(Rezension zu Christian Heller, Christian. Post Privacy: Prima leben ohne Privatsphäre. München 2011)
[Vorbemerkung] Selten ist mir die Rezension zu einem Buch so schwer gefallen und hat so lange gedauert – und das liegt nicht am Buch (ich werde es vorwiegend loben) sondern eher am Thema. Inzwischen denke ich ja, dass Privatheit oder vielmehr die Zersetzung derselben das zentrale Thema des beginnenden 21. Jahrhunderts sein wird. Aber dabei geht es nicht mehr um Privatsphäre, sondern um Privatbesitz, Privateigentum und Privatwirtschaft. Anders gesagt, das Ende der Privatsphäre, oder besser, eines bestimmten Teils der Privatsphäre ist nur ein erstes Symptom eines fundamentalen gesellschaftlichen Umbruchs, der sich an allen nur denkbaren Ecken und Kanten vollzieht. Darüber muss viel nachgedacht werden, und dazu regt das Buch von Christian Heller mit Sicherheit an.
[Thema] Nur scheinbar geht es in diesem Buch um das Ende der Privatsphäre und wie man damit zurecht kommen könnte. Im Kern zeigt der Autor anhand der (sicherlich zentralen) Kategorie Privatheit, wie sich mit der allgemeinen Nutzung der global vernetzen universal programmierbaren Maschine namens Computer fundamentale Prinzipien ändern, die bisher unsere Gesellschaft zusammengehalten haben. Ähnlich, wie mit der (Wieder-)Erfindung des Buchdrucks jeder noch so abwegige Gedanke publiziert, weit verbreitet und damit die enge Welt des Mittelalters letztlich überwunden werden konnte, so werden jetzt mit dem Auftreten des Internets die Bindekräfte einer Gesellschaftsordnung in Frage bestellt, die Herrschaft und Privatbesitz auf Individualität und Privatsphäre gründen. Auch wenn in keiner Weise klar ist, was stattdessen kommen wird und auch, wenn vielleicht alles nur noch viel schlimmer werden wird, ist dieser Prozess ebenso irreversibel wie unausweichlich.
[Autor] Christian Heller erlebte ich das erste Mal auf der re:publica 2010. Er hielt dort einen der besseren Vorträge über Identitäts-Kriege, gekennzeichnet von dem Bemühen, die gegenwärtigen Veränderungen einzuordnen und zu verstehen auf dem Hintergrund großer historischer Linien. Eine Herangehensweise, die kennzeichnend ist für ambitionierte Wissenschaftler. Heller ist Jahrgang 1984, lebt in Berlin, hat Filmwissenschaft und Philosophie studiert und bezeichnet sich selbst bescheiden als Blogger und Filmkritiker, der sich regelmäßig auf Tagungen und Kongressen wie der re:publica, der Transmediale oder dem Chaos Communication Congress mit eigenen Beiträgen zu Wort meldet. Die Internetseite www.plomlompom.de ist der zentrale Knotenpunkt seiner digitalen Aktivitäten.
[Aufbau] Die Struktur des Buches folgt der klassischen Herangehensweise an eine wissenschaftliche Untersuchung. Ausgehend von einem einleitenden Problemaufriss (1. Das Ende der Privatsphäre) nähert sich der Autor zunächst über eine kurze, aber einen weiten Zeitraum umspannende historische Analyse an den Gegenstand an (2. Eine kleine Geschichte des Privaten): Privatsphäre sei nicht etwa etwas schon immer Bestehendes, sondern etwas Gemachtes, eine gesellschaftliche Technik der Herausbildung des modernen Selbst. Auf den technischen Kern des Problems fokussiert das nachfolgende Kapitel (3. Entfesselung der Daten), in dem beschrieben wird, wie die Digitalisierung einfacher numerischer Aufgaben im Verlauf der letzten eineinhalb Jahrhunderte immer weitere Kreise gezogen hat und mit Hilfe des Computers als programmierbarer Datenmaschine sowie seiner globalen Vernetzung im Web eine zunehmende Durchdringung aller nur denkbaren und undenkbaren Lebensbereiche vollzogen hat. Die Idee der Kontrolle von Daten in der Strategie des Datenschutzes (4. Fesselung der Daten) wird anschließend behandelt. Das darauf folgende Kapitel beschreibt, wie Wissen und Macht sich zueinander verhalten und ob eine transparente Gesellschaft auch eine Welt totaler Kontrolle sein kann (5. Informationsmacht). Die politische Macht von (Privatem in der) Öffentlichkeit, die Möglichkeit für Bündnisse und zur Solidarität (von 'unten' gegen 'oben') sowie zur Herstellung von Transparenz, die Abgrenzungen durch Filterung und erweiterte Techniken des Selbst dienen als plausible Beispielfelder, in denen die Chancen der gegenwärtigen Entgrenzung und Aufweichung des Privaten (6. Post-Privacy-Taktiken) aufgezeigt werden. Im Schlusskapitel (7. Abwägungen) plädiert der Autor dafür, dass ein bewusste Umgang mit Post-Privacy bei allen Risiken und Gefahren doch mehr Chancen eröffnet als ein Beharren auf Privatsphäre.
[Hintergrund] Um das Jahr 2009 ist in der netzpolitischen Debatte die These vom Ende der Privatheit (=Post-Privacy) entwickelt worden. Ein loses Netzwerk von Menschen, die das Ende von Privatheit bereits für ausgemacht halten, dies plausibel begründen wollen und nach Wegen und Strategien im Umgang mit dem Privaten am Ende von Privatheit suchen, ist Die datenschutzkritische Spackeria, eine Bezeichnung, die einer seriösen Befassung mit der Fragestellung vielleicht etwas im Wege steht. Dem Autor Christian Heller, der maßgeblich bei der Entwicklung dieser These beteiligt war, kommt der Verdienst zu, als erster im deutschsprachigen Raum die Argumentation vom Ende der Privatsphäre in einer eigenen Buch-Publikation einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen.
[Diskussion]
Transformationen. Im Verlauf weniger Jahre ist das Internet interaktiver geworden, wofür das Schlagwort vom Web 2.0 steht. Es ist nicht mehr erforderlich, besondere Programmierkenntnisse zu haben, auch ist der Inhalt des Internets nicht mehr die statische Abbildung von Informationen, die mittels Verknüpfungen mehr oder weniger sinnvoll zu neuen Informationsstrukturen verwebt werden können. Die neue Struktur erlaubt es ganz unkompliziert Kommentare zu hinterlassen, Diskussionen anzuzetteln, gemeinsam an Dingen zu arbeiten, Kooperationen aufzubauen und Gruppen zu bilden. Mit privatwirtschaftlichen, dem demokratischen Zugang entzogenen Plattformen wie Facebook ist das Internet als Soziales Netzwerk in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Beständig teilen Menschen sich im und über das Internet mit, sie geben (bereitwillig und ungezwungen, anonym oder mit vollem Klarnamen) Auskünfte über sich selbst in Form von veröffentlichten Texten, hochgeladenen Files, Partybildern, Verlinkungen und weiterem mehr. Die so generierte Öffentlichkeit von im Netz erkennbaren individuellen Spuren ist schwer rückholbar, und vor allem steht sie im Gegensatz zu ebenfalls berechtigten Forderungen nach Privatheit und Datenschutz. Ein Abwehrkampf – das ist der Kern der Hellerschen Argumentation – ist aussichtslos, weil der Kampf um Privatheit und Privatsphäre längst verloren ist. Er ist verloren unter anderem deshalb, weil die Gesamttendenz einer Mehrheit von Einzelnen, in stundenlanger immaterieller Datenarbeit den Big Four des Internets (Google, Facebook, Amazon und Wikipedia) persönliche Informationen zur Verfügung zu stellen, weitaus wirkungsmächtiger ist als jene Strömung, die versucht, den Datenfluss zu regulieren, zu begrenzen oder sogar abzuschotten. (Sie ist wohl auch deshalb mächtiger, weil in der Abwägung von unmittelbarem Nutzen und grundsätzlicher Preisgabe offenbar der sofort erzielbare Vorteil oder zu habende Spaß eine stärkere Kraft hat als die Furcht vor denkbaren, erst nachträglich einsetzenden Effekten. )
In dem also ein maßgeblicher Teil der Menschheit des 21. Jahrhunderts seine Angelegenheiten überwiegend im Internet vollzieht, wird vormals Privates öffentlich, weil auch immer mehr private Informationen in dieses Internet eingespeist werden. Indem Individuen Informationen über sich selbst im Internet preisgeben, potenzieren sie diese Entwicklung. Sie tun es aber immer mehr nicht deshalb,weil sie es müssen, sondern weil sie es wollen, weil es Ausdruck ihres Lebensvollzugs, ihrer (digitalen) Identität ist.
Bedrohungen. Dennoch gibt es eine ganze Reihe zentraler, daraus resultierender Probleme, da die in der Webmaschinerie eingespeisten Daten weiter verwertbar sind. Die Maschinen der privaten Konzerne Google, Facebook und Co. durchpflügen unsere Datenmengen und können Verbindungen aufzeigen, die aus der einzelnen Information heraus nicht ersichtlich sind. So werden Sachverhalte erkennbar, die ggf. gar nicht öffentlich werden sollten. Auch ist es eher nicht möglich, bisher bestehende Sphären (privat/beruflich; bekannt/heimlich) zu trennen. Das Beispiel von dem Personalchef, der aufgrund peinlicher Partybilder einen Bewerber nicht einstellt, ist mittlerweile banal geworden. Es sind darüber hinaus (überwiegend, aber nicht nur) materielle Interessen, mit denen dieser Datenstrom algorithmisiert bearbeitet und dem einzelnen Individuum beispielsweise als Kaufempfehlungen, Mitteilungen, Postings, Werbung, Dossier oder Warnung auf dem Webbrowser zurück gespiegelt werden kann. Weiterhin sind es Interessen der Herrschaft und Kontrolle von öffentlichen und privaten Sicherheitsagenturen (oder dem Verfassungsschutz), das Internet für ihre Zwecke der Fahndung auszunutzen. Dass in der Regel damit keine Anschläge und Attentate verhindert werden können und es darum auch gar nicht, ist dabei ein mehr oder weniger offenes Geheimnis. Weil aber große, private, der öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogene Konzerne sowie die nur schwer vollständig kontrollierbaren Staaten mit ihren Herrschaft ausübenden Organen zunehmend mit den im Netz verfügbaren, bereitwillig eingestellt Daten arbeiten und darüber hinaus ebenfalls bisweilen eigene Daten erheben, um mit ihnen zu arbeiten, ist das Szenario eines gläsernen, den unterschiedlichen Herrschafts- und Verwertungsinteressen dieser Kraken mehr oder weniger vollständig ausgelieferten Menschen eine echte, ernstzunehmende und weltweite Bedrohung.
Die Bedrohung hat viele Gesichter: Einreiseverbote, verweigerte Kredite, schlechtere Behandlung, reduzierte Chancen, geminderte Leistungen, die Liste der Möglichkeiten, Macht und Kontrolle mit Hilfe von Internet und verfügbaren Daten subtiler und treffsicherer, geräuschloser und kostensparender auszuüben ist lang und umfasst alle Lebensbereiche. Mit anderen Worten: Das Internet und seine Möglichkeiten sind hervorragende Instrumente für die herrschenden Akteure, ihre weltweite Ausbeutung und die Unterdrückung einer großen Mehrheit von Menschen besser, effektiver und kostensparender um- und durchzusetzen und ihre Profite zu vermehren. Von daher stellt sich – auch im Rahmen der von Heller behandelten Fragestellung – die entscheidende Frage: Wie, in welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Horror. Ich glaube, dass Heller diese Frage die Frage eines Lebens jenseits einer gesicherten Privatsphäre deshalb positiv, also im Sinne einer Haltung: Wir lassen uns bewusst auf das Ende der Privatheit ein, beantworten kann, weil mit der Privatheit, die sicher in der Zeit der Aufklärung und der Entwicklung der Bürgerrechte etwa im Kontext der Französischen Revolution und der Amerikanischen Unabhängigkeit von großer Bedeutung war, eine Reihe von Konnotationen verbunden sind, die weder wünschenswert sind noch geeignet, die gegenwärtigen Herausforderungen und Zukunftsprobleme zu lösen. Privatsphäre ist natürlich auch der Ort großer Banalitäten. Männer, die mit dickem Bauch und Feinripp-Hemd im Garten sitzen, Bier trinken, Würste grillen und in der Glotze Fußball gucken. Privatsphäre ist aber leider nicht nur das, sondern eben auch der Ort von häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch und der Planung rechtsextremer Terroranschläge. In materieller Hinsicht ist Privatsphäre Privateigentum und als solches eine übliche Quelle der Anreicherung von Reichtum auf Kosten übervorteilter Kunden, zu Billigstlöhnen arbeitender Menschen in prekären Lebenssituationen, für ihr bloßes Überleben arbeitender Kindern – um nur die wichtigsten Grausamkeiten anzusprechen. Hinzu treten die Zerstörung der Natur sowie der Ausplünderung von Rohstoffen und Ressourcen. Privatwirtschaft ist der Ort individueller, wenig kontrollierbarer ökonomischer Entscheidungen weniger Global Player mit zum Teil dramatischen Folgen für die Vernichtung der Regenwälder, der Zerstörung der Ozeane und der Zementierung sozialer Ungleichheit. Privatwirtschaft ist darüber hinaus auch ein zentraler Hinderungsgrund für die zunehmend aufkommenden Bedürfnisse nach gemeinschaftlicher Produktion, nach Peer- und Commonsprojekten, in denen eben nicht Wert auf schnelle Rendite und Profite, sondern eben auf Dauerhaftigkeit, Gebrauchswert- und Gemeinschaftsnutzen gelegt wird. Und schließlich ist Privatheit letztlich auch ein Hinderungsgrund für die Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit selbst, denn das Internet gibt uns die Möglichkeit, unsere Geschichte(n), Vorlieben, Wünsche, Sehnsüchte, Triebe, Abgründe aber auch Widerwärtigkeiten neu zu organisieren, es ist, wie Heller zeigt, ein mögliches universales Instrument für neue, uns erweiternde und bereichernde Techniken des Selbst.
Showdown: Der uralte Kampf Gut gegen Böse, Oben gegen Unten, Freiheit statt Herrschaft, David gegen Goliath geht weiter. Das neue Feld der Auseinandersetzung ist nunmehr das Internet, betroffen ist potentiell jede_r Nutzer_in. Heller plädiert dafür, auf nicht gewinnbare Rückzuggefechte zu verzichten oder wenn, sie bestenfalls aus taktischen Gründen zu führen, und sich statt dessen der Auseinandersetzung zu stellen. Ist das der Punkt, die zentrale Frage? Der gegenwärtige Prozeß als Transformation uralter Menschheitsfragen auf eine neue Ebene? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.
Modelle. Auf seiner Seite plomlompom.de dokumentiert Christian Heller sehr ausführlich seinen Alltag. Wir erfahren viel über seinen Tagesrhythmus und was er so macht, über seine Einkäufe und was er dafür bezahlt und dass er sich überwiegend von Döner Kebab ernährt. Was er liest, wen er trifft und auf welchen Veranstaltungen er zu finden ist. Wie er auf die Idee gekommen ist, dieses Buch zu schreiben, konnte ich aber nicht finden und auch nicht, wie er sich an diesem Buch abgekämpft hat. Aufgefallen ist mir auch, dass mehrfach Zeiten gekennzeichnet waren mit (sinngemäß) "Privattermin in Kaulsdorf". Vielleicht hat er dort seine Oma besucht und sie haben zusammen Kamillentee getrunken. Möglich aber auch, dass er irgendetwas anderes gemacht hat. Welchen Sinn sollte es machen, dies genauer wissen zu wollen? Für Heller, wenn ich das richtig verstanden habe, ist die vollständige gegenseitige Offenheit, die er im übrigen deutlich abgrenzt von der totalen Kontrolle eines Orwellschen 1984, eine denkbare Voraussetzung für eine transparente, sich selbst steuernde Gesellschaft. Ich zeige Dir meins - aber zeige mir dann auch Deins. Das aber wiederum ist nur dann möglich, wenn Post-Privacy als Kampfbegriff verstanden wird. Ich zeige Dir meins – aber nicht, damit Du es ausbeuten kannst, sondern nur, damit Du sicher sein kannst, dass ich Dir nicht schade. Wir betreten also hier die Ebene von Gesellschaftsmodellen und deren Voraussetzungen. Ein weites Feld.
Peer-Production. Meines Erachtens ist in Hellers Buch die ökonomische Seite – also die Zusammenhänge von Privatsphäre, Privateigentum und Privatwirtschaft und globaler kapitalistischer Zerstörungs- und Vernichtungsökonomie - nicht gut genug untersucht. Die digitale Organisation war von Anfang an ein Instrument der Optimierung von unternehmerischen Profiten – es sind eben nicht nur die Lochkarten für die Volkszählung, sondern auch die Magnetstreifen der Geld- und Spekulationsgeschäfte. Es ist nicht nur die digitale Verabredung zur Party sondern auch die optimale Disposition von Flugbuchungen und sonstigen Verkehren und öffentlichen und privaten Verkehrsgesellschaften. Es ist nicht nur die digitale Schnäppchenjagd, sondern eben auch die effektive Lager- und Transportlogistik der Food-Companies und aller anderen Unternehmen. Meine Hypothesen dazu sind: Wer als Unternehmer seine Daten digital organisieren kann, schafft sich einen Wettbewerbsvorteil, weil er damit einen Zuwachs von Geschwindigkeit, Effizienz, Disponibilität und Variabilität erreichen kann. Je größer der Anteil der Digitalisierung an der Gesamtproduktion, desto großer die Profitrate. Mit der Digitalisierung verschieben sich grundlegend die Grenzen zwischen fixem und flexiblem Kapital, eine wesentliche Voraussetzung, um immer neue Tatbestände menschlicher Existenz einzuhegen und einer kapitalistischen Verwertungskette zuzuführen. Ist das Ende der Privatheit – so würde ich Christian Heller fragen wollen - möglicherweise auch deshalb gekommen, weil Privatheit inzwischen eine wesentliche Verwertungsschranke für kapitalistische Verwertungsinteressen ist, die es zu überwinden gilt? Ich bin mir nicht sicher, weil nichts in meiner privaten Umgebung nicht zugleich auch Bestandteil der kapitalistischen Warenwelt ist. Auf der anderen Seite ist gerade das Wissen um wahrscheinliche, errechnete und plausible zukünftige Interessen und Kaufentscheidungen eben genau das Stück, das die miteinander ringenden Konzerne in ihren immer makaberen Wetten auf die Zukunft noch gewinnbringend verwerten können. Ich würde mir wünschen, dass Heller diese Frage nach der ökonomischen Dimension von Post-Privatheit in naher Zukunft noch genauer untersuchen würde, zumal gleichzeitig andererseits genauso webbasiert Produktions-, Lebens- und Sozialformen am Entstehen sind, die auf Leihen, Schenken, Teilen, Erhalten, Vervielfältigen und Bewahren beruhen und nicht auf Rauben, Plündern, Ausbeuten, Verwüsten, Zerstören und Verbrauchen.
Das aber sind Fragestellungen, die weit über das Buch und seine unmittelbare Intention hinausgehen.
[Formales] Ein eigenes Literaturverzeichnis hätte dem Buch gut getan. So muss man sich aufwändig durch 12 Seiten Anmerkungen wühlen, um eine Literaturangabe zu finden. Auch ein Sachregister vermisse ich, um spannende Argumentationen anhand der Stichworte nochmal nachlesen zu können. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist bei 174 Seiten und diesem Inhalt gegenüber einem Preis von 12,95 € in Ordnung. Hinzu kommt ein Mehrwert durch die Webseite zu seinem Postprivacy-Buch (Besprechungen, Termine, Interviews, Fehler/Verbesserungen). Wünschenswert und auch konsequent wäre, da der Zweck der Publikation, den Autor und seine Thesen berühmt zu machen, inzwischen erreicht sein sollte,das vollständige Buch kostenfrei im Internet als ebook zur allgemeinen Verwendung bereit zu stellen.
[Fazit] Wir haben hier ein kurzweiliges, anregendes, gerade auch für nicht-Internet-Experten gut verständliches Buch (nicht nur) über Post-Privacy, welches eine erste Vorstellung davon gibt, welches die mit dem Web einhergehenden gegenwärtigen fundamentalen Veränderungen sind. Es ist das Erstlingsbuch eines talentierten, ambitionierten Autors, der sich als konsequent analysierender, weitblickender, interdisziplinär und epochenübergreifend denkender Internet-Wissenschaftler empfiehlt, der an richtigen und bedeutsamen Fragestellungen arbeitet. Ein Buch, an dem in Zukunft niemand ernsthaft vorbeikommen wird, der sich mit den durch das Internet verursachten gesellschaftlichen Veränderungen befassen will. Ein Buch, das auch deshalb gut ist, weil es eine Debatte befeuert und mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt.
Berlin, 06.06.2012
Stefan Schneider
[Weblinks]
www.plomlompom.de/PostPrivacyBuch/
de.wikipedia.org/wiki/Post-Privacy
[PS] Meine intuitive Haltung zum Internet war schon Mitte der 90er Jahre eine ähnliche wie die, die Christian Heller vertritt. Das, was ich zu sagen habe, was ich schreibe, das können auch gleich alle haben. Weil es besser ist, als dass irgendwelche Dinge, die auch für andere von Interesse sein könnten, in der Schublade schmoren. Vorsichtig erweiterte ich diese Haltung auch auf eher private Kontexte, etwa in Bezug auf meine weiteren Hobbys und Interessengebiete. Das Buch von Christian Heller, aber mehr noch seine eigene Praxis auf seiner Homepage plomlompom.de befeuert diese Haltung im Grunde nur noch und radikalisiert sie. Ja, ich bin Netzbewohner, das Internet ist wichtiger Lebensbereich von mir, Ausdruck meiner digitalen Identität. Ich bin eher mehr als weniger bereit, Dinge von mir im Internet preiszugeben. Zugleich steigt aber auch meine Bereitschaft, Konflikte und Kämpfe im Internet auszutragen, insbesondere dann, wenn meine Selbstbestimmung beeinträchtigt wird. Und im Zweifelsfall ist das Internet auch eine gute Verteidigungslinie, nicht nur, weil ich hier Bündnispartner finden und streitbare Operationen und kämpferische Kampagnen starten kann, sondern auch, weil ich zumindest phasenweise auch ohne dieses Netz leben kann. Also lasse ich diesen Rechner, dieses Mobilfunktelefon einfach liegen und gehe Wege, die außerhalb meiner üblichen digitalen Signatur liegen. Vielleicht einfach in den Park zum Spazieren, eine*n Nachbar*in besuchen, einen Plan ausdenken oder über den Sinn des Lebens meditieren.
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