Hund Paco im Jahr 2011 - Foto: Sven MohrwinkelIch weiß gar nicht mal, wann genau er auftauchte und wo. Sicher war es in einem unserer Büros, und mit Sicherheit ging es darum, dass er einen Einsatzort suchte für das Programm Arbeit statt Strafe. Er war ein großer, beinahe hagerer Typ mit blonden, halblangen Haaren. Wenn er sprach, war eine Zahnlücke erkennbar. Er war ordentlich gekleidet mit blauen Jeans, Turnschuhen und einem breit gestreiften T-Shirt, aber seiner Kleidung war doch anzusehen, dass Geld bei ihm Mangelware war. Sein Gesicht hatte verbitterte Züge, aber er konnte auch freundlich blicken und sogar lachen. Es war so dazwischen. Es war schwer, ein Einsatzgebiet für ihn zu finden. In die Redaktion wollte er nicht, schreiben sei nicht so sein Ding sagte er. In den Vertrieb könne er auch nicht gehen, da hätte er zu viel Kontakt mit den Junkies, und das sei nicht gut für ihn. Der Bereich Küche käme auch nicht in Frage. Er sei HIV positiv und hätte obendrein Hepatitis, da wäre ein Umgang mit Lebensmitteln nicht gerade sinnvoll. Es war wirklich schwer, für Sven etwas passenden zu finden. Aber abwimmeln wollte ich ihn auch nicht, denn er machte den Eindruck, als wolle er wirklich versuchen, die Kurve zu kriegen. Nicht nur in dieser Angelegenheit. Überhaupt.

Ich meine, er schlug selbst vor, irgendeine Arbeit im Büro übernehmen zu wollen. Ich fragte ihn ab: Computerkenntnisse, 10-Finger-Schreiben, Rechtschreibung. Alles nicht so super toll, sagte er selbstkritisch. Aber er wolle sich einarbeiten und könne ja jemanden unterstützen. Am Ende des Gesprächs war er zuständig für die Personalabteilung.

Die Personalabteilung bestand damals aus einem Aktenordner. Ein paar, die von der Gerichtshilfe kamen und wegen kleinerer sogenannter Vergehen wie Schwarzfahren Arbeit statt Strafe abzuleisten hatten. Ein paar, die vom Sozialamt kamen und gemeinnützige zusätzliche Arbeit leisteten. Noch der eine oder andere Praktikant zwischendurch. Nicht wirklich viel, aber immerhin doch eine mir lästige Arbeit, und die Buchhalterin wollte das nicht unbedingt mit erledigen. Also war Sven jetzt zuständig für diese Arbeit, die in der Hauptsache darin bestand, Akten anzulegen, Stundenlisten zu erstellen, Übersichten abzuzeichnen und die Korrespondenz zu erledigen. Mit Anschreiben und Kopie.

Sven nahm diesen Aufgabenbereich sehr ernst. Er erkundigte sich genau, was zu tun sei. Bald schon führte er eigenständige Personalgespräche, machte Vorschläge zu Einsatzgebieten neuer Leute und sagte geradeaus seine Meinung, was er von den Leuten hielt, die da eintrudelten. "Den würde ich nicht an die Kasse lassen!" oder "Ich glaube nicht, dass der wieder kommt!!", waren typische Sprüche. Aber er verstand schnell, das ein wichtiges Prinzip des Vereins darin bestand, allen eine Chance zu geben. Seine Skepsis ließ ihn oft hadern. Was Sven als Mitarbeiter so liebenswürdig machte, war, dass seine Arbeit meistens immer einen gravierenden Fehler enthielt. Manchmal vergaß er bei der Adresse einfach die Straße. Oder die Postleitzahl. Oder er schickte ein Stundenabrechnung raus, ohne eine Kopie zu erstellen. So sehr er sich auch konzentrierte, irgend etwas Wichtiges war immer falsch, verdreht, unvollständig, ausgelassen oder vergessen. Dieses Problem konnte aber schon bald behoben werden durch die neu geschaffene Stelle einer Sekretärin, deren Aufgabe unter anderem darin bestand, Svens Korrespondenz nochmal durchzusehen und zu korrigieren.

Eines Tages kam Sven mit einem Hund an. Ein schöner, mittelgroßer schwarzer Straßenmischling mit einem weißen Fleck auf der Brust und weißen Vorderpfoten. Nur leider völlig verängstigt. Mit eingezogenem Schwanz lief er angstvoll im Büro herum und versteckte sich am liebsten unter einem der Schreibtische. Er habe ihn in einer Mülltone gefunden, sagte Sven. Das erklärte vieles. Mutig wie Paco wurde dann lange Zeit zu einem geflügeltem Wort in unserem Büro. Dennoch liebten alle diesen Hund, vielleicht gerade, weil er so ängstlich war. Alle versuchten, sich im freundlich zuzuwenden und ihm zu vermitteln, dass er nichts zu befürchten hätte. Im Verlauf der Wochen und Monate gab es erkennbare Fortschritte. Paco lief nicht mehr ständig mit eingezogenem Schwanz durch die Gegend und versteckte sich auch nicht mehr sofort unter dem Tisch. Dennoch blieb er stets schreckhaft. Aber ab und an unternahm er doch kleine Erkundungen und begann, sich einigermaßen heimisch zu fühlen in der Atmosphäre.

Aber Svens Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Er litt darunter, dass es für ihn im Verein keine berufliche Perspektive gab. Außerdem war er chronisch knapp bei Kasse. Auch fing er an, sich bei Mitarbeitern, deren Personalchef er ja eigentlich war, kleinere Geldbeträge zu leihen, die er aber nur teilweise zurückbezahlen konnte. Das war nicht unbedingt förderlich für seine Autorität im Verein. Das bekamen wir aber erst mit, als es eigentlich schon zu spät war und Sven sich bereits in einige Probleme dieser Art verstrickt hatte. So wurde seine Mitarbeit sporadischer, und bald schon war klar, dass auch der Hund litt unter dieser Situation. Paco war abgemagert bis auf die Knochen und verschlang gierig alles, was er auf der Straße finden konnte – obwohl Sven ihm das eigentlich zu verbieten versuchte.

Faksimile Patenschaftsvertrag für PacoDas war der Beginn der Patenschaft für Paco. Ich glaube, alles fing damit an, dass K. den Hund sehr mochte und ihm Leckerlis mitbrachte und auch Sven das eine oder andere Mal eine Dose Hundefutter mitbrachte. Sven begriff, dass obwohl wir mit ihm den einen oder anderen Konflikt hatten, dies nichts mit unserer grundsätzlichen Sympathie ihm gegenüber zu tun hatte und das wir auch seinen Hund sehr mochten. Paco brauchte irgendwelche Impfungen, und Sven, chronisch knapp bei Kasse, hatte nicht das Geld, diese zu bezahlen. Natürlich auch keine Hundesteuer. Dann musste Sven eines Tages selbst ins Krankenhaus und von einen Tag auf den anderen hatten K und ich einen Hund. Das war schön, aber auch schwierig. Gleich am ersten Tag erschreckte ihn irgendetwas und er suchte das Weite, quer über die Straße und voller Panik. Damit hatten wir nicht gerechnet. Ergebnislos und fast schon ein bisschen verzweifelt suchten wir die gesamte Umgebung ab und kontaktierten schließlich Sven im Krankenhaus. Wir sollten vor seiner Haustür nachsehen oder aber vor dem Büro. Und dort schließlich fanden wir ihn auch.

Das passierte später noch das eine oder andere Mal, dass Paco ohne erkennbaren Grund von Panik ergriffen das Weite suchte. Aber wir fanden ihn doch immer wieder. Meistens vor dem Büro, manchmal auch vor Svens Haustür. Paco, das fanden wir schnell heraus, war völlig unbeschwert immer dann, wenn er in der freien Natur herum toben konnte. Entsprechend oft versuchten wir, mit ihm draußen zu sein. Auch klappte die Kommunikation mit ihm immer besser. Paco lernte, vor uns zu gehen (damit wir ihn im Blick hatten), sich aber nicht zu weit nach vorn zu verirren, weil wir ihn sonst zurückpfiffen. Ohne Leine folgte er viel besser "bei Fuß" als mit Leine. Die Leine mochte er instinktiv nicht und an der Leine fing er immer an zu ziehen und zu zerren, ohne dass ihm das abzugewöhnen wäre. Also ließen wir ihn so oft als möglich ohne Leine vor uns her oder am Fuß laufen.

Hund Paco im Jahr 2001 - Foto: Sven MohrwinkelWir merkten bald, dass er Bewegung mochte. Auf Spaziergängen absolvierte er häufig das Mehrfache unserer Strecke, weil er unermüdlich rechts und links des Weges, nach vorne und wieder zurück alles absuchen und erschnüffeln musste. Wir kamen bald auf die Idee, es mit dem Fahrrad zu versuchen. Mit Leine klappte das halbwegs gut, doch richtig gute Erfolge hatten wir damit, indem wir ihm am Rad frei mitlaufen ließen. An unseren Spurts hatte er eine helle Freude und überhaupt eine sehr gute Kondition. Das war in der Natur, auf Fahrrad- oder Wanderwegen. Aber in der Stadt?

Wir trainierten also: Ich fahre mit dem Fahrrad auf der Straße – Paco läuft nebenher auf dem Bürgersteig. Wir brauchten drei Tage, bis wir das drauf hatten. Zuerst wollte Paco immer auf die Straße kommen. Schnell jedoch begriff er, dass er nebenher auf dem Bürgersteig laufen sollte. An der nächsten Straßenkreuzung trafen wir uns dann. Paco hatte, wie alle gut erzogenen Großstadthunde natürlich von uns gelernt, dass Bordsteinkante Halt bedeutet. So konnten wir ein einigermaßen hohes Tempo erreichen – ich auf der Straße und Paco mit dem Hund. Dann probierten wir die größeren Straßen mit den parkenden Autos zwischen Bordsteinkante und Fahrweg. Zuerst schaute Paco zwischen den parkenden Autos einigermaßen irritiert, wo oder ob ich denn noch da sei, aber durch ermutigende Worte begriff er schnell: Selbst wenn er mich über mehrere parkende Autos hinweg nicht sieht, würde er mich doch an der nächsten Kreuzung wieder antreffen. Und das klappte, selbst wenn es auf dem Bürgersteig mächtig viele Fußgänger gab.

Oft habe ich mich gefragt, was das für Außenstehende für ein Bild abgegeben haben muss, einen Hund zu erleben, der ohne Leine mit einem Irrsinnstempo den Bürgersteig lang donnert, um an der nächsten Kreuzung brav zu warten, um dann bei Ampel-Grün zusammen mit einem Radfahrer die Kreuzung zu überqueren.

Irgendwann wollte Sven nicht mehr, dass Paco bei K. bleibt, und ich hatte auch beruflichen Gründen für den Hund auch nur wenig Zeit. Sven war nur noch gelegentlich im Verein, und ich traf die beiden meistens am S-Bahnhof Schönhauser Allee, wo er Zeitungen verkaufte oder bettelte. Er vergaß auch nie, mich um Geld zu fragen. Und Paco erkannte mich immer, mit einer Zeitverzögerung von 5 Sekunden und freute sich schwanzwedelnd und an mir hochspringend. Wenn ich daran dachte, erinnerte ich Sven, dass er jederzeit den Hund zu mir bringen könne, wenn was sei.

Jedoch mit der Zeit verließ auch ich den Verein und die Kontakte zu Sven wurden noch sporadischer, bis sie eines Tages ganz abrissen. Dann hörte ich nur noch gerüchteweise, dass Sven irgendwo gesichtet worden sei oder aber eben nicht.

Das mit Sven war sowieso so eine Sache. Manchmal sah er einfach erbärmlich aus und ich persönlich rechnete nicht damit, dass er Weihnachten noch erleben würde. Und doch erholte er sich immer und immer wieder und ab irgend einen Zeitpunkt hörte ich auf zu glaube, dass Sven überhaupt eines Tages sterben könne. Aber eines Tages, ich meine im Jahr 2009 -  war es dann doch so weit und es ärgerte mich sehr, dass ich noch nicht einmal an seiner Beerdigung teilnehmen konnte. Bis heute weiß ich auch nicht, wo Sven begraben ist und ob er überhaupt ein Grab hat. Ich hörte, das S. sich nun um Paco kümmern würde und meldete mich bei ihr und sprach auch über die Patenschaft, die natürlich auch jetzt noch bestehen würde. Wir hatten beide viel zu tun und wollten in Kontakt bleiben, aber daraus ist nichts geworden, bisher. Von Bekannten hörte ich neulich, dass Paco gesichtet worden sei und dass es ihm offensichtlich gut geht.

Jetzt, beim Aufräumen meiner Wohnung im Sommer 2011 finde ich die alten Bilder aus dem Jahr 2001 und auch den Patenschaftsvertrag, den wir damals geschlossen hatten. Paco ist mit inzwischen dreizehn oder vierzehn Jahren ein alter Hund, Sven ist tot, und ich erzähle die Geschichte hier im Internet. Gemessen daran, dass Sven diesen Hund damals völlig verängstigt in einer Mülltonne gefunden hat, dürfte er doch ein halbwegs gutes Hundeleben geführt haben und auch heute bei S. Sollte es im gut gehen.

Geschrieben zwischen Warszawa und Poznan am 22.09.2011

Stefan Schneider

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