Seit einigen Jahren haben wir in der politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion eine Debatte, in denen die Begriffe Empire, immaterielle Arbeit, Multitude und Commonwealth eine große Bedeutung haben. Im folgenden möchte ich auf den Begriff der Multitude genauer eingehen. Woher kommt dieser Begriff, was bedeutet er und was können wir damit machen? Dieser Frage möchte ich mich in einigen Bildern annähern.
1. Bild: Das Proletariat bestimmt die Entwicklung – Operaismus!
Ähnlich wie in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern gibt es auch in Italien Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre eine starke linke und vielschichtige politische Bewegung. In dieser Zeit entsteht eine politische Denkrichtung, die Operaismus genannt wird. Man kann es schon am Namen hören, im Zentrum steht das, was getan wird.
In den meisten marxistischen Theorien, die in dieser Zeit diskutiert werden, geht es um die verschiedenen Entwicklungsstufen des Kapitalismus und um die Frage, wie das Proletariat darauf reagieren kann oder muss. Die Operaisten kehren diese Sichtweise um und behaupten, vereinfacht gesagt, genau das Gegenteil. Es sind die Arbeiter, das Proletariat, die Arbeiterklasse, die bestimmt, wie sich die kapitalistische Gesellschaft entwickelt. Es ist die Macht der Arbeiter, die höhere Löhne, den Umfang von Sozialversicherungen oder die soziale Infrastruktur der Gesellschaft bestimmt. Das Kapital reagiert darauf, indem es die Produktion weiter rationalisiert, die Produktion an andere Standorte verlagert oder, ganz allgemein, indem es versucht, sich vom variablen Kapital, nämlich der Arbeitskraft der Menschen, weiter zu emanzipieren. Dennoch bleibt eine grundlegende Abhängigkeit des Kapitals von den Menschen, die es erzeugen, immer bestehen.
Diese Idee möchte ich festhalten, denn sie ist für den Begriff der Multitude von entscheidender Bedeutung. Es sind Menschen, die durch ihr Handeln, Denken, Fühlen, Wollen die Verfassung der Gesellschaft Tag für Tag reproduzieren – und die es in der Hand haben, diese auch ändern zu können. Ähnliche Ideen kennen wir aus dem Verbraucherschutz. Es ist das Verhalten der Verbraucher, das darüber entscheidet, was und vor allem wie produziert wird.
Bild 2: Alles ist immanent und nichts transzendent – Baruch Spinoza
Einer der Vordenker des Operaismus, der Italiener Toni Negri wird 1979 mit dem Vorwurf, Vordenker der Italienischen Terroristen zu sein, verhaftet und verbringt einige Jahre im Gefängnis. Im ersten Jahr seiner Haft beschäftigt er sich mit dem philosophischen Konzept von Baruch Spinoza (1632 – 1677). Spinoza entstammt einer jüdischen Familie, die aus Portugal nach Amsterdam eingewandert ist. Wie jeder Jude beschäftigt sich auch Spinoza mit dem Talmud, und er wird im Alter von 23 Jahren aus der jüdischen Gemeinde exkommunizert. Der Grund wird gewesen sein, dass er daran festhält, dass der Talmud von Menschen geschrieben sein muss, wegen der vielen Fehler, die darin enthalten sind.
Aber weiterhin bewegt sich sein philosophische Denken um die Idee der einen Substanz (in se est) , die nur aus sich selbst begriffen werden könne (per se concipitur) bzw. erklärbar sei. Damit nimmt Spinoza – obwohl sein Denken immer wieder um die Idee von Gott kreist – eine prä-materialistische Position ein. Aus dieser einen Substanz heraus kann letztlich das Sein des Menschen in seinen unendlichen Möglichkeiten begriffen werden.
Toni Negri interpretiert seine Schriften in einer radikalen Weise und versteht sie als Alternative zu transzendentalen Entwürfen, die mit Begriffen wie Gott, Souveränität, Herrschaft, Volk usw. eine Realität schaffen bzw. postulieren, zu der Menschen sich verhalten müssen. Eben weil die Menge, die Multitude unstrukturiert, unscharf, unklar, ja potentiell gefährlich ist, muss sie in ein Volk, eine Bevölkerung verwandelt werden, die sich einer Souveränität unterwirft mit dem Ziel, das diese Souveränität dafür sorgt, dass es den Menschen irgendwann vielleicht besser geht. So die Auffassung der Philosophen, die dem Konzept der Multitude kristisch gegenüber stehen. Nein, sagt Negri, bei Spinoza finden wir ein Konzept, bei dem alles dies durch das Handeln der Menge, durch die Macht der Multitude Wirklichkeit werden kann.
Spinoza nimmt in der Philosophiegeschichte eine eigenständige Position ein. Es gibt kein Schule, auf die er sich bezieht, und er hat auch keine eigenen Schule begründet. Aber neben der Idee der Operaisten, dass die Menschen den Gang der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bestimmen, finden wir in Spinoza den Kristallationspunkt einer philosophischen Denkentradition, die im Kern materialistisch ist und die nicht von vorne herein versucht, Kräfte zu kanalisieren, sondern im Gegenteil versucht, die Vielfalt des Seins zu begreifen, ihre Kräfte zu untersuchen, ihre Möglichkeiten zu untersuchen. Wenn das Sein so ist, wie Spinoza es zu beschreiben versucht, heißt das bezogen auf Gesellschaft, dass die Frage nach ihrer Bestimmtheit grundsätzlich offen, grundsätzlich zu verhandeln ist.
Halten wir fest: Es ist kein Zufall, dass Toni Negri, der Theoretiker der Arbeitermacht, Freude findet an diesem Konzept von Baruch Spinoza, das erstmal von keinen Voraussetzungen ausgeht. Die Mulitude, die Menge, kann grundsätzlich erstmal alles. Aber – warum wird das jetzt wichtig, warum sollten wir uns damit beschäftigen? Das hat etwas mit der grundlegenden Strukturveränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zu tun. Schauen wir uns das genauer an.
Bild 3: Vom Fordismus zum digitalen Kapitalismus – Arbeit wird immatriell
Das Urbild der von Karl Marx beschriebenen kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist die Fabrik, in der am Fließband produziert wird. Henry Ford war der erste, der das im Bereich des Automobilbaus einführte, und nicht umsonst wird diese Phase als Fordismus beschrieben. Der Figur des Kapitalisten, der die Fabrik in dieser Form organisiert steht die Figur des "doppelt freien" Lohnarbeiters gegenüber. Doppelt frei, weil frei von Grund und Boden und damit von der Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiben und frei darin, die Arbeitskraft zu verkaufen. Die aus den Lohnarbeitern herausgepreßte Mehrarbeit bildet den Grundstock für den Profit, für die kapitalistische Akkumulation.
Der zu dieser Zeit passende Kampfbegriff zur Beschreibung der Situation der fordistischen Lohnarbeiter und den Perspektiven ihrer Organisation ist die des Proletariats bzw. der Arbeitserklasse. Diese strukturiert und organisiert sich in Gewerkschaften, Arbeiterparteien, staatlichen Betrieben und in der – historisch ja auch verwirklichten – Diktatur des Proletariats. Perverse Formen der Arbeitermacht in Form des Stalinismus möchte ich hier nicht verschweigen.
Es ist jetzt keine Zeit, den Fortgang der Geschichte in allen Details nachzuerzählen, deshalb springe ich sofort in die heutige Situation. Das Bild der aktuellen Produktionsverhältnisse ist das eines gut gebildeten Kreativarbeiters, der irgendwo in einem Café in einer der Metropolen der Welt an einem vernetzten Computer sitzt und an einem Projekt arbeitet. Die Grundstruktur der Eigentums- und Produktionsverhältnisse ist immer noch kapitalistisch, aber dieser Kapitalismus agiert global, flexibel, supra-national, digital. Um diesen kreativen Lohnarbeiter herum finden wir aber auch neue Formen der Armut, Lohnarbeit, prekärer Arbeits- und Lebensformen, Subsistenzwirtschaft, Slums, gesellschaftliche Spaltungen. Hinzu kommt die fortwährende Zerstörung der Lebensgrundlagen, die Vernichtung von Ressourcen und der nicht erneuerbaren Rohstoffe.
Bild 4: Immaterielle Arbeit
Von immaterieller Arbeit wird keiner satt, oder doch? Wie kann das die dominierende Produktionsform sein? Selbstverständlich sind die vielfältigen anderen Formen der Lohnarbeit nicht verschwunden, und auch die konventionelle Fabrikarbeit, die Landwirtschaft und weitere Formen der Arbeit existieren nach wie vor oder strukturieren sich neu. Dennoch ist die immaterielle Arbeit die dominierende, die, die andere Formen der Arbeit strukturieren und organisieren kann und wird. Die Kampagne einer deutschen Zeitung macht aber deutlich, was damit gemeint ist: Wir googlen die Öffnungszeiten des Bäckers gegenüber! Aber der entscheidende Unterschied zwischen der Fabrik mit dem Fließband und dem Computer und dem weltweiten Internet ist, dass das Fließband ein progammierter Automat ist, der Computer aber ein programmierbarer. Der Computer vereint also alle denkbaren Maschinen in sich. Und er ist noch mehr, er ist Kommunikationsmittel – via email, web, chat, video-konferenz, ja, neueste software erlaubt sogar das gemeinsame Arbeiten an einer Sache über alle Entfernungen hinweg.
Gleichzeitig ist dieses power-Instrument aber in den Händen der Arbeitenden, und in einer weiteren Verallgemeinerung kann man sagen, jeder Mensch kann dieses Instrument zu seinem eigenen machen. Aber damit verändert sich die Struktur der Arbeit selber auch: Es ist nicht mehr die monotone Bewegung, die wir von Chaplins Modernen Zeiten her kennen. Mit der Arbeit am Computer schaffen wir soziale Beziehungen, erfinden und steuern wir Kultur, schaffen wir Nachbarschaft, organisieren wir unseren familiären und freundschaftlichen Zusammenhalt, bilden wir uns und machen Politik, leisten wir Beziehungs- und Gefühlsarbeit.
Zwar ist auch der Computer, das Netz, die Hard- und Software weitgehend in den Händen großer kapitalistischer Konzerne, aber allen Ortes gibt es Tendenzen, den Computer, das Netz, die Software und weitere Tools zu demokratisieren, öffentlich frei zugänglich zu machen. Open Source Codes, Free and Open Software, Open Network, Publik Wlan sind hier einige der Stichworte. Und niemand muss innerhalb eines Lohnarbeitsverhältnis stehen, um diese Struktur nutzen zu können. Jeder und jede kann sie nutzen. Damit wird die immaterielle Arbeit auch Motor eines neuen Schubes an menschlicher Individualität – wir können jeden einzelnen Menschen nur noch als einzigartig, als Singularität angemessen beschreiben und verstehen. Zur immateriellen Arbeit gehört also die Multitude der Singularitäten.
Bild 5: Politische Konzepte in der Krise
In den Zeiten des Ost-West-Gegensatzes war – trotz aller Kritik – eine kommunistische Utopie greifbar – anhand der Staaten des real existierenden Sozialismus und der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen, die sich darauf immer auch bezogen haben. Das Ende des real existierenden Sozialismus wurde ausgelöst durch einen Aufstand der Bürger in der Tschechoslowakei, Polen, in Ungarn, in der DDR, aber auch durch demokratische Ideen von Bürgermacht wie Glasnost und Perestroika. Nach dem Ende der real-sozialistischen Hemisphäre (von den Ausnahmen Kuba und Nord-Korea sehe ich mal ab) kam es zusammen mit der Verschiebung der Arbeit von der Lohnarbeit des Proletariats hin zu der dominierenden Form der immateriellen Arbeit auch zu einer tiefen Krise linker, sozialistischer und kommunistischer Ideen. Es schien, als wäre sie plötzlich verschwunden, die Arbeitermacht, die Arbeiterklasse, das Proletariat. Und selbst wenn es noch hier oder da den einen oder anderen Arbeitskampf oder Streik gegeben hat, oder die eine oder andere linke Regierung – wirkungsvoll war das alles nicht. Statt dessen haben wir uns beschäftigt mit Kriegen, die wir nicht haben verhindern können, oder wir beschäftigen uns mit scheiternden Finanzgeschäften des Kapitals oder mit zahlungsunfähigen Staaten.
Bild 6: Die Multitude – Chance oder Fluch?
In genialer Weise kombinieren nun Toni Negri, Michael Hardt, Paolo Virno und viele andere die neue Struktur der Arbeit als immaterielle Arbeit am vernetzten Computer und die (alte) Idee der Multitude zu einem neuen Konzept. Diese neue gegenwärtige Multitude der einen Welt, in der wir leben (– über etwas anderes als die eine Welt können wir im globalen Zeitalter nicht mehr ernsthaft nachdenken –) hätte die Möglichkeit, alles das, was getan werden muss, selbst zu tun. Es braucht keine Konzerne mehr, keine Götter, keine Ideologie, keine Staaten, keine Herren, keine Knechte, keine Ausbeuter, keine Lohnarbeiter, keine Staatssicherheit und kein Militär mehr.
Statt dessen hätten die Singularitäten der Multitude – also die Menschen auf dieser Welt – die Chance und Möglichkeit, sich in verschiedenen Ebenen und Dimensionen miteinander zu vernetzten und alles das zu regeln, was im Zusammenleben von Menschen geregelt werden muss. Die Arbeitsteilung, die Energieversorgung, der Umgang mit uns selbst und unseren Kindern, die Versorgung der Bedürftigen, die Achtung der Kulturen und Traditionen, die Vielfalt der Sprachen und Lebensformen, der Identitäten. Aber es gäbe kein oben und kein unten mehr, und es gäbe auch keine Gleichmacherei – weil die Eigenheit der Singularitäten und Identitäten gewahrt bliebe. An diesem Konzept der Multitude, die in ihrer Vielheit als Subjekt sich selbst organisiert gibt es viele Fragen und eine unendliche Zahl von Problemen, die zu besprechen und zu lösen sind. Aber die Idee einer Autonomie der Multitude der Singulariäten jenseits von Ausbeutung und Zerstörung der Welt hat zugleich – als Begriff und Konzept – eine visionäre Kraft, die weit in die Zukunft reicht und Menschen begeistern kann. Aus diesen Gründen wollte ich Ihnen dieses Konzept kurz vorstellen.