Die Borten. Untrennbar verbunden mit der Erinnerung an meine Großmutter ist meine Erinnerung an ihre Nähmaschine. Zunächst waren es die Resultate ihrer Arbeit an der Nähmaschine. Da war diese schwarze Cordhose, die ich als 9jähriger so liebte. Aus irgendeinem Grund wurde diese Hose kürzer und kürzer, und das, obwohl wir sie schon zweimal ausgelassen hatten und nichts mehr zu verlängern gab. Meine Mutter sagte: Komm, wir geben sie Oma, die macht da eine Borte dran. Oma kam auch ein paar Tage später und die Hose zierte eine dicke bunte Borte und vor allem: ich konnte sie wieder tragen. Irgendwann gefielen mir die Cordhosen nicht mehr und es mussten Jeans sein. Blaue Jeans. Je heller, und damit verschlissener, ausgewaschener sie waren, desto besser. Darin waren sich alle einig. Nur Löcher in den Hosen, das ging damals gar nicht. Und Löcher gab es immer wieder und immer wieder an den klassischen Stellen, am Knie und am Po. Als ich so dreizehn oder vierzehn Jahre alt war, ging ich dann schon selbständig zur Oma. Ich hatte auch schon eigene Vorstellungen entwickelt. Mir war es wichtig, dass die Flicken möglichst den richtigen Farbton trafen und ordentlich vernäht waren. Auch sollten sie groß und flächig sein. Eine von Oma geflickte Jeans konnte ich noch lange tragen. Manchmal war es auch so, dass nach ein paar Wochen wieder ein neuer Riß entstand, in der Regel neben dem Flick. So eine Hose mit mehreren Schichten an Flicken war natürlich noch wertvoller, noch cooler. Doch irgendwann einmal kam der Punkt, wo eine Hose nicht mehr flickbar war. Das war aber im Grunde nicht schlimm, weil diese Hose wertvolles Flickenmaterial abgab für neuere Hosen. Als ich fünfzehn war, wollte ich dann auch wissen, wie sie es macht. Ich konnte es mir überhaupt nicht vorstellen, wie man genau am Knie überhaupt mit der Maschine nähen könnte, ohne das Hosenbein ganz zuzunähen. Da musste es doch ein Trick geben. Den gab es auch. Wie eine Chirurgin trennte Oma das Hosenbein am Knie auf und konnte dann Problem in diesem Bereich einen Flicken vernähen. Wenn das fertig war, nähte sie die Naht am Hosenbein wieder zu und alles war gut. Das war für mich eine wichtige Erkenntnis. Später in der Studentenzeit wechselte dann die Mode. Die Jeans, die ich mochte, waren nicht mehr blau, sondern schwarz. Ich wohnte schon lange nicht mehr zu Hause, aber Oma besuchte ich doch immer noch gerne – und brachte ihr meine Hosen vorbei. Sie erwähnte zwar, dass es ihr zunehmend schwer fiele, den schwarzen Faden zu erkennen und einzufädeln, vor allem im Winter bei schlechtem Lampenlicht, nähte aber doch klaglos jede Hose, die ich ihr brachte. Natürlich ließ sie sich von mir erstmal zeigen, was zu tun sei und nahm die Hose fachkundig unter die Lupe. Auch defekte Reißverschlüsse waren kein Thema. Auch das konnte Oma.
Selber Flicken. Dann starb Oma. Ich war 22 Jahre alt und noch mitten im Studium. Einige Tage nach ihrer Beerdigung standen wir in ihrer Wohnung und sprachen einvernehmlich darüber, wer was erben wollen würde. Für die beiden Sessel und die Couch interessierte ich mich, und es gab außer mir auch keine weiteren Bewerber. Und auch für die Nähmaschine meldete ich mich an und bekam sie auch unwidersprochen. Bei mir hatte sich auch ein gewisser Berg an defekten Jeans angehäuft. Im Frühjahr 1988 machte ich mich dann erstmal an die Arbeit, mehr oder weniger autodidaktisch. Die Hose auftrennen, den Flicken zuschneiden und falzen, anheften. Den Garn einfädeln und auch prüfen, ob die untere Rolle über hinreichend Garn verfügt. Die richtige Nadel wählen, es musste schon eine recht starke Nadel sein, weil Jeansstoff ist ein kräftiger Stoff. So habe ich über die Jahre viele viele Hosen geflickt und so ihre Lebens- und Tragedauer erheblich verlängert. Immer so anfallsweise. Wenn ich nur noch ein, zwei Hosen ohne Löcher hatte, habe ich mich an den Stapel neben der Nähmaschine gesetzt und einen halben oder ganzen Tag lang Hose für Hose geflickt über Stunden hinweg. Auch an schwierigere Aufgaben habe ich mich rangetraut, etwa einen Reißverschluß zu nähen.
Staubflocken. Die Nähmaschine, ein Singer-Fabrikat mit Fußantrieb, hat mich mein Leben lang begleitet und auch alle Umzüge mitgemacht. Nur haben sich seit meinem Einzug in der O.-Straße im Jahr 2004 zwei wichtige Sachen geändert. Zum einen bin ich dicker geworden, und alle Hosen passten mehr oder weniger nicht mehr. Sie lagen zwar immer noch zur Bearbeitung neben der Nähmaschine, aber eines Tages habe ich sie mehr oder weniger schweren Herzens weggeworfen. Die Hosen, nicht die Nähmaschine. Meine Überlegung war: Hosen, in die ich nicht mehr passe, sollte ich nach nicht mehr flicken. Zum zweiten habe auch ich festgestellt, dass es mir zunehmend schwer fällt, den schwarzen Faden zu sehen und einzufädeln. Einmal im Winter habe ich es frustriert aufgegeben und bin mit kaputter Hose zu irgendeinen wichtigen Termin gefahren. In der Hoffnung, dass niemand merkt, dass vom vielen Radfahren ein Loch im Schritt ist. Auch mein Sehvermögen hat altersbedingt abgenommen. Ich hatte also eine Nähmaschine in der Wohnung, die regelmäßig zustaubte und auf der ich schon lange nicht mehr nähte. Aber mich von der Nähmaschine zu trennen, auf diesen Gedanken kam ich gar nicht.
Outsourcing. Ich hörte mit dem Rauchen auf und wurde noch dicker. Wieder gingen Hosen kaputt, hatten meistens Löcher im Schritt, weil ich bis heute viel Fahrrad fahre und passten auch nicht mehr gut. In alter Gewohnheit legte ich sie beiseite, ohne eigentlich sagen zu können, warum. Im Grunde war es spekulativ. Daß ich eines Tages wieder dünner sein würde, daß ich wieder Lust aufs Nähen bekommen würde – ich kann es nicht sagen. Seit dem März 2011 nehme ich tatsächlich ab. Von März bis August ganze 13 Kilo. Ich habe beschlossen, mit der Politik aufzuhören, habe meine Ernährungsangewohnheiten deutlich verändert und esse verstärkt Obst und Gemüse statt Fertigpizza und Eis, und mache auch mehr Sport. Als ich von meiner Segelreise zurückkam, zeigte die Waage nur noch 94,8 kg an. Einen Tag später probierte ich die alten Hosen an. Sie passten wieder. Aber nähen, selber nähen? Nein, darauf hatte ich nun keinen Bock. Ich war finanziell knapp und überlegte, daß ich sie in eine Schneiderei bringen sollte. Drei Hosen hatte ich, ich kalkulierte 20 €€ für eine Hose und überlegte, dass ich mit 60 € Investition drei noch halbwegs brauchbare Hosen haben würde.
Zwei Lächeln. Die vietnamesische Änderungsschneiderin in der Wichertstraße lächelte mich an. Wie neu würden die Hosen aussehen, die ich ihr zeigte. Ich muss wohl sehr mit der Stirn gerunzelt haben, denn sie holte eine Jeans von der Stange und zeigte mir die Flickstelle. Und tatsächlich, nur bei genauem Hinsehen war die Reparatur erkennbar. Sie hatte mit dem Garn den Farbton gut getroffen und mit einem dünnen Flickstück von hinten gut den Riss geschlossen. Es war fast nichts zu sehen. Und, was das beste war, die verlangte nur 10 € pro Hose. Als ich mir drei Tage später die Hosen abholte, war das Ergebnis überwältigend und ich war ausgesprochen zufrieden. Diese Ausgabe hatte sich wirklich gelohnt, ich hatte wieder drei gute Hosen für den Alltag. Jetzt lächelte ich die vietnamesische Schneiderin an. Ich freute mich und wußte: Jetzt habe ich wieder jemanden, dem ich meine kaputten Hosen anvertrauen könnte.
Ein Erinnerungsstück. Mit anderen Augen blickte ich tags darauf auf Omas Nähmaschine. Ich würde sie nicht mehr brauchen. Diese Qualität zu diesem Preis – ich würde mehr Zeit brauchen und schlechtere Ergebnisse erzielen. Aber Omas Nähmaschine wegschmeißen? Nein, das kam gar nicht in Frage. Dann kam mir die rettende Idee. Würde ich die Nähmaschine entfernen, bliebe dass gußeiserne Tischgestell mit dem Tritt und dem Schwungrad, sowie das Tischchen selbst mit einem Loch, dort, wo die Nähmaschine war. Das müsse sich doch etwas machen lassen. Ich schraubte alles ab und ging mit dem Holz zu meinem Tischler. "Für Sie ist das nur ein Stück Holz, für mich das Erbstück meiner Großmutter!", sagt ich. Herr Friedrichsson verstand das. "Hinten in meiner Werkstatt habe ich auch noch so eine Nähmaschine. Auch von meiner Großmutter. Die war Schneiderin und ich habe als Kind oft bei ihr gesessen und sie hat mir das Nähen beigebracht!" Er wird ein Stück Holz einsetzen dort, wo einst die Nähmaschine war und versuchen, das Singer-FIrmenlogo von der Abdeckung der Nähmaschine dort als Einlegearbeit einzusetzen. In wenigen Tagen wird sich eine alte, verstaubte Singer-Nähmaschine, wie es sie millionenfach gab, verwandelt haben in ein kleines charaktervolles, ehemaliges Nähmaschinen-Tischchen. Und immer, wenn ich dort einen Blumenstrauß hinstelle, eine Kerze entzünde, eine Tasse Kaffee abstelle oder ein Buch hinlege, werde ich an meine Oma denken können und mich freuen, dass dieses alte Stück die Erinnerung an sie bewahrt.
Berlin, 31.08.2011 - Stefan Schneider
Zur Erinnerung an
IDA THIEL, geb. BERGAU
12.01.1914 – 23.04.1988
Editorische Notiz:
Ich habe diesen Beitrag aus einem Impuls heraus geschrieben, jetzt möchte ich, dass er auch gelesen wird. Und eigentlich möchte ich damit auch gerne Geld verdienen. Also habe ich ihn nicht nur auf identi.ca, twitter und facebook gepostet, sondern auch folgenden Redaktionen zur Veröffentlichung angeboten: Brigitte, Freundin, Amica, Jolie, Petra, Elle, Joy, Emma, Missy und Tina. Mal sehen, was passiert. Wahrscheinlich nichts.