[Vorbemerkung] Ich bin dem Regisseur des Filmes, Stephan Hartwig, noch eine Rezension schuldig. Damals, im Jahr 2005 kam er an und fragte, ob wir seinen Film in der Straßenzeitung strassenfeger besprechen könnten. Natürlich könnten wir, aber ich fragte mich, was denn ein Film zu Pomp und Adel in einem gepflegten Obdachlosenmagazin zu suchen hätte? Nein, der Titel, so erfuhren wir, beziehe sich nicht auf das bayerische Adelsgeschlecht, sondern auf die Wittelsbacher­brücke in München, einem bekannten oder besser berüchtigten Aufenthaltsort für Wohnungslose, die buchstäblich unter einer Isarbrücke dieses Namens wohnen oder sagen wir besser hausen. Ein Film über Wohnungslose also. Das klang interessant, ließ aber zugleich schlimmes befürchten. Würde es dem Regis­seur gelingen, ein authentisches Bild vom Leben in extremer Armut zu zeichnen oder würden einmal mehr nur die üblichen Klischees von den sog. abgerutschten Persönlichkeiten reproduziert? Nach einer beeindru­ckenden Berliner Premiere am 9. Juni 2005 im Kino Moviemento am Kottbus­ser Damm drückte mir der Regisseur sicherheitshalber nochmal eine DVD des Filmes in die Hand. Obwohl ich wusste, dass Dörthe und Martyn für den strassenfeger berichten würden (siehe unten) versprach ich dem Regisseur, auch noch eine Rezension zu verfassen. Hier nun ist sie, mit einer Verspätung von 7 Jahren.

[Thema] In Deutschland lebten im Jahr 2004, der Zeitpunkt der Erstellung des Films, ca. 591.000 Wohnungs­lose. Allein in München waren mehr als 4.000 Menschen von Obdachlosigkeit betroffen. Nach Angaben des Wohnungs- und Flüchtlingsamtes lebten damals 2.319 Personen, davon 499 Kinder, in städtischen Notunter­künften. Nach offiziellen Schätzungen lebten ca. 1.200 Personen in verbandlichen Einrichtungen und weite­re 600 Menschen gänzlich schutzlos auf der Straße.

[Wittelsbacherbrücke] An einem sonnigen Herbsttag des Jahres 2012 war ich ja da gewesen, an der Wittel­bacherbrücke, und verstand sofort die Faszination des Ortes. Die Brücke ist noch in Sichtweite des Deut­schen Museums und überspannt mit vier Bögen das Isartal. Die hier sehr schnell fließende Isar ist an diesem Abschnitt von einer fast schon romantisch zu nennenden Parklandschaft umsäumt. Diese Parklandschaft beiderseits der Brücke wird von zahlreichen Menschen frequentiert, die Spazieren oder Gassi gehen, Joggen oder Radfahren. Bei schönem Wetter laden Rasenflächen und Sitzgelegenheiten zum Verweilen ein. Ich gönnte mir ein Fuß­bad im kühlen Wasser der Isar und genoss die wärmenden Strahlen eines ungewöhnlich sonnigen Herbstta­ges. An der gut befahrenen Wittelsbacher Straße finden sich einige Lebensmittelgeschäfte und eine Busver­bindung in die Innenstadt, die Innenstadt ist aber auch fußläufig halbwegs gut erreichbar. Im Zuge der Re­staurierungsarbeiten an der Brücke im Jahr 2008 wurden die bis zu 30 dort lebenden Obdachlosen vertrie­ben. Teilweise wurden sie erfolgreich in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe vermittelt, einige wenige zo­gen weiter zu anderen Brücken. Als ich dort war, war von den "Wittelsbachern" nur wenig zu sehen, einige Matratzen, Decken, Pappen, Kleidungsstücke. Offenbar sind es nur wenige, die hier wohnen, und die die waren alle unterwegs.

[Film] Die Wittelsbacher. Ein wahre Geschichte ist ein deutschsprachiger Spielfilm aus dem Jahr 2004. Er ist 92 Minuten lang mit Untertiteln in Englisch, Französisch, Polnisch und Russisch, aber auch in Deutsch. Damit ist der Film auch für Gehörlose von von Interesse. Macher des Films sind Stephan Hartwig, der für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnet und Bohdan Graczyk, der neben Drehbuch und Regie gemeinsam mit Ste­phan Hartwig auch die Rolle des Bronek spielt sowie Michael Wolf als Produzent. Der 35mm Film in Farbe von DigiBeta im Format 1:1,85 sowie Dolby Stereo ist erhältlich im lupo media Filmverleih in Gauting bei München.

Die 2007 erschienene DVD enthält zusätzlich den 30 Minuten langen Dokumentarfilm »Die Wittelsbacher – Könige unter der Brücke« von Julia Benkert. Die Dokumentation über die Wohnungslosen von der Wittels­bacherbrücke in München ist ein halbes Jahr nach den Dreharbeiten zum Spielfilm am selben Ort entstan­den.

Außerdem sind Internet auf dem Portal www.die-wittelsbacher.de eine ganze Reihe weiterer interessanter Informationen zum Film zu finden, darunter eine ausführliche Darstel­lung des Filminhalts, die "fiktiven" Biographien der vier wohnungslosen, unter der Wittelbacherbrücke le­benden Protagonisten des Films (Theo, Bronek, Uwe, Werner), die vollständige Besetzungsliste, eine Bilder­galerie, eine Auswahl an Pressestimmen, eine sehr ausführliche Pressemappe sowie ein Pressespiegel zum Film, einige Mediendownloads mit Ausschnitten aus Filmszenen und Pressefotos, weiterführende Web­links sowie die Kontaktangaben zum Verleih.

Swinging Island ist das Titelstück des Films, komponiert von Dieter Holesch, dessen Melodie sich durch den ganzen Film zieht. Melodie und Stimme klingen, als wären Chris Norman und Tom Waits miteinander ge­kreuzt worden.

[Autoren] Für Stephan Hartwig war dies sein erster Spielfilm. 1969 in Göttingen geboren absolviert er eine Filmausbildung in Bozen, Italien. Er arbeitet bei verschiedenen Film- und Fernsehproduktionen mit, reali­siert zahlreiche Kurzfilme und schreibt Drehbücher, u.a. auch für die Reihe Tatort.

Bohdan Graczyk 1959 in Wroclaw geboren, macht als Schauspieler seinen Magisterabschluss an der Thea­terakademie in Krakau und arbeitet bei unterschiedlichen Film- und Fernsehproduktionen als Regieassis­tent, u.a. mit den Regisseuren Niko von Glasow-Brücher, Hellmuth Costard, Jan Schütte, Oskar Roehler und Mika Kaurismäki.

Beide zusammen schreiben und inszenieren im Winter und Frühjahr 2003 den Spielfilm Die Wittelsbacher.

Zur Vorbereitung auf den Film haben sich beide entschlossen, für einige Wochen selbst unter der Wittelsba­cherbrücke zu leben. Ausgestattet mit einer Isomatte, einem Schlafsach und dem Betrag von 284,-- € (das entspricht dem damaligen monatlichen Sozialhilfehöchstsatz für allein stehende Männer ohne Wohnung) unternehmen sie den Versuch, sich der Lebenswirklichkeit auf der Straße so weit wie möglich anzunähern.

[Inhalt] Der Pressetext beschreibt den Inhalt so: "Der Penner Theo lebt in München unter der Wittelsba­cherbrücke. Er hat mit dem Tod seiner 10-jährigen Tochter bei einem Autounfall vor sieben Jahren einen traumatischen Schicksalsschlag erlitten. Lediglich der Alkohol hilft ihm, sein Leben noch irgendwie zu ertra­gen. Und wenn er so weiter säuft, ist es zum Glück sowieso bald zu Ende. In all den Jahren hat Theo es nie geschafft, dieses Trauma zu verarbeiten oder sich zumindest damit auseinanderzusetzen.

Hier beginnt die Geschichte: Theos Leben ändert sich unerwartet, als eines Tages die kleine Alina bei ihm Zuflucht sucht. Alina ist 10 Jahre alt, stammt aus Bulgarien und spricht kein Deutsch. Sie ist weggelaufen, weil sie – wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt – sexuell missbraucht und von einem Kinderporno­händler gefangen gehalten wurde.

Obwohl sich Theo weder um sich selbst und schon gar nicht um ein Kind kümmern will, ist es gerade das drastische Schicksal dieses Mädchens, das ihn aus seiner Lethargie reißt. Theo erliegt der Versuchung, noch einmal Vater zu sein. Während er beginnt, sich rührend und liebevoll um Alina zu kümmern, vollzieht sich bei ihm eine Wandlung. Er muss seine zurückgezogene und passive Haltung aufgeben und sich den Proble­men stellen." (vgl: http://www.die-wittelsbacher.de/inhalt.html; Langfassung siehe hier)

[Diskussion]

[Lebenslage] Der Film nimmt sich hinreichend Zeit, das Leben derer, die auf der Straße leben, realistisch und weitgehend klischeefrei abzubilden. Sofort nach dem Aufwachen am frühen Morgen die erste Zigarette, der Gang zum Kiosk. Ein Morgenkaffee und gleich dazu, mit einem letzten Rest von Scham, der erste Schluck aus dem Flachmann. Nicht untypisch für die vielen suchterkrankten Menschen auf der Straße. Zurück zum pro­visorischen Quartier unter der Brücke, ein Ensemble aus Paletten, gefundenen alten Matratzen, unzähligen Decken, hergekarrtem Sperrmüll und allem möglichen Kram, der beim Überleben helfen könnte. Eintönig ist der Alltag auf der Straße, denn der Charakter der Lebensumstände ist repressiv. Keine Arbeit, keine Woh­nung, kein Geld, keine Reputation, wenig soziale Kontakte. Die Unfähigkeit der Gesellschaft, Handlungsräu­me, Schutz, Versorgung und Teilhabe für alle zu gewährleisten, entschlüsselt sich nicht von selbst, sichtbar wird nur der Dreck des in den Dreck gestoßenen, nicht die Unbarmherzigkeit der menschengemachten Um­stände. Als Theo von einem Auto angefahren wird, ist eine medizinische Versorgung nicht selbstverständ­lich, er muss eine Behandlung erzwingen, in dem er die Zufahrt zum Krankenhaus blockiert. Not wird herge­stellt und dann weiter ausgebeutet. Deutlich erkennbar an der Zeitarbeitsvermittlung. Schlecht bezahlte Tagelöhnerjobs sind eine kalkulierte Option für gesundheitlich noch nicht zerstörte Menschen, eine Alternative zum Betteln. Das – beispielsweise – ist die andere Seite der billigen Lebensmittel, wenn die Profitlogik ein Überangebot von Menschen hervorbringt, die im Lebensmittelgroßhandel Obst- und Gemüsekisten zu sortieren haben, ohne dass Konzerne und deren Anhängsel über den Tag hinaus auch nur irgendeine Verpflichtung einzugehen hätten. Als ob das, was zu arbeiten ist, nicht auch anders verteilt werden könnte. Auch die Infrastruktur der Hilfe folgt dem Charakter der Ausbeutung der Not. Es sind Sozialkonzerne, die sich die Arbeit an den Ärmsten bezahlen lassen und sich zugleich bereichern an der moralischen Bereitschaft ehrenamtlicher Helfer_innen, unbezahlt "Gutes" tun zu wollen. Diese Hilfe organisiert keinen sozialen Wohnungsbau, keine Umverteilung des Reichtums, keine gerechte Arbeit. So sind die Wohnungslosen weitestgehend von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen und bleiben unter sich. Das verletzte Bein im Gips und die Krücken dazu mobilisieren das Mitleid der Passanten und steigern die wenigen Einnahmen, die durch das Betteln erzielt werden können. Es gibt kaum einen Wohnungslosen, dem es allein mit Hilfe der Einnahmen durch das Betteln gelungen ist, wieder eine Wohnung zu beziehen. Der Film lässt (leider) die unmittelbare Repression und die Schikanen durch Polizei, Sicherheitsdienste und Behörden aus: Willkürliche Ausweiskontrollen, Aufforderungen, Orte zu verlassen oder sogar Platzverbote, Handgreiflichkeiten, Pöbeleien, Vertreibung, Wartezeiten, Rechtsbeugung – alles das wird im Film nicht so deutlich gezeigt, wie es gezeigt gehört.

[Wohnungslosigkeit] Der Film fällt in eine historische Zäsur. Die friedliche Revolution 1989, die zu dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik und dann zur deutschen Einheit führte, hatte auch sozia­le Kehrseiten. Eine davon ist das massenhafte Auftreten von Wohnungslosigkeit. Viele Elemente einer so­zialen Sicherung wie preisgünstige Mieten, Betriebswohnungen, Kündigungs- und Bestandsschutz gingen verloren. Mieter sahen sich mit drastischen Mieterhöhungen, Kündigungen, Verkäufen, Eigenbedarfsforde­rungen, Spekulationen usw. konfrontiert, hinzu kommt die Herstellung von Arbeitslosigkeit und der Aufbau von (überfordernden) Sozialstrukturen nach westdeutschem Vorbild. Als Ergebnis dieser neuen Unüber­sichtlichkeit während des gesellschaftlichen Transformationsprozesses explodierte auch die Zahl der Wohnungslosen in den Jahren nach der Einheit und erreichte um 1991/1992 ihren traurigen Höhepunkt. Für die Kritiker der deutschen Einheit unter westlichem Vorzeichen war das Phänomen der Wohnungslosigkeit eine willkommene Projektionsfolie für ihr grundsätzliches Misstrauen gegenüber der kapitalistischen Gesellschaftsform. Während einer kurzen historischen Phase in den 1990er Jahren gab es eine sehr breite gesellschaftlichen Mehrheit für die Auffassung, dass deutliche Anstrengungen zu unternehmen seien, um diesem Phänomen Einhalt zu gebieten. Dieser Impuls kam zusammen mit einer Phase innerhalb der So­zialen Arbeit, in der neue Modelle, Konzepte und Projektideen mit neoliberalem Charakter entwickelt wur­den. Für den Bereich der Wohnungslosenhilfe wären beispielsweise das Aufkommen der Tafeln, der Stra­ßenzeitungen und diverser Theater- und Kulturprojekte zu nennen. Es waren einige Faktoren, die dazu führten, dass ab Mitte der 1990er Jahre die Zahl der Wohnungslosen Jahr um Jahr reduziert werden konnte. Dazu gehören: Die gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema, das Aufkommen innovativer Ansätze im Hand­lungsfeld, die Bereitschaft, einen Ausbau der Hilfen auch zu finanzieren, eine Debatte um Qualität, die zur Auflösung der sog. Läusepensionen führte und schließlich die Nutzung der Ressourcen des sozialen Wohnungsbaus, den es damals noch gab. Vor allem das hinreichende Vorhandensein von bezahlba­rem Wohnraum war in Kombination mit den anderen Elementen der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration. Der im Jahr 2004 produzierte Film Die Wittelsbacher markiert insofern eine Trendwende, als dass wenig später, ab 2006 nachweislich die Zahl der Wohnungslosen wieder zunimmt. Sie nimmt unter anderem deshalb zu, weil das Problem zu Beginn der 2000er Jahre als weitgehend gelöst erachtet wurde und deshalb sukzessive vor allem Förderung reduziert, oder, um es im neoliberalen Jargon zu sagen, optimiert wurde. Überhaupt verläuft die Aufmerksamkeit ge­genüber dem Problem der Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit in langen zyklischen Wellen. Im Zuge der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs wurden große Wohnungsbestände vor allem in den Städten zerstört, der Wohnungsmangel war so groß, dass für eine Zeit lang sogar eine Wohnraumzwangsbewirtschaftung notwendig war. Als nach dem Ende der 68er – Bewegung die politisierten Jugendlichen sich verstärkt sozialen Themen zuwand­ten, war die Entdeckung, dass es trotz Wirtschaftswunder immer noch Obdachlosensiedlungen gab, Auslö­ser für eine zweite Konjunktur der Auseinandersetzung mit Obdachlosigkeit in den 70er Jahren. Viele dieser Obdachlosensiedlungen wurden erfolgreich aufgelöst, und die Soziale Arbeit entdeckte ambulante, lebenslagebezogene pädagogische Hilfeansätze, die die Wohnungslosen Schritt für Schritt zu einer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigen sollten. Und eben diese letzte Konjunktur des Themas in den 90er Jahren in der Folge der deutschen Einheit unter kapitalistischen Vorzeichen. Dieser zyklische Verlauf lässt mutmaßen, dass es erneut einige Jahrzehnte dauern könnte oder einer außergewöhnlichen Situation bedarf, damit Woh­nungslosigkeit und ein Bündel an Maßnahmen, um diese abzubauen, erneut einen zentralen Platz in der öffentlichen Aufmerksamkeit erhält. Bis dahin ist damit zu rechnen, dass die Wahrnehmung und Debatte darüber vorwiegend fokussiert wird auf einzelne Individu­en und deren Hilfebedürftigkeit – eine Sicht, die auch den Zweck erfüllt, von der gesellschaftlichen Verursa­chungsdynamik abzulenken.

"Vier Penner und ein Mädchen, wie sieht das denn aus?"

[Moral] Trotz allem Realismus ist der Film auch moralisch. Nicht in dem vordergründigen Sinne, dass es Theo gelingt, von der Brücke weg zu kommen oder in dem Sinne, dass Alina aus dem Zugriff des sexuellen Missbrauchs des Kinderpornoherstellers durch die Penner befreit werden kann. Nein, der Film ist moralisch in dem Sinne, dass er zeigt, dass Macht und Geld (hier konkretisiert am Beispiel des sexuellen Missbrauchs zum Zwecke der Kinderpornographie) sich nicht durchsetzen werden und dass auch der Einsatz von Geld auf Dau­er Macht und Missbrauch nicht absichern kann. Der Film ist moralisch, weil er zeigt, dass es darauf ankommt, von diesen Strukturen wegzulaufen (Alina), der Bestechung durch Geld zu widerstehen (Theo), den Sachver­halt des Missbrauchs aufzuklären (Theo und Bronek) und so die Täter zu überführen. Der Film zeigt Geschä­digte und Beschädigte, die in ihrem konkreten Handeln kleinste Wirklichkeit verändern, Gewalt und Unrecht überwinden und damit den ersten Schritt tun, sich selbst zu heilen. Der Film zeigt, dass es soziale Bündnisse von Menschen sind, und seien sie noch so absurd, noch so abwegig, mit denen es gelingen kann, diese notwendigen kleinsten Verän­derungen herbei zu führen. Aber möglicherweise ist auch diese Moral des Films gar keine Moral, sondern nur eine Art utopischer Realismus.

[Kontexte] Es gibt nur wenige Filme, die glaubwürdig und ohne in Klischees und Stereotypen zu verfallen, von Wohnungslosigkeit berichten. Zu nennen ist der dokumentarisch anmutende Film Vogelfrei von Agnes Varda aus dem Jahr 1985, der mit Mitteln surrealer Verfremdung arbeitende Film Fisher King (König der Fischer) (URL) aus dem Jahr 1991 von Terry Gilliam. Auch der der 1993 produzierte Film Manhattan by Numbers von Amir Naderi und der großartigen Filmmusik von Gato Barbieri gehört dazu, ob­wohl dieser Film sich inhaltlich eher darauf fokussiert, wie schnell es gehen kann, wohnungslos zu werden. Der Film Die Wittelbacher kann sich mit diesen großen Vorbildern durchaus messen und ist ihnen ebenbürtig. Dass Filmen mit diesem Sujet selten ein großer (kommerzieller) Erfolg beschieden ist, spricht eher für diesen Film und für den Mut aller Beteiligten – die sicher dieses Risiko ahnten – sich mit dem Thema dennoch auseinan­der zu setzen.

[Fazit] Die Wittelsbacher. Eine wahre Geschichte ist ein wirklich hervorragender Spielfilm für alle, die sich mit dem Thema Wohnungslosigkeit befassen wollen. Er ist beispielsweise geeignet als Einstieg in die Proble­matik, aber auch für ein kulturelles Begleitprogramm von einschlägigen Veranstaltungen zu Armut und Aus­grenzung, auch für den Einsatz an Schulen oder bei Schulungen von Ehrenamtlichen und Freiwilligen und vergleichbaren Zwecken. Trotz einiger Längen, die aber notwendig sind, um zu spüren, wie sehr sich das Le­ben auf der Straße hinzieht, bietet er eine interessante Story und eine gute Unterhaltung. Der Film ist aber in erster Linie des­halb so hervorragend, weil er Penner nicht – wie zu erwarten – als Opfer, sondern (auch) als Handelnde, als Tä­ter zeigt. Der Film ist all denen gewidmet, die manchmal am Leben verzweifeln.

Mersin – Mezitli und Berlin, Dezember 2012 und Januar 2013

Stefan Schneider

PS: Einen Eintrag bei Wikipedia hat der Film seit 2013 nun auch.

[Abbildungen]

Drehprobe vlnr. Bohdan Graczyk (Bronek), Vladimir Torbica (Uwe), Wilfried Labmeier (Theo), Christof Bittl (Tonassistenz) Foto: Ralf Succo, © lupo media GmbH / succopix

Szenenfoto vlnr. Wilfried Labmeier (Theo), Laura Juds (Alina) Foto: Ralf Succo, © lupo media GmbH / succopix

Strassenfeger-Rezension vom Sommer 2005

Es ist ein Film über die Münchener Clochards. Die schlafen unter den Brücken, ertränken ihr verkorkstes Le­ben in Alkohol. Der einzige Lichtblick im Leben von Theo ist die Begegnung mit dem Mädchen Alina, das vor seinen Peinigern flieht. Sie freunden sich an. Er erkennt in ihr den verdrängten Schmerz seiner vor sieben Jahre durch einen Verkehrsunfall getöteten 10-jährigen Tochter.

Dieser Film ist all denen gewidmet, die manchmal am Leben verzweifeln. Das ist auch Theo. Er ist verzwei­felt, genehmigt sich erst einmal einen Flachmann, um das Leben herunterzuspülen. So gepeinigt vom Leben lässt er sein Bein von einem Auto überfahren. Alles Selbstverletzung – doch der Tod will ihn nicht. Immer das Gleiche: unter der Brücke schlafen, saufen, betteln in der Einkaufspassage, als Abschaum gesehen wer­den. Der Schmerz über seine tote Tochter ist noch da. Hawaiitanz und Trinkersaufszenen schleppen sich durch den Film. Schlägereistreitereinen wechseln mit Aggressionsschreiereien, bis die 10jährige, bulgarisch­stämmige Alina ihre Handschlagader anstechen will. Theo hat ein Herz und nimmt sich ihrer an. Er be­schützt sie vor ihrer Selbstgefährdung und sexueller Gewalt ihres eigenen Vaters. Theo versteckt das Mäd­chen vor ihm. Mit ihrer Anwesenheit verhilft sie Theo zu neuem Bettelreichtum in der Einkaufspassage.

Die ‚Wittelsbacher’ zeigt einschlägige Orte und Plätze von Wohnungslosigkeit in der Stadt-Park-Flussland­schaft Münchens. Pennersex-Frauenvögelleien passieren Revue.

Die Kamerahandlung wechselt in das Villenviertel der Familie Wittelsbacher, den noblen Münchener Vorort Wolfrathshausen. Theo befreit das Mädchen aus dem elterlichen Gefängnis. Bis dahin sind sich die beiden ans Herz gewachsen. Sie sind für einander da, gemeinsam gegen diese raue Welt. Er zeigt ihr auch nach lan­gem Verdrängen den Grabstein seiner toten Tochter Anja. Gemeinsam flanierend gehen sie auf einer Stra­ßenallee dem Ende entgegen.

Dörthe und Martyn R.


Langinhalt des Films Die Wittelsbacher

Eine kleine Gruppe Münchner Obdachloser hat sich unter der Wittelsbacherbrücke häuslich eingerichtet. Ihre Schlafsäcke liegen auf Matratzen und an der Feuerstelle stehen zwei Sessel und ein Sofa. Einer von ih­nen, THEO, wacht nach einer kalten Nacht unter der Brücke schon im Morgengrauen auf. Er wärmt sich am Feuer und verlässt dann seinen Schlafplatz, um sich sein Frühstück – einen Becher Kaffee mit einem ordent­lichen Schuss Schnaps – zu besorgen. Schon auf dem Weg zu seinem Bettel-Stammplatz am Münchener Kul­turzentrum Gasteig streitet er mit Autofahrern und motzt Kinder an. Im Grunde ist er ein richtig unangeneh­mer Zeitgenosse, ein desillusionierter Mann, der längst mit dem Leben abgeschlossen hat. Missmutig wie er ist, stört es ihn auch wenig, als er von einem Auto angefahren wird und sich dabei den Fuß verletzt. Viel­mehr sind es seine Freunde, Bronek, Uwe und Werner, die sich um ihn sorgen. Zu viert leben sie unter der Brücke wie in einer Wohngemeinschaft. Unter ihnen herrscht ein richtiger Sinn für Arbeitsteilung: während Werner tagsüber auf die Sachen aufpasst, gehen die drei anderen ihren Geschäften nach. Bronek verdient sein Geld als Hilfsarbeiter am Gemüsegroßmarkt, Theo und Uwe betteln, wenn die Sozialhilfe knapp wird. Gegenseitig versorgen sie sich so mit Essen und Alkohol.

Nicht weit von der Brücke entfernt wird Alina, ein 10-jähriges Mädchen, regelmäßig von Dieter, einem ele­gant gekleideten Mann, mit einer schwarzen Limousine bei einem großen Mietshaus abgeholt und anderen­tags wieder gebracht. Als Dieter einmal in einen kleinen Auffahrunfall verwickelt wird, nutzt Alina die Gele­genheit zur Flucht. So schnell sie ihre Füße tragen, rennt sie hinunter zur Brücke, um sich dort zu verstecken. Hier gerät sie an Theo. Er kapiert sofort, dass etwas nicht stimmt und als Dieter dann auch noch eine Beloh­nung von 500 Euro für das Kind aussetzt, ist ihm klar, dass zwischen den beiden kein normales Vater-Toch­ter-Verhältnis besteht. Uwe, Werner und Bronek aber interessieren sich sofort für das Geld. Sie beschließen, das Mädchen auch ohne Theos Hilfe zu suchen und finden sie tatsächlich wenig später in einem Park ober­halb der Brücke. Dieter ist aber schon wieder gefahren und so sitzen die drei Penner mit dem Mädchen um ihre Feuerstelle und beratschlagen die weitere Vorgehensweise.

Theo hat kein Interesse, in irgendeiner Form Verantwortung zu übernehmen. Er meint, es würde sich schon jemand in dieser schönen Stadt finden, der sich darum kümmert und außerdem könne er Kinder nicht lei­den, von denen bekäme er Ausschlag. So liegt Theo auf seiner Matratze und beobachtet argwöhnisch seine Kollegen. Während die drei die gerechte Aufteilung der Belohnung diskutieren, muss Theo mit ansehen, wie sich das Mädchen am Feuer das Kleid anzündet. Als Bronek das Kind dann auch noch zum Löschen in die Isar wirft, ist Theo gezwungen, seine passive Haltung aufzugeben. Aufgebracht über so viel Dummheit nimmt er sich des Mädchens an. Gegen den Protest der anderen beschließt er, Alina am nächsten Tag zur Polizei zu bringen. Doch daraus wird nichts. Zum einem deshalb, weil Theo merkt, dass seine Gewinne beim Betteln mit einem niedlichen Mädchen an der Seite sehr viel größer ausfallen. Zum anderen fühlt sich Theo schon bald für sie verantwortlich, bei ihm wurden bereits tief verschüttete Vatergefühle geweckt, die ihn an seine Zeit mit seiner eigenen Tochter erinnern. Er hatte sie bei einem Autounfall vor einigen Jahren verloren und konnte seitdem seinem Leben keinen Sinn mehr geben. Es ging nur noch abwärts, bis er schließlich un­ter der Brücke gestrandet war.

Die Tatsache, dass Theo jeden Abend wieder mit der Kleinen unter die Brücke kommt und jedes Mal wieder verspricht, sie am nächsten Tag bestimmt wegzubringen, löst unter den Pennern heftige Wortgefechte und Handgemenge aus. Obwohl Theo völlig klar ist, dass das so nicht ewig weitergehen kann, hat sein Unterbe­wusstsein längst entschieden, Alina nicht wieder herzugeben. Als Bronek ihm ein letztes Ultimatum stellt, das Kind morgen zur Polizei zu bringen – sonst würde er es tun – ertränkt Theo seinen Kummer mit viel Wodka. Während er betrunken an der Isar sitzt und über sein Leben nachdenkt, kommt eine dunkle Ge­stalt an Alinas Bett und schleppt sie davon. Entsetzt bemerkt Theo am nächsten Morgen, dass Alina fort ist und weil der Aufpasser Werner auch von nichts weiß, macht er sich zusammen mit Bronek sofort auf die Su­che nach ihr. Sie gehen an alle Orte, die Theo mit ihr in den letzten Tagen besucht hat – leider erfolglos. Am Abend müssen sie resigniert und ohne die geringste Spur unter die Brücke zurückkehren. Dort veranstaltet Uwe zusammen mit Werner und zwei Mädels eine Party, der Alkohol fließt in Strömen und als Uwe beim Herumkramen in seinen Taschen einen Schließfachschlüssel verliert, werden die beiden stutzig. Theo schnappt sich den Schlüssel und eilt sofort zum Bahnhof. In dem Schließfach finden er und Bronek den auf Alina ausgesetzten Finderlohn und, neben einigen Papieren, eine CD-Rom. Diese schauen sie sich sogleich im nächsten Internet-Café an. Entsetzt von den pornografischen Bildern junger Mädchen, die sie zu sehen bekommen, und wütend über Uwes Verhalten, Alina allein des Geldes wegen zurückgebracht zu haben, lau­fen sie wieder zur Brücke. Theo, weil er wissen will, wo Alina ist und Bronek, weil er dem Schwein die Eier abschneiden will. Doch sie kommen zu spät, Uwe hat sich an einem Brückenpfeiler erhängt; Werner unter­nimmt hilflose Versuche, ihn herunterzubekommen. Nach dem Motto „Dem Verräter ist jetzt auch nicht mehr zu helfen.“ verlassen sie Werner und den toten Uwe, um so schnell wie möglich Alina aus den Händen der Kinderpornohändler zu befreien.

Ihr Weg zu Alina erweist sich jedoch als schwierig. Erst werden sie in der S-Bahn von einem Fahrkartenkon­trolleur aufgehalten, dann müssen sie bemerken, dass sie die Visitenkarte mit der Adresse von Dieter verlo­ren haben und als sie endlich das richtige Haus gefunden haben, werden sie von der Polizei verhaftet, die sie für Einbrecher hält. Dabei waren sie schon so nah am Ziel. Glücklicherweise verhängt das Gericht nur eine Geldstrafe, die sie mit dem Geld aus Uwes Schließfach bezahlen können. Nachdem sie sich in ihrer Stammkneipe mit Bier und Schnäpsen gestärkt haben, brechen sie erneut auf. Doch wieder einmal sind sie zu spät. Das Auto mit Alina fährt gerade weg, als sich Theo und Bronek den Berg zu Dieters Haus hinaufquä­len. Damit ist warten angesagt, und zwar das ganze Wochenende. Auch wenn die beiden oft zu spät dran sind und häufig an Kleinigkeiten scheitern, so haben sie doch eine ganz besondere Stärke, und zwar Geduld, denn die Zeit unter der Brücke vergeht sehr langsam und sie sind es gewohnt zu warten. Als Dieter endlich nach zwei Tagen mit Alina zurückkommt, gelingt es dank Theos genialem Plan – »Du gehst zuerst rein, dann gehe ich hinterher. Danach machen wir es umgekehrt. Ich gehe zuerst mit der Kleinen raus und dann kommst du hinterher.« – Alina zu befreien und Dieter der Polizei zu übergeben.

Theo ist stocksauer, weil ihm die Polizei keine näheren Informationen zu Alinas neuem Aufenthaltsort geben will. »Man wird sich um das Mädchen kümmern.« Wütend fragt er, wer sich denn bisher um das Mädchen gekümmert hat.

Während Bronek weiter mit Werner unter der Brücke haust, versucht Theo dem Leben auf der Straße den Rücken zu kehren. Doch dieser Entschluss ist gar nicht so einfach umzusetzen. Ein Hoffnungsschimmer ist schließlich ein Wiedersehen mit Alina. Bei einem Spaziergang mit ihr beschließt Theo auf den Friedhof zu gehen und ihr das Grab seiner Tochter zu zeigen. Hier erzählt er, dass er sie seit der Beerdigung damals nicht mehr besucht hat – er konnte einfach nicht. Weil auf dem Grab frische Blumen liegen, muss er an seine Frau denken, die in all den Jahren auch einen Weg finden musste, mit dem Verlust ihrer Tochter zu leben.

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