Auf dem Weg zu ALDI komme ich immer an meinem Dealer vorbei. Wenn er was für mich hat, neuen Stoff, Lesestoff, winkt er immer. Gut erzogen der Mann. So auch neulich. "Ich hab' was für Dich," sagt er, "Heinz, ich glaube Heinz heißt der Mann. Ein neues Buch über Obdachlose. Ist gerade erschienen." Wir gehen an den Computer, ich sage: "Heins, gib mal Heins ein", weil mir böses schwant. Heins, das war doch der mit dem versauten Frühstück. Die Grafik baut sich auf, und da steht es: Rüdiger Heins, Von Berbern und Stadtratten, Lamuv Verlag, 160 Seiten, 16,80 DM. Interessanter Titel, wenn es nur nicht Heins wäre. "Bestellen?" Ich nicke bloß. "Morgen mittag," sagt mein Dealer, "morgen mittag ist es da!" Wie immer. So einen nachdenklichen ALDI-Einkauf hatte ich schon lange nicht mehr. Interesanter Titel, wenn es nur nicht Heins wäre.  

Rückblende: Es war ein sonniger Samstagmorgen im Jahr 1993, zwei Toast waren gerade aus der Maschine gesprungen, die ich nun lustvoll mit Honig bestrich. Butter und Honig bestrich, als justamente das Telefon klingelte. Er sei Rüdiger Heins und das könne ich nun wirklich nicht machen, klang es jammernd aus der Leitung. Schließlich gehe es doch um die Sache und da müsse etwas mehr Solidarität angebracht sein untereinander. Eine glatte Viertelstunde hatte er mich genervt. Danach war ich restlos bedient, der Tag war gelaufen: DIe Butter auf dem Toast hatte sich verflüsigt und ob der schiefen Lage auf dem Teller mitsamt dem Honig zur Tellermitte in Bewegung gesetzt. Ich hatte also ein nur am Rande butterfeuchtes Toast und ein verlaufenes gelb-gelb verschliertes Butter-Honig Gemisch auf dem Teller und außerdem war der Kaffee kalt. Und alles nur wegen ein paar Sätzen über seinen Obdachlosenreport:  

"... ein oberflächliches, eher lieblos und lose zusammengestelltes Sammelsurium journalistischer Skizzen vor zwischen telegrammartigen Biographie- oder Situationsklischees, abgebrochenen Problemanrissen, Aktionsberichten, collagierten Expertenabsonderungen und ein bichen Selbstversuch mit schlechtem Abge#sang - als hŠtte ich einen Abend lang durch alle TV-Programme gezappt und von allem ein bißchen und nie etwas ganzes mitgenommen. Nahezu alles, was ich in diesem Buch nachlesen kann, habe ich an anderen Stellen schon besser recherchiert, ausführlicher dargestellt, spannender vorgeführt bekommen. Wer aufmerksam die Presse verfolgt, wird wenig neues entdecken, wer drei, vier gute Publikationen zum Thema bereits gelesen hat, wird gelangweilt sein, und an Einstiegsliteratur gibt es besseres. Die wenigen brauchbaren Hinweise zu erwähnen würde mich zwingen, auch die längere Liste der inhaltlichen Ungereimtheiten aufzuführen. Ein überflüssiges Buch, das seinem anspruchvollen Titel nicht gerecht wird. Schade eigentlich, denn sein vorangegangenes (Verbannt auf den Asphalt - Begegnungen mit Pennern. Mainz 1989) war gar nicht mal schlecht: Spannende, und doch noch glaubwürdige Charaktere, gut komponierte Handlungs- und Situationsstränge. Vor allem die interessante Figur des Sozialarbeiters Bensdorf - weitaus packender als die faden 3 Seiten aus dem Kapitel "Die Sozialarbeiter - Tabuthema Nr. 1".

Der Autor ist mit seinem Projekt "Obdachlosenreport" offensichtlich überfordert, was insofern verwundert, da Heins mit Günther Wallraff einen renommierten Autor, der selbst in früheren Jahren zum Thema recherchierte (Asyl ohne Rückfahrkarte. In: Wallraff, Günther: 13 unerwünschte Reportagen. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 15 - 21.) in seinen einleitenden "credits" als Berater aufführt. Die Vermutung liegt nahe, da§ es sich hierbei um einen der vielen mit heißer Nadel gestrickten Versuche von Verlagen handelt, mit der Konjunkur eines Themas eine schnelle Mark zu machen. Finger weg! Der Rezensent empfiehlt, mit dem Geld besser sinnvolle Projekte zu unterstützen, oder es bei entsprechenden Nachfragern ("Haste mal 'ne Mark?) anzulegen, der Lernwert darin enthaltener Gesprächsmšglichkeiten ist ungleich größer."  

Wahrscheinlich hätte mich damals eine solche Rezension auch tierisch aufgeregt. Heute würde ich sagen: Lieber ein guter Verriß als gar keine Werbung. Ist das Buch denn wirklich so schlecht?

Wie dem auch sei, Heins'ens neues Werk lag dann einige Wochen irgendwo auf der Schreibtischhalde. Bücherschicksal. Den Text auf der Rückseite angelesen: "Sie sitzen 'Bomben' (Zwei-Liter-Weinflaschen) saufend in den Städten herum, 'machen Sitzung' (betteln in der Fußgängerzone): Penner, Tippelbrüder, Obdachlose - sie selbst nennen sich Berber oder auch Stadtratten. Und es gibt immer mehr 'junge Bettenbauer' (Neue auf der Straße). ..." Heins, Heins, Heins: Das hatten wir alles schon. Die üblichen Klieschees, die üblichen Fehler: Stadtratten, das sind immer die anderen. Ich war bedient schon nach dem ersten Satz und legte erstmal das Buch beiseite. Hätte ich doch bloß gleich weitergelesen.  

Wochen später, der Griff zum Buch. Mensch, das kennst Du doch. Bensdorf, dieser Sozialarbeiter, die Liste der Kältetoten aus dem Winter 1993/94, die auch schon Christian Linde unter eigenem Namen und zeitlich aktualisiert veröffentlichte, diesmal ohne Jahreszahlen. Tote können sich eben nicht wehren. Und das Lexikon der Berbersprache. Schlagartig wird klar: "Von Berbern und Stadtratten" ist Satz für Satz nichts anderes als die Neuauflage von "Verbannt auf den Asphalt - Begegnungen mit Pennern." An vier, fünf Stellen wurden Formulierungen geändert, 12 Fotos sind hinzugekommen, die Überschriften wurden geändert. Die Neuerscheinung ist in Wirklichkeit der alte Schinken, eine fast 10 Jahre alte Kamelle. Die Obdachlosen von heute sind ganz andere als die dort beschriebenen. Viele sind gestorben, neue hinzugekommen. Vor allem jüngere. Aber auch darüber hat Heins ein Buch geschrieben: "Zu Hause auf der Straße. Verlorene Kinder in Deutschland." Auch die klassische Nichtseßhaftenhilfe gibt es in dieser Form nicht mehr. Tafeln, Nachtcafes, Straßenzeitungen, Kulturgruppen, Betroffeneninitiativen, Selbsthilfevereine usw. Aber egal, Hauptsache die alten Klischees werden bedient.  

"Der Autor hat als Sozialarbeiter zwei Jahre lang in einer Einrichtung für Nichtseßhafte gearbeitet. Auf eine sehr einfühlsame und eindrückliche Art schildert er die Lebensgeschichten einzelner Menschen auf der Straße." (Klappentext). Das Leben auf der Straße bleibt einem Sozialarbeiter eben nicht in den Knochen, sondern nur in den Kleidern hängen. Und noch bequemer als Sozialarbeit ist das Schreiben von Büchern. Und warum nicht nochmal den alten Kaffee aufbrühen. "Bensdorf fühlt sich als Verwalter von weggeworfenen Menschen. Dafür werden nur die Besten genommen. Es müssen schon Profis im Kampf gegen dieses unkontrollierbare Menschenmaterial eingesetzt werden; denn wer wäre sonst in der Lage, diese Menschen im Zaum zu halten?" (S. 154). Rüdiger Heins, der Raubtierdompteur der obdachlosen des Obdachlosenreports.  

Stefan Schneider  

Heins, Rüdiger: Obdachlosenreport. Warum immer mehr Menschen ins soziale Elend abrutschen. Düsseldorf: Zebulon Verlag 1993. Heins, Rüdiger: Verbannt auf den Asphalt - Begegnungen mit Pennern. Mainz: Matthias Grünwald Verlag 1989.

Heins, Rüdiger: Zu Hause auf der Stra§e. Verlorene Kinder in Deutschland. Göttingen: Lamuv Verlag 1996

Hein, Rüdiger: Von Berbern und Stadtratten. Mit Fotos von Gerlinde Heep. Göttingen: Lamuv Verlag 1998

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