort zu melden und das Auftreten immer und immer wieder zu trainieren, ist im Verlauf der Jahre eine beindruckende Fachlichkeit und Professionalität entstanden.
- Rechtsform. Die überstürzte und nicht hinreichend bedachte Gründung des Vereins "Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e.V." (Link: Verein) hat mehr Probleme geschaffen als Lösungen hervorgebracht. Die vorher erarbeiteten Prinzipien, nach der jeweils besten Lösung zu suchen und alle Dinge auf Augenhöhe miteinander zu besprechen, wurden sehr maßgeblich beschädigt. Nicht mehr die Erfahrungen und Kompetenzen der beteiligten Menschen und ihr Engagement für eine bessere Zukunft stand im Mittelpunkt der Diskussionen, sondern kleinliche Streitereien um Satzungsfragen und Geschäftsordungsprobleme und andere nachrangige Fragen beanspruchten fast die gesamte Aufmerksamkeit. Vorstandssitzungen waren und blieben der „negative Höhepunkt der Woche“. Versuche, das zu thematisieren oder ändern, scheiterten.
- Mobbing und Ausgrenzung. Die durch die Vereinsgründung ausgelöste destruktive Dynamik wurde noch gesteigert durch die Leitungskraft der Wohnungslosenhilfe Freistatt, die sich dem Vorstand der Selbstvertretung als Berater und Geschäftsführer aufgedrängt hat, weitgehend planlos agierte und ein Klima der Angst und der Einschüchterung erzeugte. Mobbing, Bossing und Ausgrenzung führten zu einem Ende offener Diskussionen, zu Resignation, Unzufriedenheit, Selbstzerfleischung sowie Abwanderungen - und ein großer Teil möglicher Aktivitäten wurde ausgebremst, verhindert oder im Keim erstickt.
Weil das nicht im Verborgenen blieb, hat der Verein dadurch viele Chancen für eine finanzielle Förderung und damit Fortsetzung der Arbeit verspielt.
Immerhin hat der Vorstand der Stiftung Bethel auf seiner Sitzung am 17.02.2022 beschlossen, diesen Mobbing-Vorgang (siehe dazu: Stiftung Bethel - Dienstvereinbarung Beschäftigtenschutz Gegen sexuelle Belästigung, Mobbing und Diskriminierung) durch eine Innere Revision aufzuklären.
Glücklicherweise gab und gibt es sowohl innerhalb des Vereins als auch innerhalb des Netzwerkes der Selbstvertretung starke Tendenzen, sich von dieser verhängnisvollen Abhängigkeit zu befreien und neue, eigene Wege einzuschlagen. - Koordinierungsstelle. Die Arbeit der Koordinierungsstelle war in seinen besten Phase geprägt von vertrauensvoller und kreativer Zusammenarbeit mit dem Ergebnis, dass eine Vielzahl von Ideen umgesetzt, Anfragen abgearbeitet und Projekte auf die Beine gestellt werden konnten. Mein besonderer Dank gilt Olaf Jerke, Marcus Rudolph, Marcus Bugdol, Swen Huchatz, Hannes Grimm, Astrid Thielo und vor allem Dirk Dymarski. Nicht immer hat die Zusammenarbeit so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben. Die vielen Unterschiede haben von allen Beteiligten ein hohes Maß an Konfliktbereitschaft abverlangt und nicht immer war es möglich, Konflikte produktiv mit Blick auf das gemeinsame Ziel - wie es im Leitbild festgehalten ist - konstruktiv aufzulösen.
Bedauerlicherweise konnten die guten Ansätze nicht verstetigt werden, nicht zuletzt deshalb, weil es neben dem erwähnten Mobbing von Seiten der Leitung der Wohnungslosenhilfe Freistatt nicht den Willen gab, Überlegungen in diese Richtung aufzugreifen und zu unterstützen. Statt auf bewährte Kräfte zu setzen, wurde über Monate hinweg ein fachfremder Mensch zusätzlich eingesetzt und so erhebliche finanzielle Ressourcen ohne Not verschwendet. - Wohnungslosen_Stiftung. Durch die Gründung der Wohnungslosen_Stiftung Selbstvertretung und Empowerment auf Augenhöhe gUG i.G. (Link: Wohnungslosenstiftung) konnte im August 2022 eine Plattform geschaffen werden, die es ermöglicht, die erfolgreichen Elemente der bisherigen Arbeit fortzusetzen. Die Idee für diese Stiftung ist im Grunde ganz einfach. Wohnungslose, ehemals wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen sagen, was sie brauchen, um sich selbstbestimmt zu Wort melden zu können. Das können ganz einfache Dinge sein wie Kopierkosten für ein Flugblatt, eine Powerbank, damit das Smartphone länger durchhält, aber auch eine Fahrt zu einer Tagung oder Gelder für die Organisation eines Treffens, um sich auszutauschen und Forderungen festzuhalten. Die Stiftung wird die zukünftigen Netzwerk- Koordinierungs- und Wohnungslosentreffen organisieren. Selbstvertretung und Emperment kommen auf Augenhöhe zusammen.
Wie geht es weiter?
- Fortsetzung der Arbeit. Der Verein Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e.V. wird prüfen müssen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine weitere Arbeit sinnvoll und möglich ist und ob es dem Verein gut tut, sich weiterhin dem Diktat der Wohnungslosenhilfe von Bethel am Standort Freistatt auszusetzen, unterzuordnen und sich für deren Ziele instrumentalisieren zu lassen. Alle, die daran beteiligt sind, müssen für sich entscheiden, ob bereit sind, diese Zustände weiter hinzunehmen oder aber sich zu trauen, zu einer angstfreien und selbstbestimmten Zusammenarbeit auf Augenhöhe im Sinne des Leitbildes zurück zu kehren.
Eine Zukunft für den Verein wird es nur geben, wenn nicht Streitereien um Nebensächlichkeiten und Befindlichkeiten, sondern die gemeinsame Arbeit für die Überwindung von Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit wieder an zentrale Stelle rücken. Der Verein sollte die nächsten Monate nutzen, die vergangenen Probleme und Konflikte und auch das Mobbing konstruktiv aufzuarbeiten.Die Wohnungslosen_Stiftung wird die Arbeit der Koordinierung so gut wie möglich fortsetzen. Es wird eine gewisse Zeit brauchen, um aus einer nicht ganz einfachen Startposition die Arbeit so zu entwickeln, wie sie in den besten Zeiten der Koordinierungsstelle möglich war – mit einer Anbindung zu einem Gäste- und Seminarhaus, eigenen Büros und Besprechungsräumen und einem Etat, der mehrere bezahlte Mitwirkende und zahlreiche Projekt- und Gruppentreffen möglich macht. Damit wird sich der Schwerpunkt der Aktivitäten weg von Freistatt und hin nach Berlin verlagern, was auch Sinn macht, da Berlin als Hauptstadt der Knotenpunkt aller wichtigen politischen Aktivitäten ist.
- Ausblick & Termine:
- Netzwerk- und Koordinierungstreffen Frühjahr 2022. Das nächste Netzwerk- und Koordininierungstreffen Frühjahr 2022 wird von Montag, den 28.03. bis Donnerstag, den 31.03.2022 in Berlin in der Begegnungsstätte des VJF e.V. stattfinden. Eine Einladung dazu mit einem Entwurf des Programms geht in den nächsten Tagen raus.
- Netzwerk- und Koordinierungstreffen Herbst 2022. Das nächste Netzwerk- und Koordininierungstreffen Herbst 2022 wird voraussichtlich im Oktober 2022 in Hannover stattfinden. Weiter Informationen demnächst.
- Deutscher Evangelischer Kirchentag 2023 in Nürnberg. Eine Gruppe aktiven Menschen aus der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen wird von Mittwoch, dem 07.06 bis Sonntag, den 11.06.2023 auf dem 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg dabei sein.
- Wohnungslosentreffen 2023. Das nächste Wohnungslosentreffen wird von Samstag, 22.07. - Samstag, 29.07.2023 in Berlin auf dem Gelände des Abenteuerzentrums Berlin stattfinden.
- Dank Mein besonderer Dank gilt
- allen Teilnehmenden der Wohnungslosentreffen 2016, 2017, 2018, 2019 und der Online-Wohnungslosentreffen 2020 und 2022,
- den Mitarbeitenden der Stiftung Bethel und besonders am Standort Freistatt,
- den Mitgliedern des Armutsnetzwerkes e.V.,
- den Menschen im europäischen Netzwerk wohnungsloser Menschen HOPE und
- vielen anderen mehr, die ich hier im Einzelnen nicht aufzählen kann.
Danke für Eure Unterstützung, danke dass ich von Euch lernen durfte, danke, dass ihr da wart. Alles verändert sich, wenn wir es verändern! Wir bleiben verbunden.
Berlin, 01.03.2022, Dr. Stefan Schneider
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