Daß man mir die Aufgabe gestellt hat, Fotodokumentationen über die Problematiken der Obdachlosen zu erstellen, hat wohl den Grund, daß ich schon früher, auch während meiner Obdachlosigkeit und Sauferei, viel fotografiert habe und auch mit einer einfachen Pocketkamera einige gute Aufnahmen gemacht habe. (...) Die Obdachlosen haben zu mir Vertrauen, sie wissen, daß ich keine Sensationsbilder für die Presse mache und auch kein Bulle Fotos von mir zu sehen bekommt.
Karin Powser 1989
[Aufbruch] Mit der friedlichen Revolution im Jahr 1989, dem Fall der Mauer und der deutschen Einheit ändern sich auch Bild und Struktur der Wohnungslosigkeit. Berlin ist Anfang der 1990er Jahre Hauptstadt der Obdachlosen - so eine Nachrichtenzeile aus diesen Jahren. Die Zahl der wohnungslosen Menschen schießt rapide in die Höhe, eine bisher kaum geahnte große Spannbreite von Problemlagen in der Wohnungslosigkeit wird sichtbar: Wendeverlierer, Straßenjugendliche, Suchterkrankte und psychisch kranke Menschen, Frauen mit Gewalterfahrungen, Migranten und Menschen aus ländlichen Regionen, die ihr Glück in der Anonymität der Großstadt suchen, Entlassene aus abgewickelten DDR-Kombinaten, Punks, Aussteiger aus Drückerkolonnen und viele andere. Im Zuge der öffentlichen Verhandlung des Problems gibt es in jenen Tagen immer wieder Kundgebungen, Kampagnen, Hausbesetzungen, Straßentheater, lange Nächte der Wohnungslosen und weitere Solidaritätsaktionen dieser Art. Neue Initiativen wie Theatergruppen, Straßenzeitungen, Tafeln, Selbsthilfegruppen, Arztmobile usw. entstehen und eine Kältehilfe mit Notübernachtungen und Nachtcafés wird eingerichtet. Diese sind jedoch nur als Provisorium gedacht. Gleichzeitig eignet sich das Thema Wohnungslosigkeit bestens dazu, Kritik an Deutschland zu üben und an diesem Weg der Einheit in Form eines Beitritts zur Bundesrepublik. Sollte es nicht allen Menschen besser gehen?
[Vermittlung] Im Zeitraum von 1990 bis 1993 habe ich das Glück, an einem Forschungsprojekt zu Biografie, Lebenslage und Perspektiven wohnungsloser Menschen in Berlin arbeiten zu dürfen. Kern der Untersuchung ist eine intensive Feldforschung auf Berlins Straßen. In der Hauptsache führe ich biografisch orientierte Gespräche mit 15 ganz unterschiedlichen Wohnungslosen, die ich im Verlauf dieser Forschung kennen lernen darf. Dennoch habe ich den Eindruck, dass dies nicht genügen wird, um Außenstehenden einen plastischen Eindruck meiner Erfahrungen zu vermitteln. Die meisten Menschen, mit denen ich über Wohnungslosigkeit spreche und die nicht gerade in der Wohnungslosenhilfe tätig sind, kennen persönlich niemanden, der von der Problematik betroffen ist. Sie bilden sich ihre Meinung durch die Medien oder machen sich so ihre eigenen Gedanken. Eine weitere sinnliche Ebene, so mein Eindruck, kann hilfreich sein, um begreiflich zu machen, was ich erlebe. Fotos können ein geeignetes Mittel sein und wären auch gut in eine schriftliche Arbeit zu integrieren. Aber ich fühle mich nicht in der Lage, selbst zu fotografieren und so kommt mir die Idee, Karin Powser anzufragen.
[Zugang] Von Karin Powser weiß ich aufgrund des Buches Das trostlose Leben der Karin P., das im Jahr 1986 erschienen ist. Wenig später gab Hannes Kiebel die ersten Hefte mit ihren Fotoarbeiten und kurzen Texten dazu heraus. Persönlich lerne ich Karin kennen auf dem von Willy Drucker organisierten Kongress der Kunden, Berber, Obdach- und Besitzlosen vom 19. - 22. Juni 1991 in Uelzen. Eines Tages, im Mai 1992, rufe ich sie in Hannover im Mecki an. Der Kontaktladen Mecki ist eine Anlaufstelle für Wohnungslose in der unterirdischen Fußgängerzone Passerelle unter dem Hauptbahnhof in Hannover, geöffnet für jeweils zwei Stunden. Karin besitzt wie die Sozialarbeiter einen Schlüssel und öffnet den Laden oft genug schon vor den offiziellen Öffnungszeiten auf eigene Verantwortung - Gäste und Besucher finden sich fast immer. Ich erzähle ihr von meiner Projektarbeit und dass ich sie nach Berlin einladen wolle, um für mich Fotos zu machen. Karin erklärt sich spontan dazu bereit, obwohl ich ihr, abgesehen von der Erstattung ihrer Kosten aus meinen Projektmitteln, nur ein eher symbolisch zu nennendes Honorar zahlen kann.
[Bekanntschaft] Meine Sorge, was da wohl alles auf mich zukommen würde, wenn eine ehemalige Pennerin in meiner Wohnung wohnen würde, lösen sich bald in Wohlgefallen auf. Ihr Besuch in Berlin war für mich eine großartige Zeit und der Beginn einer wichtigen Bekanntschaft. Die Erarbeitung der Fotos ist nicht einfach bloßes Abfotografieren, sondern gleichsam eine neue Untersuchung, ein eigenes Projekt. Ausgehend von gemeinsamen Bekannten vom Kongress in Uelzen, die wir besuchen, fahren wir in den folgenden Tagen kreuz und quer in der Stadt umher, besuchen Einrichtungen, Projekte und Angebote für Wohnungslose, gehen Straßen und Plätze auf und ab auf der Suche nach GesprächspartnerInnen, treffen liebe alte Bekannte wieder, lernen neue und liebenswerte Menschen kennen. Wir reden, sprechen, fragen, diskutieren, bis uns der Mund trocken wird, wir verweilen, trinken Kaffee und rauchen die eine oder andere Zigarette, und Karin fotografiert zudem noch unermüdlich. Zwischendurch holen wir im Fotoladen die ersten Kontaktabzüge ihrer Filme vom Tag zuvor ab, die wir dann sofort im Café oder abends zu Hause mit Lupe in Augenschein nehmen, um abschätzen zu können, wie die Fotos geworden sind. Die Fotos, die für eine Veröffentlichung im Frage kommen, suchen wir später in Hannover gemeinsam aus. Nahezu 200 Fotos sind verwendbar, und daraus eine übersichtliche Auswahl für meine Dissertation zu treffen, ist keine leichte Aufgabe. Karin lässt mir dabei weitgehend freie Hand.
[Abbild] Zur Erläuterung schreibe ich: „Nicht alle auf den Fotos abgebildeten Personen sind wohnungslos, sie könnten es sein. Die Zuordnung der Fotos zum Text folgt systematischen Kriterien, die Fotos dienen der Erläuterung des Gesagten, sie sind gemeint als Zitat und nicht als Illustration, die darauf abgebildeten Personen sind nahezu durchgängig nicht identisch mit den Personen, die in meinen Falldarstellungen in dieser Arbeit zu Wort kommen. Alle Fotos in dieser Arbeit wurden von Karin Powser während ihres Besuchs in Berlin in der Zeit vom 6. - 16. Juli 1992 erstellt. Ein kleiner Teil dieser Fotos wurde bereits in ihrem Fotoheft „obdachlos - keine Gnade auf der Straße“ (Powser 1993) abgedruckt. Mit der Fertigstellung der Arbeit dauert es seine Zeit. Es ist unter anderem Karin, die immer wieder nachfragt und drängelt, wann ich denn soweit sei mit meiner Arbeit. Ich muss sie immer wieder vertrösten. Im Jahr 1998 ist die Arbeit dann endlich fertig und wird im Internet unter dem Titel Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung. Biografien, Lebenslagen und Perspektiven Wohnungsloser in Berlin. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Mit Fotos von Karin Powser veröffentlicht.
[Zeit] 2014. Ich hatte längere Zeit nichts mehr von Karin gehört und will mich vergewissern. Ihr letzter Besuch in Berlin, so erinnere ich mich, war 2004. Ja, trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit würde sie gerne mal wieder nach Berlin kommen. Stück für Stück entwickelt sich die Idee, dass sie bei dieser Gelegenheit auch wieder Fotos machen könnte. Langsam wird mir klar, welch langer Zeitraum seit ihrem ersten Fotobesuch 1992 vergangen ist und was eine erneute Recherche bedeuten würde.
Ich habe eine Idee: Jetzt noch einmal Fotos zu machen, nicht irgendwelche Fotos, sondern Aufnahmen an den gleichen Schauplätzen von der selben Fotografin in einem Abstand von 23 Jahren - das wäre schon etwas ganz Besonderes. Ich skizziere ein kurzes Konzept, Sponsoren können gewonnen werden, wir treffen uns in Hannover, um letzte Details miteinander zu besprechen. Termine werden festgelegt,
[Tragik] Karin Powser ist seit fast zwei Jahrzehnten freie Mitarbeiterin Kolumnisten und Fotografin bei der hannoverschen Straßenzeitung Asphalt, kann auf die eine oder andere Ausstellung zurückblicken und hat auch eine internationale Auszeichnung erhalten. Ich war bis 2007 geschäftsführender Vorsitzender bei dem von mir mitgegründeten Selbsthilfeverein mob – obdachlose machen mobil e.V. und kümmerte mich neben der vom Verein herausgegebenen Straßenzeitung strassenfeger um die Vereinsprojekte Notübernachtung, Tagestreffpunkt Kaffee Bankrott, Selbsthilfehaus und Gebrauchtwarenkaufhaus. Neben diesen beruflichen Erfolgen aber steht im Jahr 2014 die demütigende Tatsache, dass es um die Wohnungslosen insgesamt schlecht bestellt ist. Seit Mitte der 90er Jahre war es zwar gelungen, die Zahl der Wohnungslosen Jahr für Jahr um ein kleines Stück zu verringern, was nicht zuletzt auch ein Resultat der vielen Initiativen war, die in der Zeit entstanden sind und der damit verbundenen Aufmerksamkeit für die Problematik. Das änderte sich in Berlin nach dem Jahr 2006 und auch im Bundesgebiet steigt die Zahl der Wohnungslosen ab etwa 2008 kontinuierlich an, Prognosen zufolge ist ein Ende noch nicht in Sicht. Auch die Haltung gegenüber Wohnungslosen ändert sich. Immer mehr Menschen folgen dem neoliberalen Mantra, dass Wohnungslose selbst für ihre Situation verantwortlich sind, gesellschaftliche Ursachen werden häufiger ausgeblendet und die Auffassung, dass Wohnungslose in den Innenstädten nichts zu suchen haben, findet immer mehr Anhänger.
[Beobachtung] Karin kommt im April 2015 nach Berlin und bleibt fünf Tage. Wir haben ein anspruchsvolles Programm, wollen die Einrichtungen und Orte von 1992 wieder aufsuchen, aber auch offen sein für neue Realitäten. Der Seelingtreff, ein Tagestreffpunkt in Charlottenburg, ist noch am selben Ort wie damals, aber fotografieren dürfen wir nicht: Müssen wir erst im Team besprechen. - war die Antwort der Mitarbeitenden. Der Warme Otto in Moabit, ebenfalls ein Tagestreffpunkt, ist umgezogen, dreimal größer als damals und bis auf den letzten Platz besetzt. Der Kleine Tiergarten ist voll mit Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist. Die Stimmung wirkt gereizt, Karin hat keinen Nerv zu fotografieren. Sie will die Stimmung nicht weiter anheizen.
Suppenstuben, wie die der Franziskaner in der Wollankstraße, gab es damals noch nicht. Hier stehen täglich mehrere hundert Leute für eine Mittagsmahlzeit an. In der Zentralen Beratungsstelle in der Franklinstraße treffen wir auf eine Sinti-Familie mit kleinen Kindern, aber auch schon 1992 sind wir vereinzelt Zigeunern, so der damalige Sprachgebrauch, begegnet. Die selbsthilfeorientierte Einrichtung Unter Druck – Kultur von der Straße ist mehrfach umgezogen, konnte aber ihren offenen Charakter bewahren und wir fühlen uns dort ausnahmsweise mal wirklich willkommen. Der Plattengruppe Köpenick, im Ursprung ein besetztes Haus, jetzt eine Einrichtung des betreuten Gruppenwohnens, ist durch die Streichung der Mittel für ihr Arbeitsprojekt einiges an Identität abhanden gekommen. Dass auf dem Gelände einer Wagenburg obdachlose Menschen eine langfristige Unterkunft fanden, wussten wir, dass über die Jahre dahinter im Niemandsland zu den Gleisen hin eine Art Slum entstanden ist, der mit einem einzigen Wasserhahn auskommen muss, hat uns ziemlich irritiert.
Auch im Tiergarten hinter dem Bahnhof Zoo ist eine kleines Zeltdorf entstanden. Menschen wohnen teilweise seit Jahren hier. Einen Akteur, den wir seit 1992 kennen, treffen wir während einer Textprobe zu einem Theaterstück persönlich wieder: Heinz Kreitzen, damals bei Unter Druck, inzwischen Symbolfigur bei der Obdachlosentheatergruppe Ratten 07. Die Freude ist groß auf allen Seiten. Auf Einzelpersonen mit ihren Tüten und Gepäckstücken treffen wir damals wie heute, damals wie heute wollen sie nichts von uns wissen. Die Berliner Tafel, die es 1992 ebenfalls noch nicht gab, bewegt mehrere Tonnen Lebensmittel jeden Tag, meterweise Brot, Obst, Gemüse stapeln sich in den Gängen der Lagerhalle des Großmarktes .
Straßenzeitungsverkäufer hetzen oder schleichen in U- und S-Bahnen von Waggon zu Waggon, die meisten sind genervt, wenn sie in Gespräche verwickelt werden. Dies und vieles mehr gäbe es zu erzählen von unseren täglichen Ausflügen. Erschöpft kehren wir jeden Abend heim und sichten am Laptop die gemachten Aufnahmen.
[Frust] Es drängt sich auf, Vergleiche zu ziehen zwischen 1992 und 2015. Drei Aspekte fallen ins Auge: Erstens: Es sind deutlich mehr Menschen, die wir als wohnungslos oder arm wahrnehmen. Die Anzahl dieser Menschen auf öffentlichen Straßen und Plätzen hat deutlich zugenommen. Die Einrichtungen haben sich vergrößert und sind allesamt gut gefüllt. Vor allem fallen uns die Slums an einigen besonderen Orten in der Stadt auf. Darüber hinaus entdecken wir überall Spuren und Hinweise, die uns sagen, dass hier offensichtlich Menschen auf der Straße übernachten. Uns fehlte die Kraft, dem im Einzelnen immer nachzugehen. Aber nicht alles ist neu, das zeigt der Vergleich des Fotomaterials 1992 und 2015: Kinder fotografierte Karin schon damals, ebenso kranke und alte Wohnungslose, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Zweitens: Wo uns 1992 noch mit Neugier und Interesse begegnet wurde, herrscht inzwischen überwiegend Misstrauen und Ablehnung. Das kann nicht nur an uns liegen. Während die Kamera 1992 noch ein persönliches, exklusives Arbeitsmittel darstellte – Wir interessieren uns für Dich! - und wir argumentieren konnten, dass wir mit einzigartigen Fotos etwas über das Thema erzählen wollten, ist im digitalen Jahrhundert die Kamera ein unkontrolliertes, unkontrollierbares Denuntiationswerkzeug geworden: Deine missliche Lage machen wir mit dem im Internet geposteten Foto für alle Welt und für alle Zeiten sichtbar. Ein Fluch, der dich tausendfach verfolgen wird, denn das Internet vergisst nicht!, so die Wahrnehmung vieler Wohnungsloser. Schon die Möglichkeit einer Aufnahme wird zum Dämon, die Kamera zum Problem.
Drittens: wir spüren oftmals eine angespannte, aggressive Stimmung. Sie ist sofort da, wenn wir uns mit Fotoapparat nähern, die aber auch ganz unabhängig von uns den Raum füllt. Es ist nicht leicht, den Ursachen dafür auf die Spur zu kommen. Aussicht auf eine Wohnung? Aussicht auf einen Job? Aussicht auf eine Therapie? Experten, die wie wir seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet arbeiten, bestätigen uns, dass die Gesellschaft insgesamt weniger durchlässig, weniger offen, weniger empathisch, weniger solidarisch geworden ist. Wer seine Armut öffentlich thematisiert oder sogar zur Schau stellen muss, kann immer weniger auf Verständnis hoffen, sondern muss mit Ablehnung, Beschimpfung oder Vertreibung rechnen. Die Straße ist für immer mehr Menschen die Endstation und als einziger Ausweg erscheint die Flucht in die Droge, in den Wahn. Was bleibt, ist Frust. Und den spüren wir in all seinen Facetten.
[Gestaltung] Karin ist in Berlin, es entstehen neue und, wie ich finde, teils spektakuläre Fotos, aber ich habe noch keine Idee, wie das Ganze präsentiert werden kann. Die Fotos einzurahmen und aufzuhängen, wäre langweilig und erwartbar. Die Fotos aus dem Jahr 1992 sind in schwarzweiß erstellt, die aus dem Jahr 2015 farbig. Können wir damit arbeiten? Schon in meiner Zeit beim strassenfeger habe ich auf große Fotos gesetzt, weil Fotos mehr leisten können als nur einen Text zu illustrieren. Ein Foto ist eine Aussage. Schon beim Sichten der Fotos am Computer arbeiten wir mit dem Zoom. Was passiert, wenn wir uns auf Ausschnitte konzentrieren? Wie verändert sich die Wirkung durch Vergrößerung? Wäre es ein Weg, die Fotos möglichst groß zu machen?
Wir treffen uns mit Ryn Shaparenko, einem Grafiker und Künstler, der jahrelang den strassenfeger gestaltet hat. Moderne digitale Drucktechniken erlauben heutzutage großflächige Formate und die kosten gar nicht mal viel Geld. Nach einigem hin und her kommen wir auf die Idee, dass wir großformatige Folien an Bauzäunen befestigen könnten. Diese sind einfach zu beschaffen und symbolisieren ebenso ein Draußen, etwas Vorläufiges, Prekäres. Mit Bauzäunen wäre die Ausstellung auch draußen zeigbar. Es sollte aber nicht nur ein Zaun sein. Auf dem Papier entstehen Skizzen, und plötzlich steht ein Konzept für eine Installation aus fünf Bauzaunelementen. Später baut Ryn ein Modell und aus der Idee wird eine Gewissheit: So können wir die Aussagen der Fotos anspruchsvoll transportieren und dem Thema angemessen strukturieren. Außenansichten, die schnell erfassbar sind und die Öffentlichkeit des Straßenlebens in seiner ganzen Verletzlichkeit zeigen und zugleich umrissene provisorische Raumstrukturen, die ein vorläufiges, fragiles Innen andeuten: Die nur halbwegs geschützte Platte, der aufgesuchte unsichere Notschlafplatz, die für wenige Stunden geöffnete Suppenküche. Die schwierigen Lebensumstände werden in ihrer ganzen Komplexität erfassbar.
[Sprache] Parallel dazu erfolgt die Sichtung und Sortierung der Fotos in unterschiedlichen Konstellationen mit mehreren Beteiligten. Welche Fotos sind herausragend und sollten unbedingt gezeigt werden, weil sie einen wichtigen Sachverhalt repräsentieren? Welche Fotos gehören inhaltlich zusammen? Welche Themen sind abzubilden? Wo genau werden die einzelnen Fotos positioniert? Es sind einzelne Fotos, die herausragend sind. Andere gruppieren sich dazu weil sie weitere Umstände offenlegen oder neue erschließen. Ryn erhält von mir mehrere kleine Stapel vorsortierter Fotos, vielleicht ein Fünftel aller entstandenen Bilder. Es ist noch immer viel zu viele. Bestenfalls die Hälfte wird er verwenden. Ich vertraue seinem Urteilsvermögen. Ab jetzt entscheidet er. Schon wenige Tage später legt er die Entwürfe vor, es sind nur wenige kleine Korrekturen erforderlich. Schon vorher hatten wir eine Ahnung, die nun zur Gewissheit wird: Auf lange, erklärende Texte können wir verzichten. Die Fotos sprechen für sich. Nur in ganz wenigen Fällen sind knappe Erläuterungen erforderlich.
[Geschäft] Gibt es Gnade auf der Straße? Die gab es wohl nie. Gerade weil das Leben auf der Straße so unbarmherzig ist, haben Menschen schon immer Behausungen gebraucht und gebaut. Aber selbst diese können letztlich kein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Leben auf der Straße ist immer gefährdet. Innergesellschaftlich verhandelt wird immer wieder neu die Frage, wie damit umgegangen werden soll. Wir errichten Zäune und Mauern, schließen die Türen ab, dass die, die drin sind, geschützt werden und die, die draußen leben, auch dort bleiben. Das ist der gegenwärtig vorherrschende Trend. Oder sind wir solidarisch und teilen das, was wir haben? Dann müssen wir lernen, unsere Türen wieder zu öffnen und die Menschen, die bisher draußen waren, einzuladen, herein zu kommen.
Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 stieg die Zahl der Wohnungslosen in den darauf folgenden Jahren enorm an. Das war aber auch eine Zeit, die viele innovative Ansätze und Hilfeangebote hervorgebracht hat. Und wie ist es heute? Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Zerstörung und Terror kommen nach Europa, und es werden Zäune und Mauern errichtet, mit Schießbefehl und Zwangsdeportation gedroht. Wohnraum wird nach wie vor als Ware gehandelt und ist unzugänglicher als jemals zuvor. Selbst der Bau und der Betrieb von provisorischen Containersiedlungen für Flüchtlinge wird zum profitablen Geschäft. Das war und ist in der Wohnungslosenhilfe nicht grundsätzlich anders. Angesichts dieser Beispiele stellt sich die Frage, ob Solidarität und Nächstenliebe nur noch zu Marketingzwecken taugen.
[Teilen] Gibt es Hoffnung? In den großen Städten der globalisierten Welt lebt eine kleine kaum wahrnehmbare Minderheit, die sich nicht mehr einschließen will, die nicht mehr denkt my home is my castle. Räume und Wohnungen werden nicht mehr nur besessen und bewohnt, sondern zunehmend auch geteilt, getauscht, verliehen, nomadisch genutzt. Die Wohnung wird zum Transitraum. Sind das die Vorboten einer neuen gesellschaftlichen Transparenz, die letztlich auch wohnungslosen Menschen neue Räume eröffnen wird? Oder ist das fluide Wohnen nur eine reflexartige Adaption, eine optimierte Anpassung an alternativlose globale Ausbeutungssachzwänge? Hat die Erfahrung, dass wir alle mehr haben, wenn wir teilen, noch eine Chance?
[Gnade] Die Ausstellung von Karin Powser zeigt die Menschen an sich, ihre Lebensbedürfnisse, Schlafplätze, die Straße als ihren Lebensort, dazu einige Hilfeeinrichtungen. Hilft die Hilfe? Eröffnet sie neue Wege? Karins Fotos folgen eben nicht der stereotypen und nahezu immer asymetrischen Bildbotschaft zum Thema Obdachlosigkeit: Links eine beliebige Helferin mit der Suppenkelle, rechts in dankbarer, demütiger Pose, den Teller haltend, ein beliebiger abgerutschter Wohnungsloser. Karins Ausstellung hingegen transportiert eine Ahnung davon, was es heißt, auf der Straße überleben zu müssen. Nein, es gibt keine Gnade auf der Straße. Nur die eigene, den gegenwärtigen Standards entsprechende, rechtlich gesicherte Wohnung kann Abhilfe schaffen.
Berlin, 12.04.2016
Stefan Schneider
www.drstefanschneider.de
[Technische Hinweise zur Ausstellung]
Für die Ausstellung wird mindestens eine Fläche von etwa 8 x 8 Metern benötigt. Eine bessere Wirkung wird erzielt, wenn mehr Fläche zur Verfügung steht. Sie kann auch im Außenbereich gezeigt werden, hier sind ggf. entsprechende Genehmigungen einzuholen.
Die Ausstellung besteht aus 10 querformatigen Bauzaunplanen in den Maßen 340 x 175 cm, die an den Rändern mit Ösen versehen sind. Die Bauzaunplanen sind abrollbar und können beispielsweise in einem PKW transportiert werden. Benötigt werden weiterhin 5 Bauzaunelemente mit den Maßen 375 x 200 cm sowie 7 Bauzaunfüße sowie etwa 200 Kabelbinder. Die standardisierten Bauzaunelemente sowie die Bauzaunfüße sollten vor Ort bei entsprechenden Bauunternehmen ausleihbar sein, können aber auch von den Ausstellungsmachern organisiert und zusammen mit der Ausstellung angeliefert werden. Zunächst sind die Bauzaunelemente mit Hilfe der Bauzaunfüße entsprechend der Skizze aufzubauen. Dort, wo zwei Bauzäune aufeinander stoßen, sollten diese mit mehreren Kabelbindern verbunden werden. Im zweiten Schritt werden dann die Bauzaunplanen mit Hilfe der Kabelbinder an den Bauzaunelementen an Vorder- und Rückseite befestigt.
Die Ausstellung wird um eine Installation ergänzt, die einen Schlafplatz darstellt. Dazu gehören eine Decke, ein Schlafsack, ein Sweatshirt, ein paar Schuhe, Zeitschriften, ein Pappbecher sowie eine faltbare Sackkarre und ein Rucksack. Zunächst werden die 4 Euro-Paletten, jeweils zwei übereinander, längsseitig angeordnet, so dass eine Fläche von 1 x 2 Metern entsteht. Decke und Schlafsack werden auf dieser Fläche ausgebreitet, die übrigen Gegenstände der Installtion dazu passend drappiert, damit der Eindruck entsteht, hier hätte gerade ein Mensch übernachtet.
Der Aufbau der Ausstellung kann von 2 Personen bewältigt werden. Es sind etwa 4 Stunden Zeit dafür einzuplanen. Insofern einzelne Bauzaunplanen z.B. durch Vandalismus beschädigt werden, können sie jederzeit neu gedruckt werden. Die Gebrauchsgegenstände der Schlafplatzinstallation können ersetzt werden. Es ist ratsam, die Ausstellung zu versichern. Der Neudruck aller Planen würde 700-800 Euro kosten.
Es bietet sich an, um die Ausstellung herum ein Begleitprogramm zu organisieren. Dieses könnte bestehen z.B. aus einer Diskussionsveranstaltung mit Wohnungslosen und anderen Experten, aus Fachvorträgen oder Filmen bzw. Dokumentationen. Die Ausstellungsmacher sind gerne bereit, das Begleitprogramm zu kuratieren oder zu beraten.